unbekannte Kirchengeschichte
Leberecht Gottlieb (76)
76. Kapitel, in welchem wir einen Streifzug in die Gefilde bisher noch gänzlich unbekannter Kirchengeschichte unternehmen und einige Dinge überJesus erfahren, die dem Vatikan wahrscheinlich weiterhin unliebsam bleiben könnten ...
Während Leberecht Gottlieb als hoher Gast im Zelte des Beduinenclanchefs bewirtet wird und die beiden Schlangendamen sich von den Bissen ihrer Tiere erholen - man wird den beiden Frauen bald je einen halben Liter Blut abzapfen, um das lebensrettende Serum daraus herzustellen - wartet der Chinese Mister Luan Wang Li Zhang vergeblich an der Klagemauer. Der getreue Leser erinnert sich, man war darin übereingekommen, am Tage der Kreuzerhöhung, dem 14. September, sich dort zu treffen. Heute am Morgen begann dieser Tag - und er läuft seitdem von Minute zu Minute ab ... aber kein Leberecht Gottlieb erscheint - und der Chinese hätte dem Geistlichen doch gern so viele Fragen gestellt. Schon lange liebäugelt er mit den Vorzügen des alten Christentums, hatte aber noch niemanden ausmachen können, der die Besonderheiten des Konfuzianismus mit den Lehren des Jesus aus Nazareth erst vernünftig und dann auch dogmatisch zu verbinden verstanden hätte. Leberecht schien ihm dieser Mann sein zu können, der das hätte bewerkstelligen mögen. Jene im Flugzeug hin zu der Stadt Kairo gemachte Entdeckung der Vorliebe Leberechts für das auch von Luan Wang Li Zhang hoch geschätzte I-Ging als Buch der Wandlungen gab den Ausschlag für eine sonderbare Symphatie. Aber nun stand Mister Luan Wang Li Zhang ganz allein inmitten der vor und rückwärts wippenden an ihren Schläfen belockten schwarz gekleideten orthodoxen Juden an dieser aus riesigen Steinen bestehenden und in der Tat beeindruckenden Wand namens Klage-Mauer. Zwar hörte er den brummenden Singsang der Juden - aber der Christ Leberecht war nicht zugegen.
Mister Luan Wang Li Zhang telefoniert mit seinem Chauffeur, der mit allerlei Leuten aus dem Netzwerk seines Chefs und diese wiederum mit allen möglichen und unmöglichen Securities von Peking bis Taiwan - Kairo, SoHo, ChinaTown und dem Derb-Oma-Bezirk Casablancas KOntakt aufnahmen. Da stellte sich dann auch tatsächlich heraus, wie man Leberechts Handy zuletzt in irgendeinem Vorort von Kairo an einer Bushaltestelle sich einloggend in Erfahrung hat bringen können. Danach aber bricht die Kontaktstrecke spurlos ab. Mister Luan Wang Li Zhang setzt nun alle Hebel in Bewegung - aber bisher ohne Erfolg. Da entschließt er sich, seinen Bruder in der Kairoer Seidenmanufaktur zu bitten, ihm den alten Mann aus Sachsen suchen zu lassen. Und alsbald gibt es ein paar Telephonate mit Macau - und von hier aus wieder werden etwa zehn Kung-Fu-Krieger aus einem Shaolinkloster, dessen Lokalität hier unbedingt ungenannt bleiben muss, losgeschickt, um den Verschollenen ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Die Wüste scheint Leberecht verschluckt zu haben.
