Zuspitzung der Ereignisse
Leberecht Gottlieb (73)
73. Kapitel, in welchem wir erfahren, wie schnell sich das Glück wenden kann. Und ebenfalls erzählt bekommen, dass hin und wieder Dinge geschehen, die uns die Rückkehr des Glücks vorbereiten - wenn wir es wollen ...
Es war schlimm. Irgendein Wüstentier mag es wohl gewesen sein, das sich einen Bau samt unterirdischen Gängen in den Wüstensand gegraben und auf diese Weise dafür gesorgt hatte, dass der Jeep Wrangler Rubikon elend eingebrochen war. Auch der Gebrauch von Allrad- und Differenzialsperre ließen den Wagen sich aus seiner Klemme nicht befreien. Im Gegenteil - der teure Van wühlte sich immer tiefer in den feinen Treibsand. Die beiden Theologiestudentinnen vertrauten auf naive Weise technisch nicht affiner Frauen dem IT-Freak und dem Archeologen, die aber auch bald am Ende ihres Lateins waren. Zu allem Unglück stellte sich heraus, dass "der Scheiß-Satellit da oben" keine ausreichende Signalstärke zur Verfügung stellte und man sozusagen „im Arsch war”, wie der Chauffeur es in seiner unverwechselbaren Art formulierte. Das Sternbild der Fische leuchtete am Himmel und nur der ernste Planet Saturn schaute bleich zwischen ihnen hervor. Irene besaß ein sehr starkes Fernglas, mit dem konnte man sogar den Ring sehen und auch wie er sich als Hutkrempe artig um den Planetenball herumzog. Seit die Sonne verschwunden, war der Sand enorm abgekühlt und es wurde ungemütlich.
Leberecht fühlte, dass seine Stunde gekommen war, er erhob sich vom Sitz und forderte seinen Stab, die heilige Lanze. Es stellte sich aber heraus, dass der IT-Freak dieselbe nicht mit verpackt, sondern am letzten Rastplatz der Gruppe einfach liegen gelassen hatte. Leberecht verlor die Contenance und schrie den Mann erbarmungslos unter Gebrauch beleidigender Worte an. Das war neu. Das machte keinen guten Eindruck. Und die Sympathie, die die beiden Frauen dem alten abgetanen Pfarrer aus Sachsen bisher hatten zukommen lassen wollen, war im Nu auf ein absolutes Minimum herabgesunken. „Also bitte schön, Herr … Leberecht!” formulierte es Mechthild-Erdmuthe (so nämlich ließ die zweite Studentin sich beim Namen rufen) "Sie sind bisher unser Gast gewesen, nun mäßigen Sie sich doch aber auch gefälligst!” Deutlicher war es nicht zu sagen - Leberecht hatte sein Sympathiekonto überzogen. Er schwieg beschämt und versuchte um Entschuldigung zu bitten. Jedoch beachtete man ihn von jetzt an gar nicht weiter, sondern beratschlagte, was zu tun sei. Die Achse freischaufeln? Ja - aber womit? Schieben? Das tonnenschwere Fahrzeug war nicht zu bewegen. Keinen Millimeter.
Leberecht nahm allen Mut zusammen und schlug vor, zurückzuwandern und den Stab zu holen. Mit diesem Stab allein könne man dem Übel wirkungsvoll begegnen. Dann erklärte er seinen Reisegenossen die Wirkungsweise des Stabes, bemerkte jedoch sehr bald, wie man ihm anfangs noch höflich zuzuhören versuchte, dann aber jenes typische Verglasen der Augen eintrat, welches darauf hin deutet, dass die Zuhörerschaft abgeschaltet hat. Und - das war stark - im Rückspiegel des gestrandeten Jeeps bemerkte Leberecht die unzweideutige Geste des Archeologen, der mit der rechten Hand vor seiner Stirn eine rasch hin und her schwenkende Bewegungsfolge ablaufen ließ, die in Sprache übersetzt am besten mit „total PlemmPlemm” wiedergegeben werden muss.
