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Gefangen in der Wüste
Leberecht Gottlieb (74)

74. Kapitel, in welchem wir Kunde davon erlangen, wie Leberecht Gottlieb unter die Räuber fällt …

Während die auf wertvollem Papyrus verzeichneten Überlegungen Kratochrists im Mondschein der Bibliothek  eines noch fernen Lesers harren und der Parkettboden der uralten Bücherkammer, in welcher sich das Warten der Schriftrollen vollzieht, von dem starken Sonnenlicht, das den gesamten Tag über auf die Fußbodenhölzer geschienen, erholt - sich entspannt und dabei knallt und knarrt, strebt Leberecht Gottlieb dem Ziel seiner nächtlichen Wanderung entgegen.

Wo will er hin? Er will seinen kostbaren Heroldsstab, den der nachlässige IT-Freak ihm unachtsam im Sande hat liegen lassen, wieder zurückgewinnen. Will ihn heimholen, innig an das Herz drücken und dann mit dem Stabe den gesamten Weg wieder zurück eilen. Dann, angekommen am Ort des unglücklich im Sand versackten Jeeps, will Leberecht den Stab als Kompassnadel nutzen, woher uns Hilfe kommen könnte. Unsere Hilfe kommt zwar immer vom Herrn, aber dieser wählte nicht selten ungewohnte Wege und Mittel, seine Lieblinge aus den Bredouillen des Schicksals zu erretten. Auch schon die Emmausjünger legten in einer Nacht den Weg zwischen ihrem Dorf, wo der Herr ihnen das Brot brach und sie ihn dadurch erkannten, zweimal zurück. Als Trauernde hin - und wieder zurück als Glückliche. So sollte es auch diesmal sein.

Aber es kam anders. Vorher wollte sich nämlich auch eine jener Geschichten, die der Herr in seinen Gleichnissen erzählte - hier im Gleichnis vom barmherzigen Samariter - ereignen. Leberecht hatte gerade seinen Stab entdeckt, aus dem Sande gelangt und tatsächlich an sein altes mit etwa 120 Schlägen pro Minute pochende Herz gedrückt, als Geschrei um ihn herum laut wurde. Von allen Seiten stürzten sich Gestalten auf ihn, schlugen ihn nieder und fesselten den armen alten Mann mit Stricken. Leberecht verlor das Bewusstsein, so dass hier eigentlich nicht mehr genau berichtet werden kann, was danach geschah. Leberecht wurde jedenfalls von irgendwem irgendwie irgendwohin transportiert, geschleppt, getragen oder geschleift. Er erwachte aus seiner Ohnmacht erst, als die Sonne offenbar bereits hoch am Himmel stand und blickte sich um.

Man lag hier in einem schwarzen Zelte, das allerdings unten einen halben Meter nach allen Seiten geöffnet war und oben eine Art Öffnung hatte, die einen ständigen Luftaustausch in dieser Wüstenbehausung ermöglichte. Es war, als ob man in einem Kamin läge. Die Luft war zwar warm - aber trotzdem in gewisser Weise erfrischend. Neben Leberecht - er war nicht gefesselt - stand ein Krug mit Wasser, aus dem er auf den Rat seines Wächters, der neben ihm hockte, nehmen sollte. Der Wächter gab diesen Rat mittels Gebärde und Geste des Trinkens an den Gefangenen. Leberecht trank wohl den gesamten Krug leer - das Wasser schmeckte etwas bitter - aber hatte auch eine krautige Note, die nicht unangenehm war.
Dann öffnete sich auf einen leisen Ruf des Wächters hin nach geraumer Zeit die Tür des runden Zeltes und in einer erbarmungslosen Lichtflut trat ein großer Mann mit üppiger Barttracht und total schwarzer Gewandung in die Behausung ein und setzte sich Leberecht gegenüber auf einen bunten Teppich.

