Lutherlegenden
Leberecht Gottlieb (95)
95. Kapitel, das Leberecht zur Höchstform auflaufen lässt. Der Emeritus erzählt von ein paar Legenden, die er sich selber ausgedacht, mit ihnen einige Jahre innerhalb seiner Gemeinden hausieren gegangen und - wie manche meinen - genau das die Schrumpfung der Pfarrstelle Plötnitz wesentlich konnte hinaus zögern.
Leberecht hatte seine Geschichte bisher nur halb erzählt und langsam aber sicher bemerkt, wie ein Teil seiner Zuhörerschaft geängstigte Gesichter zu schneiden begann. Ja - die Leute hier in der Wüste mochten wohl noch sehr sensibel auf Berichte reagieren, die thematisch das Thema eines Paktes mit den Mächten der Finsternis berühren. So etwas hörte man hier draußen zwar gern, aber offenbar nicht ohne Bedenken. Besonders die Männer mit den klugen Gesichtern waren während der Lektüre fast alle einen Kopf kleiner geworden und - etwas in sich selbst zusammengerutscht. Deshalb hatte Leberecht bereits gestern für den heutigen Tag etwas anderes respektive milderes in Aussicht gestellt. Aber - dadurch würde es auch wieder etwas theoretischer sein … Alles hat seinen Preis.
Als genug Zuhörer versammelt waren, begann Leberecht mit seinem Vortrag und sagte: "Heute geht es um die Geburt höherer Wahrheit aus dem Geiste erfundener Legenden. Alles, was ich euch berichte, ist historisch nicht so gewesen. Aber es ist dermaßen und so gut erzählt, dass es tatsächlich gewesen sein könnte! Der Unterschied zwischen "nicht geschehen" und "könnte geschehen sein" ist so verschwindend gering - dass ihr am Ende denkt, ich hätte etwas zum Besten gegeben, was am soundsovielten um soundsoviel Uhr genau so, wie und was ihr gehört habt, sich auch ereignete." Die Zuhörer machten es sich bequem und Leberecht begann.
"Gut gehütet, lange verschwiegen, sorgsam vor dem Zugriff der Öffentlichkeit bewahrt, haben einige findige Leute es nämlich vermocht, jene Kiste mit Traumtagebüchern des kleinen Martin, bevor dieselben in den Bleikammern des Vatikans verschwanden, zu entwenden. Eigentlich ist „entwenden” nicht das rechte Wort. „Austausch” wäre der angemessenere Begriff. Eingetauscht wurde diese Kiste gegen brisante Enthüllungen - die sogenannten Vati-Leaks. Auf jeden Fall geriet der alte Karton samt Kinderträumereien des späteren Reformators (Signatur RE/1508-ML) für kurze Zeit in die Hände der Protestanten. Und für einen Abend und genau für eine Nacht ebenfalls unter die Augen eines inzwischen emeritierten Kirchenarchivars, dessen Name nicht in der Öffentlichkeit erscheinen soll. Wir nennen ihn der Einfachheit halber in Anlehung an E.T.A.Hoffmanns Goldenen Topf kurz und bündig den ARCHIVAR. Dieser griff zu - das meint, er handelte ohne zu fragen. Schnell und selbst.
„Oho!” dachte sich der Archivarius „diese nächtlichen Gesichte des späteren Dr. Martin Luther … Das ist doch mal wirklich was Besonderes! Diese Schriften zu edieren würde die gesamte bis dato aufgelaufene Lutherforschung gleichsam aus methusalemischem Schlaf erwecken. So etwa, wie seinerzeit Jesus Christus den stinkenden Lazarus aus dem Muff des Grabes neu und lebendig hervorrief!” so dachte der Archivarius. Jener eine und einzigartige Abend, an dem sich die vatikanische Kiste in seinem Besitze befand, reichte aus, um fotografische Aufnahmen Seite für Seite von jedem Bogen zu machen. Am nächsten Morgen bereits stand der Wagen des Sächsischen Kultusministeriums vor der Tür; in ihm sollten die Knabenvisionen des nachherigen Alleszermalmers zu Wittenberg wieder nach Rom transportiert werden. Hatten die Sachsen nicht immer schon eine geheime Schwäche für´s Katholische? Und, - habt ihr die Fahrer der verdunkelten Limousine gesehen? Denen möchte ich sogar bei Tag nicht begegnen … Die Reifen quietschten auf dem warmen Asphalt, es war der Sommer 2017. Nie wieder würde irgendjemand über diese Sache sprechen können. Aus den Augen aus dem Sinn. Und aus dem Sinn bedeutet immer - „Aus für die Forschung.”
Aber da war eben unser Archivarius! Der ging wacker und beherzt daran, den Schatz zu transkribieren. Wir kennen ihn gut, den Diener der archivierenden Künste, - er hat sein Leben der Erhaltung von schriftlichen Quellen verschrieben. Da wir Anteil an seinem Wissen erhalten haben, halten wir nicht dicht. Und veröffentlichen diese Texte hier an dieser Stelle für alle Interessierten. Die Transkription der fotografierten Texte stellte sich als recht schwierig heraus. Die Schrift ist mehr als unleserlich, weil der Knabe und spätere Adoleszent wahrscheinlich sofort und noch in nächtlicher Dunkelheit zum Blei gegriffen und die Papiere schlaftrunken mit ungelenken Zeichen bedeckt hat. Die Schriftzeilen gehen ineinander über, so dass zu vermuten ist, der kleine Martin habe völlig blind aufgezeichnet, was das Hirn fabulierte und der Geist sofort fahren lässt, wenn man es bei Tageslicht niederschreiben will. Aber der Archivarius - hat es für die Nachwelt gerettet.
Nicht alle Traumaufzeichnungen sind datiert. Einige schon. Die Datierungen stammen zum Teil von Luthers eigener Hand, zum Teil sind sie erst viel später hinzugefügt worden. Meistens weisen die späteren Glossen die Handschrift eines Kommentators aus, der sich mit sehr bissigen Bemerkungen über die Träume des jungen Martin hermacht. Es handelt sich dabei um Fr. Dominicus Hetzer. Wir vermuten ihn unter den Angehörigen des Ordens der Jesuiten, denn in den Kommentaren Hetzers finden sich solche Bemerkungen wie: „Das wusste Ignatius auch“. Und: „Was würde Loyola dazu sagen“. Vieles andere mehr noch, das auf die Societas Iesu Hinweise gibt.
Ein dritter Kommentator votiert aus dem 19. Jahrhundert. Dessen Name lautet Jacub Tusmenitzer. Tusmenitzer ist unter Antonia Tosti von 1860 bis 1866 Hilfbibliothekar in den vatikanischen Archiven gewesen. Das ließ sich zwar nicht leicht nachprüfen, denn die Auskunftsfreundlichkeit der vatikanischen Bleikammer ist nach wie vor sehr überschaubar. Aber es gelang schließlich doch. Mag sein, dass Tusmenitzer mit den Geschäften der Obhut über die Luther-Traum-Kiste betraut gewesen ist. Jacub Tusmenitzer ist bekanntlich einer der wesentlich älteren Brüder des namhaften jüdischen Nervenarztes Dr. Sigismund Schlomo Freud, der seinerzeit in Wien von sich Reden machte, als er die Träume von Menschen zuerst als kreative Konstruktionen des in Schlummer versenkten Hirns später als Kompensationen desselben deutete, erforschte und einige Theorien darüber in Umlauf setzte. Wir zitieren die Kommentare in der Regel mit
ComLuth, wenn der Kommentar von Luther selbst stammt.
Mit ComHetz, wenn der Kommentar von dem Jesuiten Fr. Dominicus Hetzer geschrieben ist und mit
ComTus, wenn er von von S. Freuds Bruder Jacub Tusmenitzer stammt.
Im Folgenden also ein erster von allen drei Kommentatoren behandelter Traum, er ist datiert und stammt vom 3. August 1492, exakt jenem Tag, an welchem Christoph Columbus nach Westen in See stach. Luther ist damals neun Jahre alt und besucht die Mansfelder Stadtschule, wo er das Scheiben und Lesen erlernte.