Dem ist aber nicht so. Der alte Pfarrer sitzt mit untergeschlagenen Beinen in dem Prachtzelt des Clanchefs Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem, saugt am Mundstück eines elfenbeinernen Nargiles aus dem 6. Jahrhundert und lässt sich über den Clan der Charli-Benduinen informieren. Dem Leser geben wir den vier Stunden lang dauernden Vortrag des Clanführers Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem hier nur gekürzt wieder. Als Christus - so führte der Beduine in allerbestem Deutsch mit leicht sächsischem Akzent aus - nach seiner Auferstehung gemeinsam mit Maria Magdalena nach Indien zog und dort eine Familie gründete, sei einer seiner Söhne zurück in die palästinäische Heimat gekehrt, um sich der Wurzeln seiner Herkunft zu versichern. Dort musste er dann aber leider auch die damals gegenwärtige die Jüngerschaft seines Vaters kennenlernen, welche in den sechziger Jahren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zerstrittener war, als man sich heute überhaupt vorstellen mag. Die einen behaupteten nämlich, der Jesus sei von den Toten wahrhaftig auferstanden, was von der Gegengruppe heftigst bestritten wurde. Diese nämlich wollten beschwören können, der Herr sei mit Mohn-Drogen über den grausamen Karfreitag bugsiert und nach der Kreuzabnahme mit Grablegung sofort reanimiert, in Sicherheit gebracht und aufgepäppelt worden. Beide Gruppen stritten heftigst aufeinander ein und hätten den bei ihnen erschienenen Sohn Jesu fast umgebracht, da er die Lösung des Problems zu bringen gedachte und mit ihnen Klartext redete. Auch hier sehen wir, oft ist die Lösung des Problems gar nicht gewollt und wäre sogar hinderlich - für irgendwelche in den Status von Wahrheit erhobenen persönlichen Unsinn. Probleme können auf der anderen Seite aber wohl oder übel dazu beitragen, irgendetwas zu bewirken - an dieser Stelle stockte der Bericht des Clanchefs Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem.
Leberecht Gottlieb war nicht etschüttert oder perplex. Ähnliches hatte er selber schon immer vermutet, zumal es auch einige abseitige Publikationen innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft gab, die solches behaupteten. Also - das hier, was Clanchef Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem berichtete, schlug dem Fass dann aber doch den Boden einigermaßen aus:
Der Sohn Jesu Christi - ein gewisser Ephraim-Manasse - gründete nach seinem Hinauswurf aus Jerusalem - das von den Römern später sowieso bald zerstört werden sollte - draußen in der Wüste des Negev eine Gruppe von Siedlern, die in der Nähe der alten Heimat Marias und Josephs - und des Jesus natürlich auch - ein einfaches Leben auf dem Boden einer gelinde ausgeführten Reform mosaischer Gesetzlichkeit zu führen gewillt waren. Und da zog man, wie schon die Vorfahren der Vorfahren es gewohnt gewesen, hin und her, um Dromedare, Schafe und Ziegen zu züchten. Und das bis auf den heutigen Tag. Allerdings - man verwahrte auch die Heilige Lanze, die den Urahn getroffen, den unvergleichlichen Becher, aus dem seine Jüngerschaft am Gründonnerstag getrunken und jene Bundeslade, in welche der Leib Jesu gesenkt worden war, bevor der schwere goldene Kasten, in dem früher die Gesetzestafeln sich befanden, in dem Grab des Joseph von Arimathia abgestellt worden war.
Nun - allerdings seien alle diese drei heiligen Objekte im Laufe der Jahre leider abhanden gekommen und befänden sich gegenwärtig wohl in schlechten Händen. Wo nämlich sich „die großen Drei” gegenwärtig befänden sei unbekannt, allerdings wären in letzter Zeit ernst zu nehmende Hinweise dafür aufgetaucht, dass der Kelch im Wüstensand vergraben läge, der Bundesladenkasten in einer Felsenspalte fest stecke und das geistige Geheimnis der Heilige Lanze von abendländischen Astrologen und Sternenfreunden seinem materiellen Gegenstande entrissen und als Bauplan bereits im Internet kursiere, was - wenn das denn stimmen mochte - schlimm wäre. Sogar sehr schlimm. Denn das Geheimnis des Speerstabes erlaube den Wissenden ihr Reisen in der Zeit - und wer in der Zeit reise, der hätte die Fähigkeit dazu, Geschichte in Zukunft und Vergangenheit zu beeinflussen.
