der Biss und die Folgen
Leberecht Gottlieb (77)
77. Kapitel, in welchem alle Dinge scheinbar eine Wendung nehmen, welche die Geschichte des Fortgangs derselben nachhaltig zu beeinflussen geeignet sind ...
Leberecht Gottlieb befand sich nun in einer zwiespältigen Lage. Einerseits wollte er - nein, musste er unbedingt - nach Jerusalem, wo der Chinese Herr Luan Wang Li Zhang ungeduldig auf ihn wartete, wie anzunehmen war. Andererseits war es hier bei der kleinen Sektenkirche derer, die einen "Herrn der Sterne und Wesen" verehrten, interessant und überaus reizvoll. Was war zu tun?
Die Antwort erfolgte wie so oft im Leben - es traten Ereignisse ein, welche Leberecht direkt betrafen.
Der alte Mann wurde nämlich von einer jener Schlangen gebissen, mit denen man hier einen bescheidenen Profit einstrich, wie wir weiter oben berichtet haben. Und diese eine Schlange hatte man wohl aus Unachtsamkeit im Sande sich verlaufen lassen? Ja, ja - keine Blindschleiche, sondern eine wirkliche Kobra mit spitzen Zähnen. Ei - da war nun großes Hallo. Und Leberecht musste gleich von dem Blute der beiden Vipernweiber ordentlich trinken, was überaus wichtig aber genauso scheußlich war. Leberecht stellte sich an - das soll hier nicht beschrieben werden. Es war sozusagen ein Gottesurteil ohne vorauslaufende und begleitende Liturgie. Leberecht lag auf einer Bahre, neben ihm saßen die beiden Weiber Nachschim Nachschot oder auf Arabisch Nisusuben - und die kümmerten sich rührend um den alten Mann. Sie strichen, damit sich nicht zusätzlich zu dem fatalen Unglücke noch Nekrosen am Fuße des Geplagten bildeten, mit ihren feinen Fingern die Wunde auf und nieder, um das Gift in die Blut- und Lympfbahn zu zwingen und dort mit dem Gegengift in Bekanntschaft zu setzen. Leberecht fühlte sich schlapp und im Geiste zugleich sonderbar erstarkt. Er fiel in Ohnmacht und begann zu träumen.
Sein ganzes Leben lief einem Film gleich im Rückwärtsgang vor seinem geistigen Auge ab, so wie man es in den broschürten Nachtoderfahrungsratgebern, die man an den Zeitungskiosken der Bahnhöfe kaufen kann, ähnlich beschrieben liest. Wenn der geschätzte Leser einige Details von diesen Filmsequenzen kennenlernen will, dann lese er die Beiträge dieses Romans in den Kapiteln eins bis sechsundsiebzig. Als Leberecht dann allerdings an der Schwelle seiner eigenen Geburt angelangt war, und nach menschlichem Ermessen der Bericht abrupt enden müsste, ging es trotzdem sehr lange immer noch weiter. Es folgten nämlich die neun Monate im Uterus der Frau Ernestine Gottlieb, die seine Mutter gewesen, dann der exorbitante Akt des Auseinanderfliegens der elterlichen Zygote in ihre beiden Ursprungsbestandteile - welche Spaltung etwas Sonderbarstes freisetzte, was man vielleicht mit dem Begriff Seelenkern annähernd beschreiben könnte? Dieser Kern ohne materielle Substanz war nun frei und bewegte sich zeit- und ortlos durch das Sinnkontinuum des Seins des Seins.
Hier sah Leberecht nun, dem inzwischen der obligatorische Schlangenbissschaum vor dem Munde brodelnd flatterte - welchen die Nisusuben oder Nachschim Nachschot jedoch mit Baumwolltüchern immer wieder sorgsam entfernten und fortwischten - sonderbarste Dinge. Nicht etwa, dass er Gott schaute - oder Jesus Christus oder die Hölle, von der er als Knabe doch so interessiert geschwärmt. Nein, nein - er sah gar nichts, sondern er ward selber zum Bild, das sah. Wie soll man es mit Worten ausdrücken? Und wie beschreiben? Die zumindest für Philosophen lästige Trennung einer Sache in betrachtetes Objekt einerseits und betrachtendes Subjekt andererseits war anscheinend völlig weggefallen. Alles war eins und dieses Eine war zugleich alles. Leberecht war sein Vater Martin und zugleich war er auch der Apotheker Globnich und dessen missratener Sohn Kurt. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen der Schlange, die ihn vorhin gezwickt und ihm selbst, der er gezwackt ward und nun langsam hier draußen in der Fremde verröchelte. Er erinnerte sich an die Landtagswahl im heimatlichen Sachsen und war selbst jene Zahl, die seiner alten Partei den Garaus gemacht und war zugleich ebenso alle hässlichen Fahnen, die an Masten überall flatterten, welche jedoch noch gar nicht aufgestellt worden. Er war ein Lied, das von einfältigen Männern mit Glatzen und wirren Frauen in Regenbogenblusen angestimmt und war auch ein uralter Hymnus, der nach den Regeln des Heiligen Gregor in der Kathedrale von Florenz auf allerkunstvollste Weise in den Kehlen kastrierter Knaben ertönte. Dann wurde es allerfinsterste Nacht um ihn - und diese Nacht war zugleich der unerträgliche Schein des Innersten von Millionen Sonnen.
So etwa ging es noch ein paar Stunden, dann war das Gift der Vipern auf ein menschliches Maß herabgesunken und Leberecht konnte wieder sehen, ohne dass er zugleich mitansehen musste, wie es in ihm sah. Er konnte wieder hören, ohne zugleich hören zu müssen, wie sein Ohr hörte. Es war, als ob die tausendundein Vorhänge wieder vor seinen Geist gezogen würden - so dass er nun auch wieder zu denken vermochte, ohne dass dieses Denken selbst sich zwischen ihn und das Gedachte drängte. Als er die Augen aufschlug, war es lichter Morgen und die Nachschim Nachschot saßen neben ihm und wechselten die heißen Tücher, die sie von seiner Stirn genommen, in andere Tücher um, die sehr kühl waren, denn die beiden Frauen kühlten ihm das Haupt mit Wasser aus einem Brunnen, der dort tief in das Wüstengestein gegraben worden war - bis hin zu dem Mittelpunkt der … Aber da war Leberecht schon wieder entschlummert. Und dass sein alter Körper solche Strapaze bestehen konnte, das war so etwas wie ein Wunder. Das Wunder einer eigenartigen Gesundheit, die dem alten Pfarrherrn wohl in den Knochen sitzen musste ..
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