UND WAS HAT DAS MIT DEM GLAUBEN ZU TUN? (TEIL 4)
Leberecht Gottlieb (90)

90. Kapitel, welches uns Kunde davon gibt, wie die oberste Hindugottheit Parabaravastu und die Planeten zusammen gehören - und wie Bartholomäus Ziegenbalg das auf die abendländische Theologie zu übertragen hätte ...

Leberecht schaut in die Runde und fährt dann mit der ausgewählten Lektüre aus seiner Hauptseminarsarbeit bei dem seligen Indienmissionar Prof. Dr.Dr. Arno Lehmann  fort. Inzwischen hat sich ein leichter Wind aufgemacht und die Sonne steht bereits tief am Horizont. Abendliche Stimmung macht sich breit. Es ist wie bei einer jener Abendandachten, die so gern und oft bei den Diakonissen der Stadt Halle gehalten worden sind, als Leberecht dort noch studierte. Wenn diese am Ende des irdischen Lebens angelangten würdigen Damen mit ihren zitternden Köpfchen unter den tadellos gestärkten weißen Häubchen im Garten der Lafontainestraße saßen und an die lange Zeit entbehrungsreicher Arbeit für die Armen und Leidenden nachsannen und er, als ein junger Hilfsprediger, ihnen erbauliche Geschichtchen erzählte, welche die Apfelbäckchen der Damen erröten ließen. Auch hier erzählt nun einer - und die anderen hören zu. Und in ihrer Mitte geht das Wort hin und her - erzeugt dabei Sinn und tilgt den Unsinn fast ganz aus. Bis auf einen kleinen Rest, der immer bleiben muss, damit am Schluss wirklich alles gut werden kann, bis auf den letzten Rest.

"Wehe! Ich habe die ganze Nacht in Ziegenbalgs Göttergenealogie gelesen und bereits auf der ersten Seite Bemerkenswertes festgestellt. Dort heißt es über die Gottheit Parabaravastu:

„Die indische Gottheit Parabaravastu entspricht dem Ens supremum der Abendländer oder dem höchsten göttlichen Wesen, das überhaupt betrachtet werden kann: Als ein immaterielles Wesen, das keine Gestalt hat und mit nichts verglichen werden kann, welches weder Anfang noch Ende hat und der Ursprung aller Dinge ist, aus welchem alles geflossen und in welches alles wiederum einfließen wird, von welchem alle Götter abhängen und das da alles in allen und der einige Gott ist.

Ich beschloss, anderntags Ravi Subrahmanya in dieser Sache zu befragen. Und dieserr begegnete meinen Fragen mit großer Überlegenheit und behauptete, dass die viel ältere indische Göttervorstellung der monotheistischen von uns Abendländern in nichts nachstehe. Während die Abendländer die Zuwendung der höchsten Schöpfergottheit an ihre eigene Schöpfung (und deren Menschen) allein durch das Nadelöhr einer ectra zu diesem Zwecke konstruierten Christologie oder mit Hilfe einer verschwommenen und nie ganz präzise ausgearbeiteten Geistlehre vornehmen, ist bei den Indern dieses Problem durch eine sehr gut durchdachte Art begrenzten Pantheismus´ geregelt worden.

Der indiche Gelehrte nahm mir das Buch Ziegenbalgs aus der Hand und zeigte in das nächstfolgende Kapitel. Gemeinsam lasen wir dort, wie alles auf der Erde und im Himmel aus der Kraft der einen Gottheit Parabaravastu entstanden und sich danach im Materiellen versichtbart habe. Und lasen weiterhin, wie in den einzelnen Göttern dieser Heiden immer nur die eine unteilbare Gottheit als aller Samenkorn verehrt wird, wenn auch das tumbe Volk das oft nicht weiß, sondern die sonderbarste Idolatrie übt, wie bei uns etwa die katholischen Papisten mit ihren zahlreichen Heiligenfiguren. Die Weisen aber wussten um diese Sache schon immer – tadeln aber die einfachen Leute nicht. „Es ist bei uns“, sagte Ravi Subrahmanya fast triumphierend „an dieser Stelle so etwas wie eine asiatische Zweinaturenlehre zu beobachten, wie ihr Abendländer eine ähnliche im Blick auf die zweite göttliche Person eures kompliziert gedachten Gottes zu finden gedacht habt.“ Ich bemerkte Ravi Subrahmanya gegenüber, dass jeder, der sich je bemüht habe, einen Denkweg für die Frage zu finden, wie etwas Immaterielles doch materiell werden kann, ohne zugleich seine Immaterialität zu verlieren, wie also Gott für unser menschlich-irdisches Sein handeln könne, ohne dadurch sofort aufzuhören unabhängiger ewiger Gott zu sein, – wie jeder also, der das hat erklären wollen, logisch scheitern musste – oder eben als Ersatz eine Geschichte heranzuziehen gezwungen war, in welcher der Mythos gleichsam unter der Hand die garstige Logik listig wieder einkassierte, ohne dass der Verstand es schnell allzugleich bemerken konnte – weil die Geschichte nämlich entweder zu interessant, zu grausam oder zu erstaunlich gewesen.