Nach all diesen Dingen führte Clanchef Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem noch aus, dass der Islam im 7. Jahrhundert allenfalls eine entartete Sonderform missverstandenen Ariananismus’ gewesen sei, welche mit den minderspezifischen Gedankenformen, die dem arabischen Geist damals zur Verfügung gestanden, sozusagen ein brauchbares simples Downgrade komplizierter Synodenentscheidungen von Nizäa, Ephesus und Konstantinopel zur Hand gegeben hätte. Man wollte auf der arabischen Halbinsel von Mekka bis Medina mit der griechischen Philosophie und ihren komplizierten Begriffen Natura, Wesen, Substantia, Ousia, Hypostase, Homousie und Hömousie nämlich nichts zu schaffen haben. Sie, die Charly-Benduinen allerdings schon. Äußerlich zwar sähe ihre Gemeinde oder die "Kirche des Gottes der Sterne und Wesen" einer islamischen Umma und ähnlichen ungläubigen Konventikeln zwar zum Verwechseln ähnlich - zumindest in der europäische Wahrnehmung. Das sei aber völlig falsch, denn nur die - und jetzt nannte der Clanchef den Namen seiner sonderbaren Kirche zum dritten Mal - Charly-Benduinen seien die einzigen direkten Nachfahren des Jesus aus Nazareth, der im Jahre 77 nach der Zeitrechnung in Indien verstarb, nachdem er die um etwa zehn Jahre jüngere Maria Magdalena nach jüdischem Brauch ehelich heimgeführt hatte und mit ihr noch sechs Söhne und zwei Töcher hinterließ.
Er selbst, Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem, betrachte sich als einen der Ururururururenkel des allseits bekannten Jesus Christus und auch als den Uurenkel jener Frau, die den großen deutschen Schriftsteller Karl May auf seiner erst im hohen Alter in Angriff genommenen Orientreise hin zu den wichtigsten Orten führen durfte. Aus dem Verlagshaus des Friedrich Ernst Fehsenfeld, der die Bücher Karl Mays verlegte, hatte die Ururgroßmutter als Anerkennung dann auch jene schöne Prachtausgabe aller Schriften des geschätzten Radebeuler Autors geschenkt bekommen, die man hier draußen in der Wüste neben der Bibel Neuen aber noch mehr Alten Testaments in höchsten Ehren hielt und der Jugend immer wieder daraus vorlas. Mit Hilfe genau dieser Bücher habe auch er - Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem - die deutsche Sprache erlernen dürfen, welche schön sei, schön mache und gut tue, wenn man sie spräche. Und die doch um so Vieles besser klinge als das kehlige Idiom anderer arabischer Beduinenstämme. Am liebsten spräche er als Clanchef den vierundzwanzigsten Buchastaben aus.
"Das ist ja das X", bemerkte Leberecht Gottlieb gedankenverloren. - Und Ben Jussuv Ibn Jesus Bar Messem bestätigte dem Emeritus diese Diagnose. Er sagte dann ganz langsam und mit Nachdruck: „Ixs.” Und fügte hinzu, dass er nach dem X das S noch sehr lange ausklingen ließe. Er führte es Leberecht genüsslich einige Male vor: „Ixs.”
Hiernach sogen beide nachdenklich an ihren Wasserpfeifen und konnten dabei beobachten, wie den beiden Schlangenweibern von dem Medizinmanne, der vorhin das Gottesurteil geleitet hatte, unter dem Beisein der beiden Schüsselknaben gerade etliches von ihrem rötlich wallenden Blute abgezapft und in Glaskaraffen gefüllt wurde. Die beiden Clanweiber - sie wurden Dolly und Molly genannt - machten schon wieder vergnügte Gesichter. Es gab übrigens noch andere solcher Schlangenweiber inmitten der Schar der „Kirche des Gebieters der Sterne und aller Wesen.“ Und man nennt sie dort die Nachschim Nachschot oder auf Arabisch Nisusuben. Sie lassen sich von den Kobras zwicken und sorgen dafür, dass eine kleine Pharmabude am Rande Kairos ausreichend mit Blutserum beliefert werden und der Clan selbst ein paar verlässliche Einnahmen erzielen kann. Andere Länder - andere Sitten
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