„Keiner hat die Absicht, die zehn Kilometer zurückzulaufen, um ihren dämlichen Stab zu holen," ließ sich jetzt der IT-Mann vernehmen. Es war zu merken, dass Leberecht, der eben noch lieber Gast gewesen, zur persona non grata herabgesunken war. Leberecht zog seine Konsequenzen, und ging den tief eingewühlten Spuren des Jeeps folgend allein zurück in die Richtung, aus der man gekommen war. Man ließ ihn gehen, hielt ihn nicht davon ab, sich als Fünfundachtzigjähriger allein in die Wüste aufzumachen, um „einen ollen dünnen Knüppel” zu suchen. So kann es gehen. Leberecht kalkulierte, dass er in etwa 5 Stunden würde zurück sein können und - ging forsch weiter. Die Sterne leuchteten seinem Pfad. Es ist der Pfad des Gerechten und zugleich Sünders. Der Weg des Schicksals und der Wiedergutmachung fremder Nachlässigkeit. Es war 22.30 Uhr. Etwa am Morgen bei Sonnenaufgang könnte er wohl wieder zurück sein, dachte er und setzte einen Fuß vor den anderen. Was die jungen Leute anging, die würden den Wagen so schnell allein sowieso nicht flott bekommen. Seinen Koffer würde er deshalb beim Wagen lassen und nicht mitnehmen. Genau das aber - war wohl ein schwerwiegender Fehler.
Wir muten dem getreuen Leser nun einen großen Sprung zu, den er zumindest gedanklich wagen muss, um die Komplexität der hier verhandelten Geschichte von Leberecht Gottlieb recht verstehen zu können. Während die jungen Leute versuchen, eine Verbindung zum "Scheiß-Satelliten" herzustellen, Leberecht Gottlieb einsam durch die Wüste pilgert und den Spuren des Jeeps folgt, während der Saturn den beschwerlichen Weg des alten Mannes begleitet und die Sterne der Milchstraße das nötige Licht geben, bereitet im Kloster der Rambertimönche ein Abt namens Sergius Prostabilian in der ururalten Bibliothek des Refektoriums ein Bündel Literaturen vor, denn er "weiß", dass bald einer kommen wird, um dieselben zu studieren. Damit wir in den späteren Kapiteln wissen, um welche Materie es dabei geht und Leberecht dann, wenn er selber lesen wird, nicht immer über die Schulter schauen müssen (was der Pfarrer i.R. gar nicht mag!), geben wir hier einen dieser wichtigsten Texte bereits jetzt preis und wünschen dem Leser viel Mut, wenn wir bei den Rambertimönchen in Jerusalem uns nunmehr einer bestürzenden Lektüren hingeben müssen. Mit anderen Worten gesagt - der Leser muss jetzt sehr stark sein.
"Nun war das Titularerzarchidiakonat von Turmalinapolis doch an ihn gefallen. Kratokrist hatte sich vorgenommen, aus dieser Sache etwas wirklich ganz Großes zu machen. Zuerst ging es darum, die noch unerforschten Bereiche des globalen Nichts dem Stuhl des ihm seit heute unterworfenen Diakonats anzugliedern. Das zu bewerkstelligen war nicht sonderlich schwer und bedurfte eigentlich nur des halblauten Ausrufs einiger logotechnischer Schöpfungsformeln, etwa „tu es res rerum!“ und so weiter.
Ehe der Erzdiakon Kratokrist noch lang und breit darüber nachgedacht hatte, war es bereits schon geschehen - sofort gehörten Quadrillionen Megakubikkilometer zum Diakonat.
