Anzeige

das Ordal
Leberecht Gottlieb (75)

2Bilder

75. Kapitel, welches uns einem klassischen Gottesurteil beiwohnen lässt, dem sich Leberecht Gottlieb  unterziehen muss. Und wie unserem Helden der stille Vorwurf gemacht wird, der Heiligen Lanze nachzustellen, den Gral an sich bringen und die Bundeslade entweihen zu wollen  …

Es sollte also das klassische iudicium dei oder iudicium divinum  stattfinden. Ein Ordal  würde es geben. Warum? Um die Wahrheit darüber herauszufinden, ob der alte weiße Mann im dunkelblauen Seidenanzug Recht oder Unrecht spräche. Leberecht Gottlieb sah solchem Orakelwesen gelassen entgegen. Er war 85 Jahre alt und hatte mit seiner Biographie die zwölf mal sieben Jahre bereits um ein ganzes Jahr überholt. Nach vierundachtzig ist alles Gnade lautet ein alter astrologischer  Spruch. So war der Mann aus Sachsen, den das Schicksal hierher verschlagen hatte, sehr gespannt darauf, von welcher Art dieses Gottesurteil nun sein würde. Mögen diese Wüstenmenschen, dachte er, doch allemal ihre Messer schleifen und wetzen. Hier stand er, Leberecht Gottlieb - ehemaliger Pfarrherr des sächsischen Sprengels mit den Orten Prätzschwitz, Mumplitz und Plötnitz. Wie ein Baum. Wie ein Markstein inmitten der Überblickslosigkeit, oder wie man das so oder ähnlich sagt … Aber ein wenig bange war ihm doch.

Was, wenn es sehr weh tat - mit Schmerzen verbunden war. leberecht fürchtete den körperlichen Schmerz wie andere die Hölle. Und - die lange Reihe Karl May - Bücher dort hinter dem Vorgang machte ihm große Bedenken. Dann aber erinnerte sich Leberecht an Winnetou II, wo Old Shatterhand bei den Komantschen gefangen gewesen saß und nur durch eine tückische List freikam. Er zeichnete nämlich die Runde der Häuptlinge auf ein Papier, knüllte danach dieses Blatt zusammen und schob es in den Lauf des Henrystutzens. Ein erschrockenes Uff, Uff, Uff - und die Rothäute glaubten, ihre Seelen seien nun in unmittelbarer Gefahr hinaus in alle Winde gestreut zu werden, drückte der Westmann nur einmal ab und würde seine Kugel auf das Bild ihrer Konterfeie prallen lassen. So was Ähnliches müsste man … Aber nein doch. Leberecht war Christ und überließ sich ganz der Fügung des Himmels. Sang man nicht auf Seite 361 des Evangelischen Gesangbuchs: 

„Der Wolken Luft und Winden
gibt Wege Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann?”

Hatte nicht ein unvergleichlicher Mann namens Paul Gerhard aus Gräfenhainichen, der zwar keinen Eid auf irgendwelche Führer oder leichtfertig gefasste Beschlüsse törichter Landessynoden schwören musste, dem man als einfachem Luthraneraber jedoch zumutete, calvinistische Ketzereien anzuerkennen und ihm damit die Hölle derart heiß gemacht hatte, dass der stolze Mann den Dienst lieber quittierte, als sich von blinden Gehorsam fordernden Kirchenbeamten des Königs dumm machen zu lassen, alle diese wunderbaren Strophen für die Nachwelt erdichtet? Und wurden dieselben nicht auch heute noch überall auf dem Erdkreise in wackeren Kehlen trotzig angestimmt - gerade dann, wenn die Not drückte und der Kummer erbarmungslos an Mark und Bein sog? Genau!

So wollte Leberecht es auch halten. Wollte standhaft bleiben wie Martin (Luther) auf dem Reichstag zu Worms mit seinem markigen 

„Hier stehe ich /
ich kann nit anders. /
Gott helfe mir Armen!”

Denn dass er „Amen” gesagt haben soll, das war ja nur eine von der gegenreformatorischen Häme in Gang gesetzte fromme Verfälschung von Luthers dortiger Rede am offenen Fenster vor Kaiser und den Großen der belehnten Fürstentümer und staatlichen Gewalten. Diese Heiden hier draußen in der Wüste sollten schon sehen, wie der HERR seinem Diener würde beispringen und helfen wollen - und wie derselbe alle seine Feinde und ihre Rotten strafen mochte! Denn mit einem Gottesurteil ist nicht zu spaßen.

