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von achtzehn Dingen
Leberecht Gottlieb (83)

83. Kapitel, in welchem wir bereits länger vermissten Bekannten begegnen und das Mysterium des Würfelns streifen …

Vielleicht hat sich der Leser bereits gefragt, warum bei der Aufzählung der heiligen Gegenstände Gral, Lanze und Bundeslade nicht auch das Gewand Christi eine Rolle gespielt habe? Neben den heiligen Karfreitagsnägeln hat auch dieser in einem Stück gewebte Rock, welchen der Meister Jesus Tag für Tag über drei lange Jahre getragen und um den die Soldaten unter dem Kreuz die Würfel hatten rollen lassen, in der Geschichte der abendländischen und noch mehr morgenländischen Kirche einen nicht unbedeutenden Platz eingenommen. Wer sich in den abgelegten Rock Christi hüllen könnte, müsste der nicht ebensolche Macht gewinnen wie einer, der die heilige Lanze führt? Jedenfalls dachte man für Jahrhunderte in solcher Weise. Hatte man damit nicht sogar Recht? Wie jemand, der aus dem Becher tränke, in welchem Johannes unter dem Kreuz die Tropfen des göttlichen Blutes auffing, wie einer der die steinernen Tafeln beherbergt selber zur Herberge wird? So doch auch der Besitzer des Heiligen Rockes! 

Becher, Lade, Speer und Nägel
dann sein ungenähter Mantel.
siebenfach sind fromm die Dinge,
die dich unbesiegbar machen.

An jeder dieser heiligen Sachen kristallisiert sich etwas von der  Biographie des Gottessohnes zu einem edlen Steine aus, bzw. jene Geschichten, welche über Jesu Biographie erfunden, aufgeschrieben und über Jahrtausende weitergegeben worden sind, wachsen an solchen Stellen zu phantastischen Gemmen. Leberecht Gottlieb hatte den eben zitierten Merkspruch seinen Konfirmanden treu und brav übermittelt, sie denselben auswendig lernen lassen und alle die, welche ihn nicht hersagen mochten, auch nicht konfirmiert. Wer sich solch einfache Sachen nicht merken konnte oder nicht merken wollte, war nicht wert, das Sakrament des Altars zu empfangen. Denn er nahm das gesamte Christentum offensichtlich nur auf die leichte Schulter und trug damit nicht zum Ruhme der Kirche als Communio Sanctorum bei.

Freilich ließe sich die Summe der heiligen Gegenstände noch mit vielen anderen Dinge vermehren. Da wären als wichtige Sakramentalien etwa die Dornenkrone, das Schweißtuch der Veronica - vor allem aber auch das kleine Schildchen oben an dem heiligen Kreuze mit der Aufschrift INRI, einer Art Tetragrammaton 2.0. Was aber bis heute überhaupt vergessen worden zu sein scheint - sehr zum Leidwesen Leberecht Gottliebs übrigens - das sind jene Würfel, mit Hilfe derer einer der römischen Soldaten sich den Mantel des Judenkönigs losend hatte erkiesen können. Jene Würfel - es sollen drei gewesen sein - haben bisher keine bekannte Traditionsgeschichte hervorbringen können. Sie haben aber nichts desto trotz eine große Bedeutung, welche jedoch in den allerverschiedensten Zufallsspielen der Kinder dieser Welt untergegangen ist. Denn überall, wo man sich heute die Zeit mit drei Würfeln vertreibt, wird immer noch um das Gewand Christi gelost. Nur merkt man das nicht - weil es so viele Würfel in aller Herren Länder gibt. Die Würfel des Karfreitags sind überall auf dem Erdkreis verteilt. Denn es kommt nicht so sehr darauf an, dass man die materia dieser Dinge bei sich hat, wie etwa den Finger der Hand des Heiligen Stephanus oder eine der Pfeilspitzen, die den Leib des Heiligen Sebastian gestreift haben. Die Zahlen auf den sechs Würfelflächen sind es - und nur auf die kommt es an. Überall wo sie stehen - überall dort sind die Heiligen Würfel von Golgatha im Spiel.

Leberecht Gottlieb beabsichtigt eigentlich seit vielen Jahrzehnten, eine kleine Novelle zum Thema dieses besonderen Würfelspiels zu verfassen. Und ist aber bisher nicht viel weiter gekommen als bis zur Erweiterung seines kleinen Spruches, der manchem Konfirmanden bereits zum Verhängnis geworden war - wegen Nichtbeherrschens von Betonung, Metrum und Reihenfolge. Vollständig lautete der Spruch nämlich so:

Becher, Lade, Speer und Nägel
dann sein ungenähter Mantel.
siebenfach sind fromm die Dinge,
die dich unbesiegbar machen.

Auch die spitze Dornenkrone,
und das wahre Bild im Tuche,
samt drei Würfeln aus dem Becher
mit sechs Ziffern seiner Schöpfung.