Traum 1:
Ich bin an einem großen Wasser. Mein Vater hat mich da abgesetzt und sagt, ich solle warten, bis er wird sein zurückkehrt vom Kupferberg. Da sitze ich nun und weiß nicht was tun. Ich gehe zu dem großen Wasser. Denn es hat gestern starklichst vom Himmel herab geregnet und Bach und Fluss sind arg angeschwollen. Deshalb mein Vater auch die Mine am Kupferberg muss kontrollieren gehen. In dem Wasser schwimmen einige Teile von Hölzlin und Borckenstücken. Ameisen sind daruffen und krappen herum in herzlicher Not, denn ich mache Wellen in der Pfützen, so wie Gott der HErr auf dem Meer die Schiffe bewegen tut. Die Ameisen fallen samtlich herab und ersaufen innen Pfützen. Da hole ich sie gnädig heruffen und hauche sie an mit meinem Odem. Die Tierlein beginnen erneut zu krappeln. Dann - o weh. Eine Ameise beißt mich in Finger. Schleudere sie weit von mir. Dann ist auch der Vater zurücke. Er betrachtet mich gar streng. (3.AVGUSTII A.D.1492)
Kommentare:
ComLuth: „Es warn drei Schifflein in der Pfützen. Eines stattlicher Gestalt, die antern zween nicht so stattlich! (Die assumptionis Mariae 1492)“
ComHetz: „Da sieht man wieder, was der Mann schon als Knabe hat anrichten wollen, als er wäre der liebe Gott und könnte machen tot und lebendig wie Christus. (12.Decembris 1556)“
ComTus: „Ein Knabe kompensiert seine Ohnmacht dem gestrengen Erzeuger gegenüber, indem er mit kleinen Kreaturen (hier Ameisen) willkürlich umspringt. Erst stößt er sie ins Verderben, dann errettet er dieselben, die vorher seinen Hass fühlen mussten. Die Ameisen beißen den Übeltäter - und zugleich ist auch schon der Vater zurück. Er ist das eigentliche Hassobjekt, was der Knabe aber nicht weiß, sondern in seinem Traum sich als Tatsache versteckt und vermummt zum Bilde formen lässt. (Wien - Jänner 1865)“
Wie wir sicher alle auch, so hat ebenfalls der Knabe Martin Luder (später Luther) schlimm geträumt, offenbar sogar sehr schlimm. Folgen seiner Knabenträume ziehen sich nach Jacub Tusmenitzer durch die gesamte spätere theologische Arbeit und treibt hie und da in Bereiche rätselhafter Absonderlichkeiten, - genauer ausgedrückt - in die Gewächshäuser giftiger Blüten. Offenbar hat der andere Kenner der Lutherkinderträume (Dominicus Hetzer) dieselben gegen die Reformation nutzen wollen - und hat auch noch andere diesem Zwecke dienliche Quellen gekannt oder erschaffen, welche uns heute nicht mehr (oder noch nicht) vorliegen. Zum Beispiel schreibt Hetzer über den „Agnisentraum“ Martins: „Da sieht man es ganz deutlich, - er ist vom Teufel besessen gewesen. Den die Protestanten heute fast als Heiligen verehren, ist der leibhaftige Diener der Leibhaftigen selbst.“ Wir Späteren können indessen über solche Bemerkungen grimmiger Gegenreformatoren nur erfreut lachen - wenn auch zugleich betroffen. Denn das, was unseren Vorfahren allen so ernst zu sein schien, mutet uns Heutigen nicht mehr als Gaukelwerk des Satans an, sondern es sind willkommene weil ergötzliche Grillen in schwerer Zeit. Aber lest selbst:
Traum 2:
„Bin wieder drunten im Bergwerk. Der Vater hat mich geschickt, Körbe mit Erz zu sammeln. Ich steige hinab und sehe zwölf Körbe. In den Körben ist aber kein Metall noch Kupfererz - dafür stehen andere Körbe in den Körben. In ihnen wiederumb andere Körbgen bis in die Unendlichkeit hinaus. Sie werden immer kleiner an Gestalt. Die letzen kleinwintzigen Körbgen sind nicht mehr von denen zu unterscheiden, in denen sie stecken. Ich suche, die Körbe aus den Körben zu tun, - denn der Vater will das Erz gefördert wissen. Aber es gelingt nicht. Die Körbe lassen nicht nach. Ihre Anzahl ist immens. Ich erwache schweißgebadet. Ich schreie: „Die Körbe, die Körbe!“ und schlafe wieder ein. Ein Weyb dringt aus dem dunklen Stollen auf mich ein. Sie sucht mich zu packen, wie Potiphars Weyb den Joseph versuchte. Ich sage ihr ab. Da verwandelt sie sich in den Leibhaftigen und fliegt lachend mit allen Utensilia darvon. Sie sieht ähnlich der Agnisen von … (unleserlich). Womit soll ich nun das Erz heimtragen? Denn die Körbe sind von der Agnisa geraubet worden.“
Wir fügen der Vollständigkeit halber diesem Traum noch den Kommentar Tusmenitzers (älterer Bruder Sigmund Freuds) an und bemerken nebenbei in Richtung des ahnenden Lesers, dass der Wiener Nervenarzt wahrscheinlich sehr viel von seinem Bruder Jacub gelernt haben mag. Ob Siegmund sein System, das die Nervenheilkunst revolutionierte, eigentlich selber erfunden hat, oder ob er "nur" ein paar geniale Gedanken seines älteren Bruders Jacub ausbauen musste? Das wäre zumindest möglich und ist eine interessante Frage!
Kommentare:
ComTus: „Die 12 Körbe sind die Fülle des Ganzen. Und die Körbchen in den Körben sind die Entdeckung, dass das Ganze gar nicht das Ganze ist. Die Unbeholfenheit aber, das Ganze zu entleeren bzw. zu bewältigen, zeigt die Unfähigkeit, in der sich Luther im Blick auf die Gesamtheit seiner noch vor ihm liegenden Lebensaufgabe selbst begegnet. Eine Lösung könnte bei dem Weibe liegen, welches ihm im Stollen unter Tage begegnet. Zugleich aber ist diese Frau (ihr Name lautet Agnisa) eine große Gefahr. Sie nimmt ihm (Martin) die Körbe weg. Er bleibt dann mutterseelenallein, und kann die Aufgabe des Vaters nicht erfüllen. Was wäre geschehen, wenn der juvenale Luther der Verlockung jener Agnisa nicht widerstanden, sondern nachgegeben hätte? Kein Duell mit Buntz, keine Flucht, keine Gewitterlügen, kein Kloster, keine Reformation? Siehe den Traum des sechzehnjährigen Luther vom 12.12.1599 ( Verurteilung der Agnisa zum Feuertode).
Oft schon ist gefragt worden, wie jene Kiste mit den brisanten Traumakten des Knaben Martin Luther in die Archive des Vatikans gekommen sein mag. Dazu hat Jacub Tusmenitzer eine interessante Theorie vorgetragen. Er behauptet, dass diese Kiste der römischen Kurie durch einen gewissen Hieronymus Jobst zugespielt worden sei - und zwar aus Rache. Hieronymus Jobst ist eine historisch tatsächlich verbürgte Person, wenn auch der Bochumer Bergarzt Carl Arnold Kortum (1745–1824) ihren Namen für sein umfangreiches Epos über den Theologiestudenten, Bürgermeister und Volkshelden erfunden und benutzt hat (die Jobsiade) und so der Eindruck entstanden sein mag, es handle sich im Falle unseres Jobsts nur um eine literarische Fiktion des schreibwütigen Satirikers aus dem 18. Jahrhundert. Tusmenitzer führt aber überzeugend aus, dass, um von sich abzulenken, Hieronymus Jobst in der umfangreichen Schilderung des Blasenleidens Luthers zu Tambach sich selbst absichtlich ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt hat - er mischt allerlei falsche Berichte unter die Traum-Tagebücher des vormaligen Knaben Martin und lässt unter dem Vorwand bibliothekarischer Obhutsaktionen dieselben, als nämlich die Pest durch die Straßen Wittenbergs schlich, über die Alpen nach Rom bringen. Um nun später unsere an dieser Stelle weiter unten noch erscheinen sollenden Traumberichte recht einordnen zu können, ist es ratsam, den falschen Bericht des Hieronymus Jobst allen geneigten Forschern (und Forscherinnen) einmal mehr darzubieten.