Ravi Subrahmanya pflichtete mir bei und wies mich darauf hin, wie das reine Sein für uns nur deshalb dinglich offenbar nicht erscheine, weil es am trügerischen Schein der Welt nicht Anteil haben wolle. Und umgekehrt dieser Schein uns nur deshalb so schwach zu sein deucht, weil er seinerseits am wahren Sein eben kaum Anteil hat. Mir leuchtete das sofort ein – ich machte mir eine Notiz und komme mit ihr für den heutigen Tag zum Schluss meiner Eintragungen.

Post Scriptum: Dieses noch – damit es mir nicht entfalle: Ravi Subrahmanya behauptet, dass die Sterne und Planeten, Häuser und Zeichen, Sonne, Mond, die beiden Dämonen Rahu und Ketu und alle unzählbaren Sterne in ihrer Existenz am Himmel in Sonderheit Emanationen der Schöpferkraft Parabaravastus sind. Etwa so, wie wir Abendländer bestimmte ewig gültige Naturgesetze gefunden – oder sogar (nur) erfunden? – haben: Dass etwa ein Apfel mit einer bestimmten Geschwindigkeit zur Erde fällt, wie kürzlich der Engländer Sir Isaak Newton vorgestellt, oder die Planeten sich in Bahnen umeinander drehen, die man mit nüchternen Zahlen berechnen kann, als der Kopernikus aus Prag es tat – und überhaupt Zahlen bei uns im Abendland doch sehr wohl quasi für göttlich gelten, nicht zuletzt deswegen, weil wirklich alles mit ihnen berechnet wird. Unsere abendländischen Naturgesetze sind gleichfalls als solche Emanationen des Universalzusammenhangs von jedem mit allem zu betrachten, welcher Zusammenhang bei den Indern als Parabaravastu verehrt, beobachtet und in der Devotion seiner Untergottheiten im Kreatürlichen gefunden und gefeiert wird. Götter sind Naturgesetze – sind personalisierte ururalte Beobachtungen aus dem Reiche des Alltags – und sind durch Zahlen und ihre Relationen zueinander beschreibbar. Und immer nur diese eine unteilbare Gottheit - nämlich Parabaravastu - wird verehrt, wie auch bei uns die Engel viel niedriger sind als der Sohn Gottes oder Gott selbst, wie es im Briefe an die Hebräer heißt. Jedes Gesetz nun, das wir Abendländer als Natur-Unter-Gottheit etwa jemals aufgestellt, folgt dem großen Narrativ von Ursache und Wirkung, Grund, Folge und Zahl. Das sei etwas ganz Ähnliches zwischen den Vorstellungen der Hindus und denen der Christen!

Ich schwieg still nach dem Vortrage des weisen Mannes und beschloss, darüber nachzudenken. Ich hatte ja Zeit. Alle Zeit der Welt. Denn die lästigen und unwürdigen Weltkinder, mit denen ich von Sachsen hierher nach Ostindien gelangt, waren nach ihren Tigerjagden mitsamt den erbeuteten Fellen auf dem Weltmeere zurück hin in das mir inzwischen so sehr ferngerückte Altbekannte unterwegs. Ich aber war – frei! Freigelassen in die Abenteuer des Geistes!