Wer nun ist Kratokrist? Kratokrist selbst ist ein Semi-Cyborg. Genauer gesagt - eine Maschinenchimäre mit Resten eiweisbasierter Hirnsubstanz hominiden Ursprungs. Die Eiweißmasse bestand sogar aus hochwertigem slow-gebreedetem Neokortex in der Größenordnung von etwa tausend 9-Volt Batterien. Als graues Geschwabbel lag das Zeug in einer durchsichtigen Plasticbox und war via @lpha-One-Sensoren permanent mit allerlei Maschinenhirnen prinzipiell unkontrollierbarer Bootnetze im Darknet verbunden. Die dazu nötige kabellose Konnektivität stand täglich für etwa drei bis vier Stunden zur Verfügung - völlig ausreichend. Der Erzarchidiakon Kratokrist vermochte mit seinen Gedanken pfeilschnell - also schneller als das Licht eigentlich erlaubt - durch die Abgründe der existentiellen Nichtbezirke aller möglichen und unmöglichen kosmischen Abgründe zu reisen. Zeit spielte seit einiger Zeit keine Rolle mehr. Sie war abgeschafft worden - und mit ihr zusammen natürlich auch der sogenannte Tod. Während die meisten von uns das alles nur staunend zur Kenntnis nehmen können und das Wunder noch gar nicht so recht glauben wollen, beklagt ein anderer genau diesen Umstand der vor Jahren eingetretenen Zeit- und Todlosigkeit als beruflich persönliche Tragödie.
Der Klagende heißt Sven, seine Freunde nennen ihn Svenny - und Svenny schmettert eben einen alten Sandständer auf den Container, dass es nur so kracht. Schon fast das gesamte Mobiliar von „RUHE SANFT“ war Stück für Stück auf dem LkW gelandet, den man für diesen Tag gemietet hatte. Bilderrahmen mit LED Umrandung, Plastikpalmen und Kunstblumentöpfe. Ein paar Überurnenmuster und die Särge sowieso. „Möglich, dass die sich heute Nacht jemand für sein Mistbeet vom Conti runterzieht. Mir egal“, denkt Svenny und feuert noch einen Ballen mit Sargabdeckungen samt grünen Grabaushubabdeckplanen hinterher. Hebehölzer und Flambeus. Auch das Rednerpult. Das muss er vorher mit dem Bello zerkleinern - die Tür der Feierhalle ist zu schmal für diesen Trümmer, der noch aus den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen mag. Zertrümmern macht Laune.
Es gibt keine Maikäfer mehr? Ha! Es gab keine Beerdigungen mehr. Weil der Tod, seit die Zeit abgeschafft worden war, praktisch ebenfalls nicht mehr vorkam. Was war denn Zeit auch anderes als der sonderbare Zustand, der die Furcht zu sterben mit dem Glück, noch da zu sein, vereint. Beides drängt gemeinsam und voneinander ununterscheidbar in das menschliche Bewusstsein ein - und fordert dort einen Ehrenplatz. Und das ist das Erlebnis der Zeit und ihres Verlaufs. Nein - die Zeit? Das w a r einmal. Jetzt gab es nur noch das Wissen, ewig da sein zu müssen. Für die Bestatter war damit alles aus - eine ehrwürdige Branche starb damals innerhalb von Tagen und Wochen den Heldentod. Galt der Beruf des Bestatters früher als krisensicher, stand er jetzt bei den zu entbehrenden Tätigkeiten mit an erster Stelle, dicht gefolgt von den Vertreterinnen der sogenannten Genderwirtschaft. Ja nun - man trat als Bestatter manchmal auf historischen Mittelaltermärkten noch in Erscheinung und zeigte im Verein mit Kunstschmieden und Spinnradkönnerinnen, wie früher - als es den Tod noch gab - Leichen abgeholt, hergerichtet und dann nach allen Regeln der Kunst entweder in der Flamme verbrannt oder zur kühlen Erde bestattet worden waren. Bald aber verstand auch keiner mehr die aufgebauschten historischen Bestattungsspektakel. Probleme gelten ja erst dann als wirklich gelöst, wenn keiner sie mehr versteht. Und der Tod - hallo - was denn bitte sollte das noch mal sein?