LEGENDA 2 - Adventuria Tambachiensis
Was war das fürchterlich. Ein paar Tropfen, dann nichts, danach wieder ein paar. Und jetzt versiegte der Strahl gar ganz. Es tat weh. Scheußlich weh. Höllisch weh. Nicht pinkeln können. Der Teufel hole das. Luther zog sich die Hose wieder über den Bauch und verschnürte die Fäden. Aber nun merkte er, es war vielleicht noch noch etwas mehr möglich? Also - erneut runter mit der Hose. Ah - ja! Ein kleiner Schwapp, dann wieder Schluss. Jetzt das bekannte Brennen. Es setzte ein, erst wenig, dann stark - dann unerträglich. Als ob die Harnröhre mit einer ganz feinen Feile ganz langsam ausgekratzt werden würde. Konjunktiv, wenn man es beschreibt mit Worten. Aber Indikativ in Wirklichkeit. Da feilten kleine boshafte Dämonen ihm die Harnröhre. Als er noch jung war hatte er das schon mal gehabt. Da war er bei der Amalia Hunzingerin gelegen, mehrere Tage während der Heuernte, beim Vater zu Hause in den Ferien. Und danach war es ihm auch so dermaßen übel ergangen; die Hunzingerin hatten viele gehabt - und viele dann auch den gelbweißlichen Ausfluss. Es war aber wieder weggegangen - mit Sublimat. Doch das hier … das war was anderes. Es hörte nicht auf. Schon wochenlang litt er. Litt!!!
Er war ja nicht mehr unterwegs in Liebesdingen. Nur noch bei seiner Katharina in Wittenberg. Nein, nein - nicht mehr bei den Hurenweibern unterwegs. Diese Zeiten waren vorbei. Gott sei gelobt. Das Alter hat auch seine Vorzüge. Vierundfünfzig war er anitzo. Aber eben auch Nachteile. Große! Es tat weh. Es tat weh, es tat so weh. Luther hüpfte auf einem Bein in dem kleinen Aborthäuschen des Wirtes der Schenke in Tambach - betete und fluchte zugleich. Weinte und grimmassierte. Verfluchte den Bösen und bat den Guten - und? Das Hüpfen half ein wenig, wenn er es auch mit Atemnot und Husten bezahlen musste. Ja, - der Teufel fordert überall seinen Preis. Wie hieß es doch bei Dante in der Göttlichen Kommödie so schön. Melanchthon hatte ihm das immer wieder vorgetragen. Die Stelle von den Harnleidenden. Und hatte dabei laut gekichert. Denn Philipp konnte pinkeln. Immer. Und wo er wollte.
Nun angelangt im sechsten Kreis der Hölle.
Wir stiegen abwärts und belauschten Schreie
da liegen sie, die von des Leibes Völle
ermattet warten, das man sie befreie.
Die Fresser und die Säufer, Hurenböcke
und was sich noch geschwächt in solcher Reihe.
Sie heul’n in Qualen, halten sich die Röcke
durchtränkt die Kleider von dem eignen Nass
und schlagen sich die aufgereckten Stöcke
und brüllen immerfort ohn’ Unterlass,
„Die Schmerzen ende uns, o großer Gott!”
Doch schreien sie vergeblich, denn das Fass,
aus dem sie rufen, dämpft die Klage. Spott
ist! Keiner hört sie, der wohl helfen wollte -
und so erdröhnt ihr Heulen weiter fort.
Ja bete! Dass du selbst nicht landest dort.
Luther hatte den Dante nie gelesen. Das war nichts für ihn. Latein, was er beherrschte, reichte an jenes des Italieners nicht heran. Melanchthon dagegen - der kannte ganze Passagen sogar auswendig. Und ließ Luther oft spüren, dass er die Gelehrtensprache besser vermochte. Phillip war gesund. Und Martin krank. Er war längst dort gelandet, wo kein Mann hin will. Bei den Blasenleidenden, den Harnverhaltenden, den Nichtpinkelnkönnenden, den Riechenden, den Triefenden, den Steinhabenden, den Tröpflern, den Urämikern. Genauso wie sein Vater schon. Ja, - das vererbt sich!
Februar war. Keine Brennnesseln weit und breit. Und hier unten in Thüringen die Ärzte rar. Und die Kräuterweiblein? Ihnen ist es zumeist schlecht ergangen. Manche waren verbrannt worden. Andere enthauptet, einige gerädert. Mit denen, die umgingen mit Segensspruch und Bannwort, Einreibung, Pillen und Buschen - war nicht gut Kirschenessen, da hatte man sie abgetan auf dem Holzhaufen in der Flamme des Feuers. Aber wie schmerzte diese Unterleibsflamme. „Dass Gott erbarm, dass der Teufel die Schmerzen hole“ wimmerte Luther, verließ das Aborthäuschen und trat hinaus in den Schnee. Die unbarmherzige Kälte empfing ihn. Er trat von einem Fuß auf den anderen - und dann in das Gasthaus - zusammen mit dem Gestank des Abtritts, der seinen Kleidern entströmte, denn dort hatte er sich festgesetzt während der knappen halben Stund Präsenz über dem enormen und fast gefrorenen Fäkalienhaufen unter dem Loch in der Holzplanke, wo man saß, wenn man sitzen musste. Aber der Bratendunst und der Fettwrasen überdeckten bald den Geruch, den er da von draußen mitbrachte. Er setzte sich auf die Ofenbank. O ja - Wärme tat gut. „Habt Ihr Brennnesselsud, Meister Herbergswirt?“ frug er den Besitzer der Absteige. „Nein - aber ich sehe, ihr habt was, was den Sud brauchet.“
Dieser Wirt kannte sich aus. Er mochte das Alter von Luther haben. „Da ist ein kundiges Weib, das Steine massieren kann. Soll ich´s rufen lassen? So wird es bald besser mit euch werden. Sie ist die Katharina, die Schwester vom schwarzen Schmied aus dem Nachbardorf Dietharz.“ Luther nickt resigniert. Wie kann es anders sein. Alle Frauen, mit denen er schicksalshaft zu tun hat, heißen ja Katharina. Die von Stotternheim damals, um derentwillen er den Freund Hieronymus Bunz erstach - freilich ohne es recht zu wollen und nun auch diese Kräutergängerin. Er nickt und kneift die Backen zusammen, denn das hilft auch manchmal ein wenig. Ein Knabe wird losgeschickt und läuft durch den Schnee nach Dietharz. Die dortige Katharina ist schnell geholt und als der Gastraum abends ganz leer ist, heißt sie Luthern sich auf den Tisch zu legen. Es ist dunkel und das Magnificat gebetet. Der Reformator stöhnt vor Schmerzen. „Seid ihr ein zauberisches Weib, Weib?“ fragt er. „Wollt ihr die Schmerzen behalten oder los werden, Mann?“ fragt die ihn? „Treibt eure Kunst - aber nicht gegen Gott und Christo den Herrn“, stöhnt Luther. Sie lässt Lichter genug kommen und nimmt Bienenhonig, den sie in einer heißen Kräuterbrühe löst. Dann wirft sie schäumende Salze in den Bottich, darinnen alles gut umgerührt wird. Dazu singt sie einen Lobgesang auf die heilige Katharina und die Mutter Gottes, ruft die Frauen an, die Margarete und Anna heißen, auch Dorothea. „Jetzt müsst Ihr tapfer sein, Mann - und ich bekomme nachher einen sächsischen Gulden.“ Luther nickt.
Es ist Nacht und das Weib und der Gequälte sind allein im Raum. Die Lichter blacken, der Sud kocht und die Zeit vergeht, obwohl sie still zu stehen scheint. Was das Weib macht, und was sie da anstellt?