Nach ungefähr fünf Minuten Schweigen, die Leberecht wie eine Ewigkeit vorkamen, begann der Schwarze zu sprechen. Der Wächter war inzwischen verschwunden und nur Leberecht und sein Inquisitor befanden sich im Raum. Von draußen drangen die knurrenden Laute von Kamelen und die Stimmen spielender Kinder in das Innere des Zeltes herein. Der Schwarze fragte in gebrochenem Englisch, das wir hier für den Leser gerne übersetzen:

„O Fremder, wir haben in deinen Taschen dieses hier gefunden.” Und er holte die dunkelblaue seidene Visitenkarte des Chinesen Ziang aus dem Bausch seines Gewandes hervor und hielt sie dicht vor Leberechts Gesicht. „Ebenso dieses hier” - und er reichte Leberecht das Büchlein vom Rubinroten Stein, das der Emeritus nicht in dem Köfferchen verwahrt gelassen hatte, sondern immer am Mann bei sich führte. Warum? Aus dem einfachen Grund, um im Zweifelsfalle den Gebrauch des Stabes noch einmal mit den Aufzeichnungen Dankreithers vergleichen zu können.

„Was ist das für eine Karte” fuhr der Schwarzbärtige fort „und was ist das für ein Buch. Und - wer bist du. Mehr aber noch - was sucht ein so alter Mensch wie du es bist - und noch dazu ein Ungläubiger - in der tödlichsten Wüste aller Wüsten?”
Leberecht berichtete nun von allem, was sich in den letzten beiden Wochen zugetragen hatte und bemerkte dabei, wie die Augen des Mannes, der ihm da zuhörte, nicht etwa verglasten, sondern wach und wacher wurden. Als Leberecht etwa zwei Minuten mit dem unbeholfenen Schulenglisch, das er damals in Schulpforte hatte erlernen müssen, nicht mehr zurecht kam, forderte der Bärtige ihn auf, in seiner Muttersprache zu reden, denn er würde diese Sprache verstehen. Dann zog er einen kleinen Vorhang beiseite und hinter dem Vorhang wurde die Originalausgabe von Fesenfeldt sichtbar mit den colorierten Titelkupfern aus dem Atelier Sascha Schneiders. Und ganz vorn standen die Bände „Satan und Iskariot”, „In den Schluchten des Balkans” und „Der Schut”. Da wurde Leberecht Gottlieb froh, als er die Bücher sah und lachte. Und der Schwarze lachte auch. Dann erklärte er dem alten Pfarrer aus Dresden, dass die Ururgroßmutter - Gott habe sie selig - diesen sonderbaren Dichter - so sagte der Schwarze - den leibhaftigen Karl May aus Deutschland 1899/1900 auf seiner Reise begleiten musste, als dieser sich endlich, endlich aufgemacht hatte, jene Länder tatsächlich zu besuchen, über welche er lange vorher so ausführlich geschrieben hatte.

Leberecht Gottlieb war perplex. „Aber” - fragte er - „warum habt ihr mich denn überfallen?” Der Schwarzbärtige hielt einen Moment inne und sagte dann, wobei er in den Duktus der Mayschen Erzahlweise verfiel und seinen Gefangenen auf einmal in der dritten Person Singularis anredete : „Ihr habt die Heilige Lanze in Euern Besitz bringen wollen. Und - es gibt böse Leute, die suchen auch die Bundeslade und den Gralsbecher … sie haben diese beiden Gegenstände fast schon gefunden. Gehört ihr zu jenen Verruchten? Dann wäre euer Leben verwirkt. Wir werden euch morgen einem Gottesurteil unterziehen.”

Damit erhob sich der Mann mit dem schwarzen Bart und verließ ohne weiteren Kommentar das Zelt. Dafür kam aber der Wächter zurück - und setzte sich mit grimmiger Mine nieder. Direkt gegenüber Leberecht Gottlieb, welcher erschrocken zurück wich. Was war hier los?

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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