Deshalb hatte Sven sich darauf verlegt, etwas anderes zu machen. Er wollte runter vom Mittelaltermarkt und raus aus der Welt der Historiothanato-Clowns. Echte Sinnangebote wollte er wieder machen - in der völlig grenzenlos gewordenen Welt, in der alles möglich schien, weil niemand mehr von der Endlichkeit bedroht wurde. In der Welt 1.0 - also früher - gab es noch Sinn. Nämlich bei qualitativ hochwertigem Lebensstandard zugleich möglichst lange gesund und mit Spaß zu überleben. Nun aber war tatsächlich eine enorme Langeweile aufgekommen. Es galt die Zeit, welche mit dem eingetretenen Verschwinden des Todes nicht mehr vorhanden war, mit irgendetwas zu füllen. Aber wie? Der Tag hat 24 Stunden - und es werden immer mehr! Zusätzlich durfte dieses Irgendetwas von einem selbst nicht gleich so leicht als Fake durchschaubar sein. Svenny hatte nachgedacht. Lange nachgedacht. In einer Welt, in der alles sinnlos geworden war, weil keine Gefahr mehr bestand für Leib und Leben, galt es neuen Sinn los zumachen. Mehr denn je galt es heute, das wirkliche Sinnlos zu ziehen. Das Sinn-Los. Und das war überhaupt die Idee!
So gründete Svenny ein LosbudenStartUp namens „Sinn-Los“. Es sollte eine Art Kneipe werden, besser gesagt ein Pub. Zu Essen sollte es geben, zu trinken auch. Regale mit guten Büchern sollten vorhanden sein, Sessel und Tischchen - Tranquilizer und Emphasizer würde man konsumieren können - und den Tod sollte es wieder geben, wenn auch in gänzlich anderer Form. Aber für alle einigermaßen erschwinglich.
Svennys Plan würde dadurch Realität werden können, als er mit Hilfe der alten Religionen die Menschen dazu auffordern wollte, ihren unsterblichen Körper zu entsagen und sich in die Bereiche des X-Netzes löschbar hochladen zu lassen. Dort würde man dann auf die alte Tour wieder gut und gerne leben dürfen. Weil - eben auch wieder sterben können. Freilich mit der zusätzlichen Hoffnung auf ein zeitlich irgendwann einmal stattfindendes Reloading - Auferstehung genannt. Aber leben würde man nicht mit der langweiligen gegenwärtig alternativlos bestehenden Ewigkeitsgewissheit, sondern nur mit der vagen und trügerisch erscheinenden Hoffnung auf irgendeine Ewigkeit! Das war der Kick! Ja, - es musste die Angst wieder geben, dass alles auch mal aus sein könnte - und zwar für immer. Dort in der Ecke würde sein Schreibtisch stehen, dort der Animatransformator und auf der anderen Seite der Auditor-Raum, in dem man probehalber mit den bereits hochgeladenen Wesen über deren neue rein geistige Existenz sprechen konnte. Egal, ob dieses Gespräch in der simulierten Welt stattfände, in der simulierten Hölle oder im simulierten Himmel (nebst einer Unterabteilung Purgatorio genannt). Svenny hatte alles genauestens geplant und aus dem patholgischen Museum, das vor Kurzem aufgelöst worden war, seinen Kratokrist abgezweigt. Als man nämlich die letzten Mumien und in Formaldehyd eingelegten Präparate aller europäischen Universitätskliniken in das einzige noch funktionierende Krematorium verbrachte, hatte Svennys Firma „Ruhe Sanft“ für die letzten Transportmeter den Zuschlag vom Grünflächenamt erhalten. Einige Wochen qualmten noch einmal die ehrwürdigen Schlote des Krematoriums auf dem Gertraudenfriedhof so richtig schwarz. Bis dann schließlich alles verfeuert war. Alles? Nein, - nicht alles. Aus dem Jahr 2049 war noch die Kiste mit dem Neokortexexperiment des Herrn Professor Oberüber vorhanden gewesen. In der Mittagspause tauschte Svenny genau diese Kiste aus. Er hatte aus Lehm und Ackererde des historischen Saalestadtfriedhofs eine Masse geformt, die hirnmäßig aussah. Diese Masse wanderte mit den anderen Gliedern ehemals menschlicher Fleischesexistenz in den Hochofen, - das wirkliche Hirn aus der Kiste dagegen karrte Svenny in seine Bestattungsbude, die seit zwanzig Jahre still und leer stand, - seitdem keiner mehr sterben konnte. Die nun aber zum Kompetenzzentrum der „Auferstehung zu den Toten“ umfunktioniert wurde.