Könntet ihr sehen, was der Botenknabe durch eine Spalte der Gardine von außen sieht, wüsstet ihr es. Aber ihr seht es nicht. Keiner sieht es. Nur er. Er kann es aber nicht mehr erzählen, weil er … aber davon später.
Am nächsten Morgen ist Luther gesund. Er hat in dem Gastraum auf einigen Schaf-Fellen geschlafen und muss früh hinaus, denn den Sud, mit dem er massiert worden ist, den hat er zu alledem noch ganz austrinken müssen. Und der will nun raus ... Luther geht, merkwürdig leicht, auf das Abtrittshäuschen und entleert den ganzen Körper - Unmengen von Körperinhalt wechseln die Position. Klatschen von oben nach unten. Plantschen über die vereisten Kotgebirge unter dem Loch der hölzernen Planke. Gelobt sein Gott. Dann gehen auch die Steine ab, - oh das schmerzt noch einmal - aber dann ist alles raus. Alles gut. Es ist so, als ob Luther aus dem verhassten sechsten Kreis der Danteschen Hölle langsam aber sicher in die höher gelegenen Kreise aufsteigt, den Limbus nimmt er mit Leichtigkeit. Und nun, da er sich dem Empyreum nähert, da sieht er die mater gloriosa und ist gerettet.
Wunder. Die Katharina, Schwester des Schmiedes aus Dietharz - sie hat es vermocht. Mit Gottes Hilfe und dem Honig der lieblichen Bienen, den Salzen aus dem Berg und den Kräutern von der Hochwiese. Luther lässt seine Kleider waschen und über dem Herdfeuer trocknen. Dann tritt er die Heimreise an, das heißt: Er will sie antreten. Doch hat er denn die Heilerin bezahlt? Bei Gott - nein, fast vergessen. Der versprochene Gulden. Er läuft zurück in die Schenke und fragt den Wirt nach der Katharina.
„Ach, - die Hex? Die hat man abgeholt. Heute vor der Früh noch, nachdem sie Euch geholfen. Ihr habt so friedlich geschlummert, dank der Fliegenpilze, die sie mit hineinwarf in den Sudkessel. Sie sitzt jetzt sicher schon im Kerker zu Eisenach. Ja, sie rief noch, als der Büttel sie fasste: „Vergelts Gott, ihr Herren, vergelts Gott!“ Der Schmied jedenfalls ist froh, dass er die Wahnsinnige los ist. Sie war ja auch wirklich ein zänkisch Weib und hat allen nur Ärger und Elend bereitet mit ihrem Geheul und der Magie, besonders beim vollen Mond. In die Kirch ist sie nie gegangen und das Sakrament hat sie verschmäht. Freilich, - auf Blase und Harn kannte sie sich gut. Gebt´s mir nur den Gulden, Herr Doctor, ich trag ihn für ein paar Messen zum Pfarrer, wenn ihre Asche auf dem Markt erkaltet sein wird.
Luther steht leichenblass und kann sich nicht rühren. Was soll er nun machen. War sie doch eine Hex, eine Zauberische war sie! Und er, der heilige Mann, hat sich berühren lassen von den Teufelsfingern. Aber gesund geworden ist man! Selber hat er ja recht schlimme Worte geschrieben gegen die Zauberischen. In einer sommerlichen Predigt im Mai 1526, da hatte Luther seinem Herzen endlich Luft gemacht. Das tat ihm nun doch leid. Er beschließt nach Dietharz zu eilen, lässt sich von dem Botenjungen dorthin führen. In der Kutsche sitzen sie nun beide. Luther nahm den Knaben - Jobst heißt der - zu sich auf den Wagen und los geht es. Der Knabe spricht zu Luther: „Mann, ich hab alles gesehen, wie das Weib euch berührt und was sie getan an euch unten herum mit dem Sud und dem Unschlitt der Marder und Fledermäuse. Wenn ich´s sag, dass ihr mit der Teufelsbuhle zusammen waret, stecken sie euch auch ins Loch und ihr müsset brennen, wie Luther sagt." Stille. Dann: "Ich bin ja der Luther, du Esel" ruft der Geheilte. Da erkennt der Knabe ihn und mault: "Eh - ah ja - jetzt sehe ich Euch an Euerm dicken Gesicht und Wanst." Luther zu ihm: "Was hast du gesehen und was hast du den Amtsschergen gesagt, elender Wicht?" Der: "Dass ihr nackt darlaget und sie euch mit der Hand innen Arsch fuhr, mit der anderen das Teil erhaben machte, das niemand nicht anfasst. Dann, wie sie mit dem Sud euch den Bauch massierte und die Egel ansetzte und die Schröpfe. Wie sie dabei immer sang und sprang und wie dann ihr den Sud tranket, der von euerm Leib in die Tücher geflossen, die sie ausgepresst in den Zuber und dann gekocht. Wie ihr langsam ganz ruhig wurdet, wie Ihr euch erbrachet und sie das Erbrochene besprach und zum Fenster naus warf. Dann, wie sie euern …“ - „Genug genug, schreit Luther, wem hast du´s hinterbracht?" Der Knabe Jobst: "Dem Büttel von Dietharz und dem Bruder der Hex." Luther zerrt den Knaben am Ohr, dass er schreit. "Gleich gehst du mit mir dazu und widerrufst alles, bösartigster Schelm. Wer sind deine Eltern?" Er: "Hab keine Eltern, sind zu Grunde gegangen Hungers wegen vorigs Jahr." Luther greift den Knaben hart am Arm, dass er ihm nicht noch entflieht. So fahren sie miteinander.
Der Reformator denkt fieberhaft nach. Zwischenzeitlich fühlt er in sich hinein. Nein, keine Schmerzen mehr - nicht das geringste Zwicken. Alles gut. Die Hex hatte ihn also unsittlich berührt. Aber die Qualen waren dahin. Sie lag nun in eisernen Ketten, er war fit und gesund. Mag sein, dass sie unter der Folter alles erzählt, was sie an ihm getrieben. O weh. Also, - das musste verhindert werden. "Bürschchen! Du sagst jetzt, dass du das alles dir nur ausgedacht hast - um dem Weib zu schaden, dass du für dich selber begehrt hast. Wenn nicht, verklag ich dich selber auf denselben Grund der Satansbuhlschaft. Kennst du die Geschichte von Potiphars Weib? So wird´s Dir dann ergehen."
Der Knabe kennt die Geschichte nicht und Luther schreit sie ihm ins Ohr, derweil der Wagen über den Waldweg und seine Wurzeln nach Dietharz springt. "Was soll ich denn sagen", heult der Knabe, dem das Ohr schon ein bisschen eingerissen ist, denn Luther kann hart zupacken, wenn es drauf ankommt. „Das sagst du: Du sagst, dass du das Weib selber zur Buhlschaft begehrtest, sie dich aber abgewiesen. Da dachtest du dir den schändlichen Plan aus, ihr zum Schaden sie zum Haufen und zur Flamme zu verklagen. Du liefst und schautest zu, wie sie ... wie sie ..." Hier stockte der Reformator. "Wie sie?" heulte der Knabe in großem Schmerz. "Wie sie kam und zum Brunnen in Tambach lief und siebenmal Wasser schöpfte und siebenmal das Kreuz schlug - wie in der Kirche zur Messe. Das Wasser dann kochte und mir heiß zu trinken gab. Und das ist alles. Hast du das verstanden?" Der Knabe ächzt und wiederholt: "Wie sie kam und zum Brunnen in Tambach lief und siebenmal Wasser schöpfte und siebenmal das Kreuz schlug - wie in der Kirche zur Messe. Das Wasser dann kochte und mir heiß zu trinken gab. Und das ist alles." Luther: "Genau!" Nun wieder Jobst: "Aber man wird mich schlagen und prügeln, weil ich gelogen!" Luther lacht: "Recht geschieht dir damit, weil du ..." Hier stockt Luther, weil e r hat ja selber eben gelogen, nicht der Knabe. Und nun kommen langsam aus dem Dunkel weitere Bruchstücke jener heilsamen Nacht in die Erinnerung Martins. Und da war doch noch mehr ... Der Geheilte erschauert. Dann: "Fürchte nichts, Jobst!" sagt er und lässt des Knaben Ohr fahren, greift aber nach der Hand des Buben. Da du keine Eltern und Verwandten hast, nehme ich dich mit nach Wittenberg - und mach was aus dir."