Nicht ohne einiges Erschaudern nahm ich wahr, wie ich im selben Jahr geboren, da Ziegenbalg von dieser Erde genommen - er am 23. Februaris 1719 - ich am 25. octobris 1719 nach acht Monaten. Der Zufall wollte es, dass der Mond damals zu meiner Geburt und der Neugeburt Ziegenbalgs im selbigen Mondhaus stand - Ashwini. Wie, wenn ich nur eine weitere incarnatio der animae Ziegenbalgiensis darstellte, wie die Inder ja als Möglichkeit behaupten in ihrer Lehre von der Reincarnatio ... dass die Seelen der Edlen sich in anderen Menschen ein neues Heim aufsuchen und von dort aus weiter wirken. Ravi Subrahmanya hatte mich auf die gleiche Mondstellung bei Ziegenbalg und bei mir hingewiesen. Als ich erschrocken auffuhr und fragte, was das zu bedeuten habe, meinte er leichthin, dass es ja irgendeinen Grund habe, warum ich Ziegenbalgs Buch suchen müsse und es auch habe auffinden können. Das im Sternzeichen Fische gelegene Nakshatra Ashwini bedeute übrigens Neues zu erzeugen, indem Nichtfertiges zur Vollendung gebracht würde."

Es folgte nun noch eine Datumsangabe, nämlich gegeben zu Madras am Ostertag 1754. Leberecht machte mit dem Vorlesen eine Pause und versicherte sich des Interesses seiner auf den Chinesen und Ibn Jesus inzwischen wieder zusammengeschmolzene Zuhörerschaft. Nach einigen kräftigen Schluck Kaffee aus dem kumpfernen Becher, der mit Antilopengesichtern geschmückt worden war - eine außerordentlich feine und kunstfertig ausgeführte Graveurarbeit - fuhr man in der Lektüre fort:

"Morgen soll ein Fest zu Ehren Shukras und Shanis stattfinden. Die malabarischen Heiden nennen nämlich unseren lieben Morgensternplaneten Venus Shukra – den Saturn jedoch heißen sie mit Namen Shani. Allein daran kann schon jedermann sehen, wie es einen den gesamten Erdball überspannenden Zusammenhang großer Ideen gibt, die sich an die Sterne anhängen. Sagen die Inder nicht auch, wenn sie nicht weiter wissen: „Häng deinen Karren an den Stern“? Leonardo da Vinci hat diesen Spruch gekannt, beherzigt und es ist überliefert, dass er seinen Gehilfen diese Worte immer und immer wieder vorgehalten, wenn sie einer technischen Aufgabe nicht gewachsen schienen. Die Griechen jedenfalls riefen Aphrodite und Kronos an, wenn sie sich vor diesen beiden niederwarfen, welche morgen auf den Straßen von Madras verehrt werden. Und es ging dabei, sagte mein Lehrer erklärend, nie so sehr um die Frage, ob jene Gottheiten alle wirklich existieren würden. Sondern es geht bis heute eher darum, dass ihrer geistigen Prinzipien gedacht wird. Zeitlich gesehen noch vor ihrem Eintritt in die sogenannte eksistentia, von denen der alte Aquinate Thomas vermeldet, sie sei im Vergleiche zur essentia ein deutlich minderwertigerer Zustand.

Nein, – jene Gottheiten werden immer jenseits der Existenzgrenze in der reinen Essens vermutet und nur dort angesiedelt, wohinein unsere begrenzte Vernunft keinen Zutritt hat. 'Es könnte wohl sein, dass bereits heute beispielsweise in dem fernen Königsberg ein Mann lebt, der sein papiernes Lebenswerk als Buch noch gar nicht zu schreiben angehoben hat, aber dasselbe Druckwerk im Jahre 1781 vielleicht erscheinen lassen wird. Sozusagen ist dieses gewaltige Buch zwar vorerst und jetzt allein nur in der reinen Essenz präsent – es hat den Eintritt in die Welt der sterblichen Existenzen als papiern-peinliches Abenteuer noch vor sich - aber eines Tages wird es das Denken, das vor ihm üblich gewesen, zermalmen.'

So sagte mein Lehrer, den mir Andraparvabath Vidurian aus dem Gebirge jenseits Tranquebars empfohlen hatte. Wie dankbar war ich ihm, dass er mich hierher geschickt. Wie dem auch sei, die Malabaren werden also morgen jenes Fest der Vereinigung von Shani mit Shukra am Himmel feiern – und ich werde hingehen. Ja – ich, getaufter Christ Johann Christian Uschmann, Diakonus der Lutherischen Kirchgemeine „Unserer lieben Frauen“ in dem sächsischen Ackerbürgerstädtchen Zahna an der Zahna werde mich unter das johlend tanzende und schreiende Volk der Heiden mischen und sehen, wie es mir damit ergeht, wenn ich mit Seidenpapiersäckchen beworfen werde, in denen sich bunter Farbstaub befindet, der, wenn die Beutel beim Aufprall platzen, über unsere schwitzenden Körper verteilt und dort haften bleibt, bis wir uns im heiligen Meer davon säubern!