Die Nacht kam. Und die Nacht ging. Der Morgen brach an und verwandelte sich in den Tag. Und die Tür des Zeltes klappte auf, der Schwarzbärtige trat ein und mit ihm zwei Weiber der ganz besonderen Art. Diese waren nicht nur ganz vermummt, sondern trugen in ihren Händen jedes eine sich windende Schlange.

„Auf, o Fremdling!” rief der Schwarze, auf dessen Haupt nun ein blutroter Turban thronte und die Gestalt des sowieso hochgewachsenen Clangebieters noch ein gutes Stück vergrößerte „die Stunde ist nahe. Tritt vor das Zelt und vor den Gebieter der Sterne und Wesen.” Leberecht erhob sich und dachte „Gebieter der Sterne und Wesen. Von diesem Würdetitel hatte ich noch nie vernommen.” Man trat also vor das Zelt, das nur innen schwarz gewesen, außen aber mit irgendeiner reflektierenden Folie bedeckt zu sein schien, deren Glanz die Augen schmerzte, wenn man genau hinschaute. Das ganze Volk hatte sich in einem großen Kreis versammelt, in dessen Mitte man nun Leberecht führte und ihn dort an einen Pfahl band, so dass seine Beine und der Oberkörper fixiert waren, die Arme aber konnte Leberecht frei bewegen. Neben ihn hin stellten sich nun zur Rechten und zur Linken je eines der dunkelgewandeten Weibspersonen hin, aus deren Händen sich um die entfleischten dürren Arme jene beiden  Schlangen wanden, welche durchaus gefährlich ausschauten, mit ihren opalisierenden Augen giftig in die Runde blickten und ihre Rachen samt gespaltenen Zungen vernehmlich zischen ließen. Leberecht Gottlieb, der in seinen Studienzeiten auch ein wenig Zoologie belegt und im Halleschen Zoo sein Salär dadurch ein wenig aufgebessert hatte, indem er die Terrarien der Reptilien und Großskorpione gesäubert, erkannte in den beiden Tieren die hochgefährlichen Vertreterinnen der Familie Naja Tripudians, der indische Kobra oder Brillenschlange, welche eine der tödlichsten Giftschlangen darstellt, die besonders als Schauobjekt der Schlangenbeschwörer in Indien und Nordafrika bekannt ist.

Der Schwarze gab nun die liturgische Leitung des Gottesurteils an einen anderen Schwarzbärtigen ab, welcher in Kamelfelle gehüllt vortrat und einen monotonen Singsang begann, der vom Volk mit monotonem Aufstampfen der Füße rhythmisch begleitet wurde. Schon bald vibrierte der Boden der Wüste, die Weiber neben Leberecht verfielen in Trance und stierten sabbernd ins Nichts. Gerade wollte Leberedht denken, „was will das werden” da sagte der schwarze Liturg zu ihm: „O Fremdling aus den Landen unserer Ururgroßmütter. Wähle von diesen beiden Schalen eine und verzehre tapfer den Inhalt. Dann werden wir dich der Gewalt der Schlangen aussetzen. Beißen sie dich, dann bist du dem Tode geweiht. Hast du aber die rechte Schale gewählt, wird das Gegengift, das darinnen eingerührt ist, dich zu retten vermögen.” Der Mann sprach wirklich stilistisch ähnlich, wie Karl May seine Bücher aufgeschrieben hatte. Leberecht nahm sich vor, dass er, wenn man denn das Ordal überleben würde, diesen Mann in dieser Sache befragen wolle. Wie kommt Karl May in diese Wüste? Und welcher Konfession gehören die Leute an, welche hier offenbar ihr Leben fristen?  Zwei junge Knaben tänzelten herbei und trugen je einer eine tönerne Schalen zwischen den beringten Fingern. Eine Schale war grün und die andere war rot. Darinnen schwappten gelbe Flüssigkeiten, auf deren Oberflächen sich hie und da träge schwarze Fliegen zu mästeten schienen.