So fahren die beiden dahin. Vor dem Amtsrichter wird die Aussage des Knaben widerrufen. Er gesteht und kommt davon, weil der berühmt und bekannte Luther sich für ihn einsetzt. Dann geht es weiter nach Wittenberg. Jobst wird im Hause Luthers Knecht für Kost und Logis. Später lernt er auch das Lesen und Schreiben.
Soweit das, was die Akte kündet. Hieronymus Jobst hat die in Wittenberg erlernte Kunst dazu benutzt, das Erlebnis vom 22. Februar 1537 peinlichst genau aufzuschreiben und zum Nachteile Luthers auszuschmücken. Ob da nun nur etwas oder gar viel dazu erdacht worden ist, wer will das heute beurteilen? Das Dokument jedenfalls ist auf Wegen, die noch nicht ganz geklärt sind, in die Hände der Gegenreformation gekommen. Man hat es sorgsam aufbewahrt, um eines fernen Tages vielleicht einen Vorteil daraus zu ziehen. Dank sei dem Archivarius.
Falls es sie tatsächlich gab - ob diese Katharina, Schwester eines Grobschmieds aus Dietharz und Kräutergängerin, wieder aus dem Eisenacher Gefängnis frei gekommen ist - davon weiß niemand nichts. Allerdings kommt ihr Name in den Akten deren zum Feuer verurteilten Zauberischen nicht vor. Es kann also sein, dass Luther, welcher versprochen hatte, als erster die Fackel an Hexen und Zauberinnen zu legen, eine einzige aus deren Schar gerettet hätte.
Überlegung zur Legendenbildung (Luther- Hieronymus Buntz)
In der Aktenkiste, deren Inhalt der Archivarius fotografisch sicherte, finden sich zusätzlich zu den Träumen des kleinen Martin Luther einige bitterböse Berichte von der Hand des Gegenreformators Fr. Dominicus Hetzer, welche dieser auf der Basis von zumindest damals kursierenden Tatsachenberichten irgendwelcher aus Kreisen papistischer Ultras stammender Faktenchecker phantasievoll ausgeschmückt haben muss. In Sonderheit handelt es sich dabei erstens um den bis heute nicht ganz aufgeklärten tragischen Fall des Lutherfreundes Hieronymus Buntz (also um dessen gewaltsamen Tod durch Luther) und zweitens um die Umstände des Dahinscheidens des Reformators selbst. Beide Ereignisse verbindet Hetzer auf geniale Weise vermittels einer fiktiven Frauengestalt namens Mechthild Dorothee Almuth Katharina Schildhauerin.
Demnach war es damals am 1. Juli 1505 zu einer Art Raufhändel gekommen. Nichts Besonderes. Studenten, zumal wenn sie Bier getrunken haben und es um Mädchen geht, geraten leicht in hitzigen Streit. So auch die beiden Jurastudenten Hieronymus Buntz und Martin Luder. Der Name Luder soll auch den Anlass für den tödlichen Ausgang der Angelegenheit gegeben haben. Und das kam so.
Die Mechthild Dorothee Almuth Katharina Schildhauerin, eine maßgebliche Jungfer im Erfurter Kneipenmilieu, ist auch von den beiden befreundeten Kommilitonen Buntz und Luder „gar starklichst begehret worden“. Nun war doch am 01. Julii 1505, an einem Samstag in der lieben Sommerzeit, Tanz in Töttleben gewesen. Die Mechthild usw. hatte dem Luder für diese Nacht eine Stunde im Stroh versprochen. „Wenn Martin zu Mechthild in´d Kammer steigt, ist die Ehe geschlossen“ lesen wir später in den pastoralen Überlegungen, die der gewesene Mönch in Wittenberg für seine Schüler im Hörsaal betreffs der Ehe aufschreiben wird. Da hat er übrigens gerade die KVB (Katharina von Bora) geehelicht. Aber von Töttleben aus bis nach Wittenberg ist noch ein langer Weg mit Schlägen gegen sich selbst, mit Blut, Tränen und jeder Menge toter Bauern.
Zurück zu jener verhängnisvollen Nacht: Weil Martin in Töttleben zu viel Bier genossen, verschlief er den Termin mit der Mechthild etc. Schildhauer. An seine Stelle trat der wackere Hieronymus. Jungfer Mechthild war´s egal, sie konnte die zwei Freunde gleich gut leiden. Der fröhliche Wechsel im Stroh hat dann aber zum erbitterten Streit zwischen den beiden Kommilitonen auf dem Fechtboden geführt. Der schon immer zu leichtem Aufbrausen neigende spätere Kirchenzerstörer aus Möhra/Eisleben forderte seinen Freund Hieronymus erst scherzhalber zu einer Art Duell – und dann ist irgendwie Ernst daraus geworden. Der eine warf dies Wort, der andere ein anderes in die Runde. „Luder, Luder …“. Und schon war es passiert. Hieronymus, das bedeutet übersetzt: DER HEILIGE NAME lag verröchelnd in seinem Blute am Boden. Und der Mann mit dem unehrenhaft klingenden Namen LUDER machte sich aus dem Staub, nachdem er sein Rapier erschrocken hatte zu Boden poltern sehen. So zumindest stellt es Dominicus Hetzer genüsslich dar.
Luther floh, aber - wohin soll er sich wenden? Angst vor dem Luder-Vater, den er mit Gottvater zu verwechseln nie wirklich wird aufhören können, Angst vor Rad, Galgen und Kerker trieben den jungen Mann in das Labyrinth einer „Irgendwohinflucht“ - hinaus auf die blühenden Heiden bei Stotternheim. Dort stach man (sicherlich um Schlimmeres zu vermeiden) vom Himmel aus mit Gewitterblitzen nach ihm, aber traf seltsamerweise nicht … Der vom Blitz Verfehlte gelobte schweißüberströmt, mönchisch zu werden. Auf diese Weise war zuerst einmal etwas Zeit gewonnen worden. Aber gewonnene Zeit weitet sich nicht selten zu inhaltlich-thematischen Wiederholungsschleifen aus. Vorsicht mit angeblich gewonnener Zeit! Die hohe Kultur des römischen Katholizismus musste nördlich der Alpen schließlich dran glauben, weil ein Einziger auf Dauer versucht hat, seine hitzigen Fehler kulturell zu schönen, geistlich aufzuwerten und unter liturgischen Übungen zu beschmücken. Der Mörder von Tottleben, der nie Kardinal wurde, sondern aus dem riesigen Vatikanischen Brocken seine eigene Kirche losriss – zumindest einige nicht unwesentliche Teilstücke aus dem wertvollen Großen und Ganzen, und der als Dozent in einer unbedeutenden kotigen Stadt an der Elbe endete, - das ist der andere Luther. Schreibt Hetzer.
Wenn es nicht so abwegig wäre, würden wir dazu bemerken: Gab es Ähnliches nicht schon einmal? Machte es Mose nicht genauso? Schuf dieser durch göttlichen Zufall aus dem Nilwasser gerettete Findling nicht eine wirklich ganz n e u e Sozialität von Monotheisten, indem er das misslungene EinGottExperiment des ägyptischen Pharao Echnaton draußen in der Wüste einfach neu und mit bescheideneren Mitteln mit einem anderen Volk (seinem eigenen) inszenierte? Mit dem Allereinfachsten? Mit ein paar vom Geist in Stein gefrästen Worten und Berichten über Vorträge aus feurigen Sträuchern?