Das Fest ist heute schon angegangen, draußen dröhnen unablässig die Trommeln und Mantras werden auf den strengen Shani und die schöne Shukra gemurmelt und gesungen, dass es nur so eine Art hat. Oben am Firmament nähern sich bereits seit Tagen die beiden Planeten Venus und Saturn immer mehr einander an – so wie damals bei der Geburt des Herrn Jesus in Bethlehem der Saturn selbiges mit dem Jupiter tat, den die Hiesigen Guru nennen.

Groß ist das Geheimnis, warum der menschliche Geist seit jeher aus der Beobachtung kleiner Sternenlichtpunkte am Himmel auf das graue Schicksalsgetümmel unseres gewöhnlichen Alltags beim Erdenerlebens hat schließen wollen. Ravi Subrahmanya, als ich ihn in dieser Hinsicht befragte, erinnerte mich an das Vorwort des Buches „Ludos etc.“ wo geschrieben steht, dass es nicht so sehr die Planeten seien, denen das Interesse der Weisen galt, sondern es die Zahlen sind, welche sich Gott im Haupte zu allererst schuf und welche hinter allen Phainomena des Himmels und der Erde stehen und von den Lichtern unter der Feste des oberen Blaus im Realen repräsentiert werden. Und er sagte zu mir: 'Mache nicht den Fehler des dummen Schülers, der Kreide fraß und sich dadurch den Geschmackssinn ruinierte!“'Ich kannte diese Geschichte nicht und fragte, was sie beinhalte. Da erklärte Ravi Subrahmanya mir diese schlimme Sache – und zwar folgendermaßen:

'Ein Guru zeichnete mit Kreide seinem Schüler Vajyl Mutalacka den Stand der Planeten Mangal und Chandra im Nakshatra Purva Bhadrapada an die Tafel. Er erklärte ihm, wann, warum und wie wir Menschen oft unter Jähzorn litten – dem eigenen und dem anderer, die mit uns sind. Da wischte der Schüler das Bild des Lehrers an der Tafel aus und fraß sogar die Kreide des Lehrers in seinen Bauch. Der Guru fragte den Schüler, warum er die Kreide gefressen und das Bild ausgewischt. Der Schüler antwortete: Um den Jähzorn von der Erde zu vertilgen.'

Ich verstand die Geschichte erst am nächsten Tag. Die Kreidestriche, mit der die Planetengötter gezeichnet werden, sind selber nicht diese Planeten. Und die Planeten sind nicht die Götter und die Götter sind nicht Parabaravastu, der aber Alles in diesen allen ist – in den Göttern, den Planeten, der Kreide und nun auch in dem Bauch des Toren. Mein Lehrer hatte mir wohl sagen wollen, dass seine Glaubensbrüder morgen draußen nicht Shukra und Shani anbeteten, wie die Papisten es mit dem Heiligen Antonius oder ihrer Jungfrau Maria tun (wenn es denn sich so verhalten sollte …), sondern dass sie die Sterne als Bildwerke hernehmen, um eine Möglichkeit zu finden, den unerkennbaren Parabaravastu im Ritual selber wirklich zu verehren – und sich daran zu freuen, so wie die Katholiken Gott in den Heiligen durchaus gefunden, wenn sie uns Protestanten richtig verstanden hätten.

Dann sagte er leise: 'Ihr kämpft mit eurer Mission oft nur gegen die Kreide, mit der wir den gleichen Gott beschreiben, den ihr mit Tinte uns diktieren wollt!“'Das stimmte mich sehr nachdenklich und ich musste zugeben, dass ich der Weisheit Ravi Subrahmanyas an dieser Stelle nicht viel von demjenigen entgegen setzen konnte, was mich selber überzeugt hätte.

An dieser Stelle war der Akku des kleinen Telefons von Leberecht Gottlieb wieder an's Ende gekommen und das blaue Licht des Bildschirms erlosch mit einem Schlage. Die mächtige Sonne jedoch, welche der Text Leberechts in den Zuhörern erschuf, brennt nun hell und leuchtet jeden Winkel aller aus dem Dunkel des Nichtwissens erwachten Geistseelen mit gleißendem Lichte aus.

--

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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