Wie war es eigentlich dazu gekommen, dass der letzte Feind des Menschen, der bittere Tod, besiegt worden war? Nun, - es war so gewesen wie immer. Zwei sehr junge und begabte Wissenschaftler aus Tel Aviv hatten herausgefunden, dass man aus einer einfach herzustellenden Mischung von Brennesseljauche und Krillöl, wenn man beides im Vakuum hochfrequenten Ultraschallwellen im Megaherzbereich aussetzte, einen Sud zu filtern vermochte, der das ständige Abgeschnittenwerden der Telomere an den Enden der Eiweißketten bei der Doppelhelix verhinderte. Sie probierten es zuerst an sich selbst aus, dann an Ratten und Eintagsfliegen. Und dann - gab es bald kein Altern mehr - jene böse Botin des nahenden Ablebens, das tückische Alter, war abserviert worden. Die beiden begeisterten Garagenbastler gründeten in Estland ein virtuelle Firma und die Datei mit dem Rezept ward kurzerhand gegen Zahlung von wenigen Schekel in´s WWW gestellt. Im Nu explodierte die Weltbevölkerung der entwickelten Staaten Europas, wo man das Internet hatte und noch genügend Brennnesseln wuchsen, ins Unermessliche. Einige Russenfirmen machten in der Barentssee enorme Umsätze mit Krillprodukten. Und dann wurde das Ganze von einer Firma auf Island irgendwann noch zusätzlich synthetisch hergestellt und patentiert. Jeder einigermaßen begabte Freak konnte sich bald die begehrte Antiaging-Substanz in der Küche zusammenmixen. Die sogenannten Krill-Leaks machten das damals möglich. Zur Herstellung war nämlich nur noch Soda und Geduld erforderlich - wenn man den Ur-Teig hatte. Eine Art Teig entstand nämlich auf diese Weise, den man einmal im Leben erwarb - und dann im Prinzip über Jahrhunderte führen und durchfüttern konnte - wie etwa auch Jogurtpilze, Sauerteig bzw. Hefe.
Weil nun die Unsterblichkeit prinzipiell möglich geworden war, sahen sich die Leute einfach auch mehr vor. Man vermied intelligenterweise Situationen, die zu schnellem und bösem Ableben führen könnten. Das war klug - und zeigte bald seine Wirkung. Die Leute sahen alle prächtig aus. Etwa wie vierundzwanzigjährige Hollywoodschauspieler. Auch die alten Greise verjüngten sich zusehends. Schon nach ein paar Jahren hatte man sich an diesen Zustand gewöhnt. Es war nichts Besonderes mehr …
Lebensversicherer gingen pleite, auch die Bestatter und die Genderindustrie - warum Letztere ebenfalls ist bisher ein noch offenes Forschungsgebiet. Freilich - wenn man sich dumm anstellte, konnte man noch verhungern. Aber wenn man wenigstens ein bisschen was arbeitete, war diese Gefahr gebannt. So auch für Sven. Deshalb die Idee mit der „Sinn-Los-Bude“. Von irgendwas muss man ja leben. Und wenn es nur vom Sinn ist. Sven nahm einen Mikrokredit auf. Den gab die GLS-Bank dem jungen Mann. Und so begann die Wiedereinführung des Todes in die Welt der Menschen - durch Überführung des menschlichen Geistes in das Titularerzarchidiakonat von Turmalinapolis, wo Kratokrist das Szepter führte und noch führt und jede Datei löschbar ist. Löschbar! Das ist wichtig.