Hetzer wendet sich nach seiner Schilderung oben kurz skizzierter "Buntzgeschichten" dann einem scheinbar ganz anderen Thema zu, nämlich dem Ende und der Beerdigung des Leibes des in Eisleben verschiedenen Erzhäretikers Martin. Er schreibt - wir haben seinen lateinischen Text hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Es ist zu vermuten, dass der missgünstige Dominikus Hetzer diesen Text ursprünglich als Theaterstück konzipiert hatte. Ob es aufgeführt wurde, ist bisher noch nicht ausreichend erforscht worden:
Hetzers Text über das Ableben M.Luthers
Endlich fielen die Erdschollen mit dumpfem Gepolter auf die braunen Sargbretter. Langsam füllte sich die Gruft mit schwarzer ehrlicher Erde. Archimedes hätte seine Freude daran gehabt. Die Verdrängung der Luft aus dem Geiste der Gruft. Als der Hügel aufgeschüttet war, gingen die Leute davon. Krähen kamen geschwebt, setzten sich und schrieen ein paarmal, was Krähen so rufen, wenn alles gesagt ist. Ja, – liebe Protestanten! So endete das sichtbare Leben eures Reformators Martin Luder, oder Luther, wie er sich später nennen würde. Bekannt auch als Dr. Martinus Lutherus. Zweimal latinisiert, damit keiner merkt, dass auch er nur ein Mensch gewesen. Ihr wollt noch mehr wissen, – wie ich Euren ärgerlichen Minen entnehme? Nun gut – hier ist die der Wahrheit bisher abgewandte Seite des Ganzen: Die Krähen, die sich inzwischen von Allerheiligen zu den Türmen von Sankt Marien davon gemacht hatten, waren schon vor dem Fensterlein der Eislebener Sterbekammer Luthers gesessen und hatten den Geistern gelauscht, die sich erbitterte Kämpfe um die Seele des zu verbleichenden Mannes lieferten. Diese Krähen also hatten den Trauerzug bis Wittenberg begleitet, um zu sehen, wie die Sache enden würde.
Luther schrieb. Er schrieb viel. Er schrieb auch bis kurz vor dem Tode - bis kurz vor seinem Tode in Eisleben hat er rastlos geschrieben, auch noch tief in der Nacht. An der Problematik „Vom freien Willen“ hatte er sich noch einmal versuchen wollen. Zwölf Blätter sind auf diese Weise mit klugen Worten gefüllt worden. Die Krähenvögel haben sich diese Blätter jedoch geschnappt und - entführt.
Dominicus Hetzer hat aber offenbar eine Abschrift dieser Blätter in der Kiste mit dem Träumen des beklagenswerten Reformators von irgendwoher erhalten? Er verwahrte sie wohlweislich an unbekanntem Orte auf, so dass lange nichts nach draußen gedrungen ist. Aber wer die Sprache der Vögel versteht, hört, wie diese es heute immer noch lachend erzählen, was Luther am letzten Tag seines Lebens zu erforschen strebte - eine verlässliche Antwort auf die Frage, ob es einen freien Willen gäbe oder ob nicht. Im Folgenden ist wiedergegeben, wie Fr. Dominicus Hetzer einen kurzen Ausblick auf das Ende des Sterbetages Dr. Lutheri gegeben hat und dabei von fast allen heute bekannten Versatzstücken boshaft gegenreformatorischer Verleumdungsnarrative Gebrauch macht:
Luther (zu sich selbst):
Ich schreib es auf. Dann ist es gesagt. Dann kann es mich nicht mehr jucken. Ist es erst gedruckt, kann es nicht mehr drücken. (schreibt)
Krähe 1 (draußen vor dem Fensterglas):
Krah, Krah.
Luther (versteht die Krähe nicht):
Was schwätzest du, dummer Vogel?
Krähe 2 (will helfen):
Kroax, Kroah …
Luther:
Diese Scheißvögel bekoten mir draußen das Fensterbrett. Ich will sie flugs vertreiben (steht auf und stößt sich dabei am Deckenbalken)
Au, verdammtes Viehzeug.
(Er sinkt ohnmächtig zu Boden – und erwacht nach 20 Minuten aus seiner Ohnmacht. Die Krähen sind jetzt zu einem beachtlichen Schwarm angewachsen. Sie pochen an das Fensterglas und geben kluge Kommentare ab, versuchen Luthern aufzumuntern und formulieren ihre wertvollen Hinweise für seinen Text. Luther versteht aber nichts und flucht den Vögeln)
Luther (hochrot):
Fort mit Euch, ihr Brut des papistischen Satans zu Rom. Packt euch, elende, nichtswürdige Aasesser!
Krähen (alle):
Krächtz, Krachtz, Coraxes.
Luther (packt das Tintenfass und schleudert es gegen das Fenster):
Verruchte, ich vertreib euch wie ehedem den Beelzebuben zu Eisenach mit schäumendem Tintensaft.
Luther trifft die Krähen, aber das Fenster geht dabei Millisekunden vorher notgedrungenermaßen zu Bruch. Die sehr kalte Winterluft dringt in die Stube ein und breitet sich darinnen aus – überall langsam gefrierende Tinte und zersplittertes Glas. Luther sinkt auf den Fußboden hinab und sammelt mit bloßen Fingern die Scherben ein. Dabei kommen ihm hebräische Worte auf die Lippen, denn der Zufall hat die Scherben so fallen lassen, das sie aussehen wie hebräische Schriftzeichen. Nun schneidet der Ärmste sich auch noch ... Sein rotes Blut vermischt sich mit dem blauen der Tinte auf den reifüberzogenen glitzernden Glassplittern, deren Anordnung tatsächliche Schrift zu sein scheint. Die Dreieinigkeit von Tinte, Blut und Glasschrift gefriert in der eisigen Luft. Und das gilt, wie man weiß, als Unterschrift.
Zweifellos betritt nun promt der Böse die auskühlende Kammer und es beginnt die letzte Phase des großen Streites um den freien Willen von Luthers armer Seele. Die Krähen greifen natürlich helfend ein, weil das Fenster geöffnet ist, können sie das! – sie plädieren dafür, das Luthers Seele in den Himmel kommt. Der Satan dagegen will Luthers Seele für sich drunten in der Hölle haben. Die Krähen gewinnen schließlich durch eine ziemlich abgefeimte List, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll. Die schwarzen Seelenvögel nehmen also die zwölf Blätter an sich. Die Seele wird bekanntlich transportiert von demjenigen, was der Mensch als Letztes aufgeschrieben hat. Das ist seine Seele – jetzt haben wir etwas sehr Wichtiges verraten – und die Krähen fliegen gemächlich durch die klare Februarluft über die Kupferberge des Mansfelder Landes in Richtung Wittenberg, wo die Weinstöcke auf den Frühling harren. Der Teufel beschäftigt sich inzwischen mit dem an ihn verfallenen Luder. Er reißt die gefalteten Hände wieder auseinander und krümmt sie zu einer Form, die aussieht, als würde Luther auch im Tode immer noch weiterschreiben (sola scriptura). Dieses zu Herzen gehende Bild hinterlässt er uns, bevor es zurück geht in die Höllenspelunke.
Wie weiter? Es stürzen Luthers Genossen in die Sterbekammer (sie haben irgendetwas rumpeln hören), sehen den entgeisteten Körper friedlich im Bette ruhen – und staunen. In alle Welt geben sie nun Bescheid vom allerseligsten Abscheiden des geliebten Gefährten. Und machen Abdrücke von Gesicht und Händen. Arbeitende Hände eines schreibenden Großgeistes.