Ein einfaches Konfirmandenköpfchen wird natürlich von diesem Merkvers eher verwirrt als gelehrig aus der Stunde scheiden müssen. Die moderne Religionspädagogik behauptet, darüber viel nachgewiesen zu haben. Aber Leberechts Konfirmandenunterricht hatte eben diese einedeutig katholisierende Unterströmung. Er behandelte die sieben Dinge, von denen der Spruch handelte, ausführlich und in extenso wie ein Waldorflehrer seine Schüler ihre Namen tanzen lässt. Zwar kamen auch Glaubensbekenntnis, Gebote und das Vaterunsergedicht (wie ein Gemeindekirchenratsvorsitzender aus Plötnitz allen Ernstes das Herrengebet einmal genannt hatte) zum Tragen, aber Becher, Lade, Speer, Nägel, Mantel, Dornenkrone, Schweißtuch, Würfel und Zahlen spielten im Vergleich zu den bekannten historischen Stücken des Katechismus von Jahr zu Jahr eine immer größere Rolle. Einmal war Visitation in Prätzschwitz gewesen. Und die Herren Visitatores vom Kirchenkreis Meißen taumelten hocherstaunt aus der Konfirmandenstunde, denn Leberecht hatte sie in den Unterricht natürlich mit einbezogen - und sie hatten alle nicht viel gewusst, die Herren. Sie hatten sogar gar nichts gewusst ...

Etwas Besonderes zu diesem Spruch aber hatte dann der Konfirmand Sven bemerkt - und sich eines Tages an Leberecht mit folgender Frage gewandt: „Herr Pfarrer Gottlieb, sind es nicht eigentlich viel mehr Dinge als sieben, nämlich zwölf? Denn es sind ja drei Nägel und drei Würfel. Und wenn man die sechs bzw. achtzehn Zahlen darauf noch dazu zählt, die man auf diesen Würfeln lesen kann? Dann sind es mit Becher, Lade, Speer, Mantel, Dornenkrone und Schweißtuch insgesamt achtzehn - oder sogar dreißig!” Es war muksmäuschenstill gewesen, als Sven diese seine Aufrechnung vorgetragen - und die Abendsonne hatte lieblich in das Fenster des Betsaales in Mumplitz hereingeschaut, indessen draußen im Kirchturme die Glocken lieblich zu läuten angefangen hatten. Leberecht freute sich eine große und gewaltige Freude. Dieser Sven, dachte Leberecht, mochte er auch aus desolatestem Milieu stammen, hatte das Wesentlichen erfasst. Sicher würde er es einmal weit bringen. Und Sven brachte es auch weit. Wie der getreue Leser unseres Berichts sich bereits aus dem zweiten und einundvierzigsten Kapitel erinnert, erfand Sven den Prototyp der Zeitmaschine. Und arbeitete mit einem Heroldsstab, wie Leberecht nach Jahren erst als alter Mann sich einen Dank Abdruschka Cohns verschafft hatte, lange vor dem, was hier nun erzählt werden soll. Ja - es waren dreißig Heilige Dinge. Sie seien hier noch einmal aufgeführt:

Bundeslade
Gralsbecher
Dornenkrone
Schweißtuch
Mantel
Speer

Nagel 1
Nagel 2
Nagel 3

Würfel 1
Würfel 2
Würfel 3

und die Ziffern auf den Würfelflächen:
1
2
3
4
5
6

1
2
3
4
5
6

1
2
3
4
5
6

Leberecht saß in Gedanken versunken vor seinem Zelt und überlegte, ob er sich wohl irgendwie einen dieser Kreuzesnägel beschaffen könne. Vielleicht war es ja gar nicht nötig, eines der drei ehemaligen real-materiellen Nägel habhaft zu werden. Vielleicht reichte es aus, einen einfachen Nagel vor sich zu haben und das "Wesen" des Kreuzesnagels auf denselben zu projizieren bzw. zu übertragen? Mit Hilfe von ein paar geweihten Worten und Gesten? Wie die Katholiken es bis heute am Altar immer noch tun - und auch der brave Luther es noch gelehrt hatte: Tu es clavus sacrum. Was soviel hieß wie: Du bist, Nagel, heilig! Und es hieß zugleich auch fast: Du bist ein heiliger Schlüssel. Denn Clavus für Nagel und Clavis für Schlüssel - da war doch nur dieser kleine vokalische Ablaut vom "u" zum "i" oder vom "i" zum "u." Was die beiden Dinge eher nicht voneinander schied, sondern sie fast zu Einem Ding machte. Den Schlüssel zum Nagel und der Nagel als Schlüssel. Die drei Kreuzesnägel wären zugleich Schlüssel zum Himmel. Sie könnten es zumindest werden - wenn man daran nur fest glaubte. Und die Zahlenkombination, um das Schloss zu den Himmeln zu öffnen, die brächten die drei Würfel mit ihrem Code zu Stande. Denn der HERR lässt seine Zufälle statistisch rollen, wie er es will.

Als Leberecht aus solchen Gedanken auftauchend den Kopf erhob, blickte er in das freundliche Angesicht des Chinesen Luan Wang Li Zhangs. Ja - tatsächlich. Der Seidenfabrikant stand vor ihm in tadellos tiefblauem Anzug und meinte leichthin: „Lieber Herr Gottlieb, würden Sie Einwände dagegen erheben wollen, wenn ich es wagte, mich Ihnen mit der Frage zu nahen, ob Sie mir wohl das Vergnügen bereiten möchten, zu erklären, warum Sie hier weilen und nicht wie verabredet mit mir an der Mauer der Klagen zusammen getroffen sind? Sicher können Sie sich an mich noch gut erinnern. Ich handele mit allen möglichen Textilstoffen. Mein Name lautet Luan Wang Li Zhang.”

--
mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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