Kratokrist nun hatte sich eine fabelhafte Welt erdacht. Diese Welt war ein theoretisches Abbild aller bisher in der Weltgeschichte geschehenen Ereignisse. Er selbst war diese Welt - und zugleich war er der Herr seiner Welt. Er war Herr seiner selbst. Er war das lebendig tote Beispiel eines realexistierenden Panentheismus. Während Pantheismus bekanntlich die Existenz Gottes in allen Dingen lehrt, behauptet der Panentheismus viel zutreffender die Essenz aller Dinge in Gott. Zwischen beiden Theorien breitet sich eine beträchtliche Grauzone aus. In dieser Zone sind Essenz und Existenz im Zustand immerwährenden Ineinanderübergehens und ständiger Transmorphikation begriffen, sie verschmieren sozusagen, um einen Begriff aus der Quantenphysik zu nutzen. Oder anders gesagt: An den Membranen der Übergänge von Pan- in Entheismus entstehen und vergehen begrenzte Identifikationen von Memen mit sich selbst und gegen fremde Meme. Daraus bilden sich monadische Dateienklaster, von denen jeder einzelne etwa eine Person vorstellt. Ganz einfach also - nun aber zur Sache!
Nachdem die Kirche ab dem 34. Jahrhundert in die Katakomben hatte ausweichen müssen, vollzog sich da unten an ihrem corpus absconditus eine vollständige Erneuerung. Die Katakomben waren schon immer (das zu wissen muss hier vorausgesetzt werden können) letzte Aufenthaltsorte für Ungesetzliche - und damit auch für die Kirche, welche früher selber einmal über Gesetz und Gesetzlosigkeit entschieden hatte. Das aber war sehr lange her. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Die körperliche Existenzform der Dinge, Sachen und Systeme war ab der Ära der Katechiklasten erst verboten und dann gänzlich abgeschafft worden. Zur Erinnerung: Das Geschrei über die diskriminierende Endlichkeit des Lebens, die damit verbundenen Ängste und Schmerzen beim Abscheiden waren am Ende des alten Zeitalters so groß geworden, dass sich schließlich die Transhumaner mit ihren Ideen hatten durchsetzen können. In einem global geschickt eingefädelten Projekt zeigten sie, dass es prinzipiell möglich sei, die körperliche Existenz zugunsten einer virtuell rein datengestützten zu ersetzen. Sie ließen das alles in sehr schönen Worten von weiblich klingenden K.I.-Stimmen daherplappern und erfanden ästhetisch akzeptabe Narrative für den großen Austausch. Irgendwann war es dann soweit - am 24.Juni des Jahres 3348 wurde der gesamte Bestand des bis dato bekannten Universums durch hyperbolische Logotransversion aus den verschiedensten Zuständen der Materialität in die der sogenannten Supermnemozität überführt, was durch Quantenverschränkung und Interferenzkopplung sich gegenseitig widersprechender Aussagen unwiderruflich in Gang gesetzt wurde. Auch Sven, der der Todlosigkeit lange getrotzt hatte, wurde mitsamt seiner Sinn-Los-Bude ins Hypernetz hochgeladen und konnte dort so tun, als ob es den Tod tatsächlich noch gäbe. Das brachte er auch mit mehr oder weniger Erfolg gerade noch so zu Stande. Alle machten es so. Oder versuchten es zumindest tapfer. Jeder tat so, als ob er wirklich selber gerade und genau das wolle, was er im Augenblick eben trieb. In Folge dessen bildete sich eine völlig neue Ethik heraus. Fachleute gaben ihr einen Namen, der unaussprechlich war. Und der trat dann an die Stelle dessen, wo früher der Gottesname - das heilige Tetragramm -gestanden hatte.
Ja - soweit also dieser Bericht, den der Abt der Rambertianer dem zu erwartenden Gast vorbereitet und in den Lesesaal des Klosters getragen hat. Wann dieser Text geschrieben, und von wessen Hand er gefertigt gewesen ist, werden wir in einem der nächsten Kapitel erfahren.
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