Auf der anderen Seite des garstigen Grabens fallen sich nun Dr. Luder und Hieronymus Buntz („ich bin schon lang allhier“) in die Arme. „O Mann, o Mann“ stönen sie beide – und lachen. In diesem Augenblick hören sie eine weibliche Stimme hinter sich rufen: „Gerade noch mal gut gegangen“. Sie drehen sich um – und werden der Mechthild Dorothee Almuth Katharina Schildhauerin ansichtig. Denn der Ort, an dem sie sich nun befinden ist mitnichten der Himmel. Sondern der Läuterungsort des Fegfeuers …
Traum 3:
„Ich dringe aus der Erden hervor. Es ist das gewiss die Auferstehung, denn das Ende der Welt findet eben itzt statt. Alle armen Seelen erhalten ein Papyr, darauf steht der Ablaßz und die Zahl der Strafen. Die Zettlin werden von den Seelen mit Jammer und Klagen betrachtet. Da nun die Tränentropfen auf diese Papiryi fallen, verschwinden die Zahlen, werden ausgelöschet ganz - und das Papyr wird rein wie lauterer Schnee. Alles Papyr wird von einem großen Engel eingesammlet und in Feuerflammen geworfen. Ein groß Windsbraut erhebt sich aus dem Schlote und darin steigen die Seelen hurtig wirblend auf zu Gottes goldenem Stuhl. Von dorther dringt viel Gesangs und Lachen. Sie dürfen alle eingehen zur Hymelischen Freudenfeier. Nur ich nicht. Denn ich kann nit weinen - und meine Zahl ist eine so große mit Ziffren, dass darüber hinaus keine gezieferterere mehr ausgezählet werden kann." Da erwache ich mit lautem Geschrey und Schweiß. Und schlafe wieder ein. Und träume zum zweiten ...
Traum 4:
Steig als nackender Knab hinab auf einer zonderbaren Leiter in den Hühnerstall. Daselbst keine Hühner find ich vor - nur plappernde Drachen. Sie wenden ihre Rotaeugelein zu mir und zählen Zahlen - ohne Zahl soviel. Einer von deren Schar weist mir schwarze Eier her, aus denen feine Laute zu vernehmen sind. Es klingt wie Gesang von denen Mönchen oder Nonnen aus einer Kapellen oder alten Kirchen. Ich nehme eines dieser Eier her. Darauf ist die Zahl, die keiner nicht weiß. Man kann sie nicht erkennen. Das Ei verwandelt sich flugs in meiner Hand - zu glühend feinem Golde. Ich lasse das flammende Ei erschreckt zur Erde fallen. Aber eine Stimme sagt: „Martin, Martin - das ist das Weltenei. Und du bist der Welt entmenscht. Brüte, brüte, bis nichts mehr gebrütet werden kann …“ In diesem Augenblick weckt mich meine Mutter und der Vater heißt mich harsch, mit ihm zu fahren hinab wieder in das grewlich Bergwerk.
ComLuth:
„Gott ist der Traum, über den hinaus nichts Unverstöndlichers geträumt werden kann“
ComHetz:
Der Ketzer kannte also den Bischof Anselm von Canterbury und dessen ontologisches Argument. Hat es aber nicht anwenden können ...
ComTus:
„Unter dem enormen Druck, mit dessen Hilfe das Höchste zu denken erzwungen werden soll, - gemeint ist jenes Sonderbarste, über das hinaus Sonderbareres nicht gedacht werden kann, - musste zwangsweise auch irgendwann der Gedanke an etwas Fabelhaftes entstehen. Fast wäre das aber schief gelaufen! Schließlich wurde eine Saug-Glocke angesetzt, eine Beiß-Zange ebenfalls. Dann war es soweit. Der Neuankömmling in der Welt aller aus dem Bereich des reinen Geistes geborenen Dinge ist etwas ganz Besonderes geworden, - kein Geringerer als Gott entstand auf der Streckbank des Denkens.
Leberecht schloss mit einer belehrenden Conclusion: Die Frommen werden nun protestieren, und die Spötter einmal mehr lachen. Wir Ernsthaften jedoch fragen uns, wie ist das möglich? Hier die Erklärung: Stellen wir uns ein Kartenspiel vor. Stellen wir uns Spieler vor, die diese Karten nutzen. Stellen wir uns Regeln vor, nach denen das Spiel funktioniert. Stellen wir uns vor, das Spiel wird tausend Jahre lang ununterbrochen gespielt. Stellen wir uns vor, dass immer einer verliert - aber nicht verlieren will. Deshalb wird kurz vor dem Schluss jedes Spiels die "Besondere Karte" ins Spiel gebracht. Sie kann die Regeln verändern, sogar brechen. Die neue Karte macht, dass man gewinnt, wenn man sie hat. Nun ist es aber so, dass gerade begehrte besondere Kartenblatt aus dem Spiel verloren gegangen ist. Man weiß noch vage, dass es da gewesen sein könnte - aber man weiß auch, dass es wahrscheinlich mit Sicherheit nie wieder wirklich auftauchen wird. Und genau so etwas Ähnliches ist der monotheistische Gott, - bildlich gesprochen. Der Joker. Die eine Karte, die alles ändert. Immer gewinnt, weil sie verloren ging.“
Beifall brandete auf, alle erhoben sich aus dem Sande, allwo sie lange gesessen hatten und riefen Oh und Ah. Sann setzten sie sich wieder und riefen: "Weiter, weiter!" Und Leberecht tat ihnen gern den Gefallen. Er kannte diese Texte in und auswendig, denn er hatte sie selber verfasst - in einer Zeit, in der es sehr um Luther ging - weil man überall im deutschen Lande des 500. Jahrestages des Thesenanschlags an der Pforte der Wittenberger Schlosskirche Allerheiligen gedacht hatte.
LEGENDEN VON DEN KATHARINEN
In dem geheimnisvollen Karton mit Manuskripten und vor allem den Originalzetteln der Kinderträume des Reformators Martin Luther findet sich auch der sogenannte „Traum von der Agnisa.” Luther selbst hat diesen sehr kurzen Traum nicht kommentiert. Tusmenitzer macht drei große Fragezeigen an den Rand. Aber Hetzer hat dieses kurze Gesicht der Nacht mit einem offenbar von seiner eigenen Feder stammenden Pamphlet zusammengeheftet und beides mit einem Etikett versehen, auf dem folgende Aufschrift prangt: „NOCH NICHT VOLLENDET. Weitere Nachforschungen zu Katharina von Rahnsdorf liegen bei dem Pastor Tiburtius Mutz in B. Der will sie nicht herausgeben!!!” Wir nun offenbaren das unvollendete Dokument Dominicus Hetzers in zwei Teilen kurz vor dem Reformationstag 2017. Nicht ohne dabei unsere deutliche Vermutung kundzugeben, dass es sich im Falle aller dieser Schilderungen um die Einfädelung einer den Reformator denunzieren sollenden argen Fake-News-Story handelt.
1. ARS AMATORIA SPIRTUALIS
Luthern, der - wie ihr schon wisst - geheilt wurde mit dem Wasser des Brunnens in Tambach - aber eigentlich durch das kundige Walten einer zauberischen Hex, war im Februar 1536 das Heil der Gesundung zuteil geworden. Und da beschloss er, doch noch einmal nach Rahnsdorf hinaus zu fahren. Und der dortigen Marie Katharina seinen Dank abzustatten. Für den Abgang der Steine! Als er aber wieder in Wittenberg angekommen ist, vergisst er dieses Gelübte und seinen Vorsatz, die Nichte des inzwischen längst verstorbenen Johann Schall und die Halbschwester des jetzigen Pfarrers zu Rahnsdorf, Valentin Schall, zu besuchen. Ja, - er wollte sich irgendwie aussprechen mit ihr - über seine damalige unbändige Verliebtheit. Wollte reden, - nur reden und sie (die nun sicher schon verständiger) noch einmal betrachten. Er wollte mit dieser Rahnsdorfer Katharina besprechen, was er mit der Tambach-Dietharzer nicht mehr besprechen konnte, weil sich deen Schicksal im Dunkel der Geschichte verloren hat. Folgende Fragen wären zu klären gewesen: „Was kann das sein? Warum ist das so - und so weiter, und der ganze Kram.” Und besonders über die ferne Schwester im Thüringischen wollte er mit ihr reden, die ihn von den Schmerzen befreit und die er - hoffentlich - vor dem Scheiterhaufen bewahrt hat. Wohl machte er in den nächsten Wochen einige halbherzige Anläufe, die Reise nach Rahnsdorf zu planen, - dann lässt er es aber doch wieder sein. So ist er eben, der große Wortgewaltige und Schöpfer deutscher Sprach und Zunge. Mit der Reformation hat er ja genug um die Ohren - bis hin zum Tinnitus.