Die Flüssigkeit stellte sich als dünner Puddingschleim heraus. Leberecht überlegte fieberhaft. Gegen Schlangenbisse sind bekanntlich Antivenine entwickelt worden. Das sind Blutseren, die man dadurch gewinnt, dass man Tieren geringe Dosen des Giftes injiziert, das bekämpft werden soll. Und dann zapfte man diesen Tieren - die in alter Zeit übrigens als heilig angesehen wurden - von ihrem Blute etwas ab. Und aus dem abgezapften Blut gewann man den Gegenstoff. "Womöglich sind die Tiere irgendwelche Kamele aus der Herde, die da hinten in einem Dornenverschlag dösen?" dachte Leberecht "oder gar diese beiden dürren Weiber unter ihren schwarzen Umhängen?" Leberecht schauderte, als er sich vorstellte, wie die beiden Mädels wohl ohne jene schwarzen Fetzen aussehen mochten, welche an ihnen herab wallten. Also im Adams- bzw. Evakostüm ... Schnell ließ der Alte solche Gedanken aber fahren und konzentrierte sich auf die nun anstehende ernste Aufgabe.

Es galt nämlich, die rechte und rettende Schale zu erwählen. Die Linke konnte durchaus die rechte Schale sein. In seiner Not zählte Leberecht die Fliegen auf den tönernen Schüsseln mit dem darin enthaltenen Sudelpudding. Auf der linken Schale weideten vier Fliegen, auf der rechten fünf. Gerade jetzt aber erhob sich eine von den Fünfen und flog hinüber zu den Vieren, worauf diese neue Fünf wie zu einem Pentagramm angeordnet schillernd da saß. Als Leberecht die Schale nun gerade eben ergreifen wollte - übrigens das Stampfen und Singen hatte nicht aufgehört, sondern war im Gegenteil immer mehr angeschwollen - erhoben sich zwei von den fünf Fliegen und ließen sich bei den verbliebenen vier der rechten Schale nieder. Hier thronten sie verteilt im Abstand von je sechzig Grad, so dass sich dadurch fast das Siegel Salomonis abzubilden schien. Ohne weiter nachzudenken, riss Leberecht dem Knaben diese Schale aus der Hand, stürzte deren schleimigen Inhalt beherzt mit dem Stoßgebet „Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner!” hinunter. Noch nie hatte er etwas Seltsameres genossen. Denn es schmeckte - irgendwie synthetisch und dann wieder auch irgendwie organisch. Es war jedenfalls unbeschreiblich und deshalb sollen die Leser hier nicht mit hilflosen Beschreibungen bezüglich des Grundkörpers dieses Getränks und seines Geschmacks beim Abgangs auf die Folter gespannt und verwirrt werden.

Das Gestampfe und Gesinge hatte nun schlagartig aufgehört, als Leberecht die rechte Schale ergriff. Totenstille ringsumher. Die beiden Schlangenweiber erwachten aus der Trance und traten sehr dicht an Leberecht heran, wobei die beiden Kobras wohl auch irgendwie aus ihrer Betäubung aufgewacht zu sein schienen, sich drohend in den Armen der Erinnyen aufbäumten und die giftgeschwollnen Bäuche blähten. Dann aber bissen sie zu. Jedoch nicht Leberecht war Opfer ihrer spitzen Zähne, sondern die beiden Schlangenträgerinnen sanken mit wehen Schmerzenslauten zu Boden und begannen nach wenigen Sekunden zu erstarren. Das Gottesurteil war vorüber.

Der Schwarze mit dem roten Turban kam herbei und lächelte. Dann streckte er seine rechte Hand Leberecht entgegen und sprach folgende Worte. „Unser Bruder aus dem Land der Sprache meiner Ururgroßmutter sei herzlich bewillkommnet. Möge der Frieden des Gottes aller Sterne und Wesen mit ihm sein und bleiben.” Und dann führte er Leberecht in ein anderes zweites großes Zelt, das drinnen nicht schwarz ausgeschlagen sondern mit wertvollen Teppichen bekleidet sein würde. Leberecht sah sich nach den beiden Schlangenweibern um, die starr und steif und mit Schaum vor den Mündern im Sande zitterten. „Und diese?” fragte er „sollte man ihnen nicht beistehen?” Der Schwarze aber lachte und sagte nunmehr ohne Karl May-Attitüde „Ist so in Ordnung. Das macht denen nichts. Die sind immun!” Darauf schlug er die Zelttür zurück und ließ Leberecht den Vortritt in das bessere Zelt.

---
noch mehr von Leberecht hier ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

17 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Anzeige

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.