Aber jetzt kommt es. Jetzt kommt im Jahr 1538, als noch einmal die Pest durch Wittenberg schleicht, Herr Käthe ins Spiel, das ist Katharina von Bora, wie Luther seine Frau oft nennt, was man nicht fein finden muss. Eines Tages betritt sie also einigermaßen gedankenverloren das eheliche Gemach. Der Gatte schlummert bereits auf dem Bett. Hingestreckt ist er, und es ist schon spät. Katharina war noch einmal nach den Hühnern sehen. Da kommt sie auf dem Rückweg durchs Haus an einem der zahlreichen Bücherregale vorbei und greift sich, wie der Zufall es will, ein Buch heraus - und schlägt es auf. Irgendwo in der Mitte - wahllos. Sie ist müde, sie ist aber nicht willig, jetzt gleich neben dem schnaufenden Martin zu warten, bis auch sie endlich einschläft. Nimmt das Buch und setzt sich beim Lampenschein in die Ecke auf ein paar Felle. "Ovidus - Ars Amatoria". Melanchthon war es, der dieses antike Zeug immer ins Haus schleppte. Liebeskram in Schriftform. Sie blättert planlos das Büchlein hin und her, geht ein wenig in den Kapiteln spazieren. Sonderbaren Kram hat dieser vom Kaiser Verbannte Vergil in Constanta damals auf´s Papier gebracht. Etwa, wo kann ein Mann zur Buhlschaft kommen? Wie kann ein Mann der Weiber Liebe gewinnen? Wie kann ein Mann sich seiner Buhlin wacker enthalten? Und lauter solche Sachen. Katharina blättert und liest, lacht und schüttelt den Kopf. "Was die Männer über uns meinen, - es ist ja absurd", sagt sie halblaut.
Dann stutzt sie. Ein Zettelchen fällt heraus, in jenem Kapitel hat es gesteckt, wo man von der Verschwiegenheit handelt (liber II 621-640) „Früher, als noch kein Ziegel erfunden, / der uns vor Regen beschützt / und im Sommer vor Sonne, / als wir unter Eichen noch schliefen / und Eicheln noch fraßen, / suchten zum Lieben wir gerne den Wald / auf und schummrige Höhlen“. Und wie sie liest und sinnt, - da gewahrt sie, dass in der Handschrift ihres Gatten (die kennt sie genau!) eine Glosse an den Rand gesetzt ist. „RAHNSDORF!!!“ stehet da, mit drei Ausrufungszeichen. Rahnsdorf? Ist das nicht dieser Flecken hinter Zahna, wo ein alberner Zögling Melanchthons predigt, der eine ledige Jungfer zur Schwester hat, die sonderbar im Kopfe ist und ihm den Haushalt zu führen hat und ebenfalls auf den Namen Katharina hören muss, so wie sie selber auch? Was ist mit diesem Rahnsdorf? Sie geht behutsam in das eheliche Gemach, hat das Buch noch in der Hand und sieht ihren Mann hingestreckt auf das Lager. Da liegt er, und kann nicht anders. Er bewegt die Lippen im Schlaf. Sie pirscht dicht heran und glaubt zu hören, dass er immer wieder einen Namen flüstert. Immer wieder dasselbe Wort. Aber Gott Lob! Es ist ja der ihrige! Katharina. Wie ist sie froh.
Sollte man nicht einmal gemeinsam in diesen Wald bei Rahnsdorf reisen? An einem Sonntage vielleicht, - nach Ostern. Gleich morgen wird sie diesen Vorschlag machen.
2. Die Fahrt zum Michelsberg
Katharina greift schon mal nach den Zügeln. Klar, das macht sie. Luther sitzt hinten auf dem Wagen und schreibt irgendwelches Zeug an seinen Fürsten. Es geht um Besitz und Ausgleich. Der ewige Streit zwischen denen, die noch nicht alles verloren haben. Da soll der kluge Martin irgendwie zu irgendwelches Vorteil schlichten helfen. Sie, seine rechtmäßig angetraute Frau, sitzt vorn und lenkt die Kutsche, ein Pferdchen zieht wacker den alten Wagen.
Es soll, so hat sie dem Manne gesagt, nach dem Michelsberg gehen, einer kleinen Erhebung in der Kropstädter Forstung - heutigentags Vorfläming genannt. Auf diesem Berglein steht eine Kapelle, die dem heiligen Michael geweiht ist, der mit den Drachen kämpft und sie besiegt. Das ist das Gute dran, dass der immer gewinnt. Wie viele haben sich den Drachen schon gestellt - und haben elendiglich verloren. Elendiglich ist ein schönes Wort. Katharina braucht es gern. Aber auf der Höhe von Kropstädt, wo sie nach links hätten einbiegen müssen, lenkt sie nach rechts, wo es über Wergzahna nach Rahnsdorf geht. Es ist am Freitag vor Kleinostern 1538. Luther ist so beschäftigt mit seinem Denk- und Schreibkram, dass er die Änderung der Route gar nicht bemerkt. Ein herrlicher Tag, die Sonne scheint und in den Büschen üben ihr Lied die neuermunterten Vögel.
Katharina lässt in ihrem Kopf ein paar Planspiele und verschiedene Varianten von dem, was heute noch geschehen könnte, ablaufen. Von hinten erschallt die ungeduldige Frage: „Käthe, sind wir bald da?“ - Sie ruft in den Planwagen: „Ja, gleich sind wir da. Ich sehe das Kirchlein schon.“ Gewiss, eines Kirchturms wird man ansichtig. Es ist aber nicht der Dachreiter der Michaelsbergkapelle, sondern der Turm von Sankt Johannes in Rahnsdorf. Hier waltet und herrschet als patron der Täufer, der die Menschen packt und in die wirbelnden Fluten des Jordan tunkt, damit sie Buße tun und zugleich ein unvergessliches Zeichen ihrer Neugeburt deutlichst eingeprägt bekommen, - das Ringen nach Atem und das Wiederauftauchen aus den Ersticken androhenden Todesfluten.
Da, - jetzt! Luther scheint nun doch etwas zu bemerken. Er ruft „Wo sind wir hier - das ist nit der rechte Weg. Umkehr, Umkehr.“ Aber es schwingt die von Bora ihre Peitsche, dass es knallt und schallt. Die letzten hundert Meter galoppiert die alte Mähre direkt bis vor das Pfarrhaus von Valentin Schall, Pfarrer zu Rahnsdorf und Bruder der Marie Katharina, seiner dato unvermählten Schwester, welche als Haushälterin die besten Jahre ihres Lebens hier draußen verplempert und für nichts drangibt. Die Kutsche steht jetzt auf dem Hof. Katharina springt locker herab aufs Kopfsteinpflaster. Martin hat nun endgültig bemerkt, wohin ihn die Fahrt gebracht hat und tut weiter so, als ob er hochbeschäftigt sei.
Nichts regt sich, alles ist still. Nur Schwärme von grauen Wildgänsen, die dieser Tage sich von den Feldern her sammelten und daselbst Rast auf ihrer langen Reise machten, ziehen rufend über den Häusern von Rahnsdorf dahin. Bald kommt der Pfarrer auf den Hof gelaufen und freut sich über den Besuch aus der Stadt. Nein, wie er sich tief vor dem Wagen neigt, denn er hat Katharina von Bora erkannt und weiß, dass der Bruder Martin sicher auch auf dem Wagen hockt und wahrscheinlich für die Reformation irgendwas Textliches ausarbeitet. „Laudetur Jesus Christus“ schallt es aus dem Munde dessen, dessen Name Schall lautet. „In saeculo saeculorum“ antwortet die Lutherin und zieht mit einem Ruck die Plane auf. Da sehen wir Luther, wie er mit feuerrotem Kopf dasitzt. Er ist in Rahnsdorf. Weiß es und sagt nichts.
Und da zeigt sich für die Wagenlenkerin, dass irgendwie etwas faul ist und der Klärung bedarf. Luther sagt kein Wort vom Michelsberg, der nicht da ist. Und nichts bemerkt er zu Rahnsdorf. Nichts fragt er, warum man hier sei und nicht wo anders. Dabei hatte es früh am Tisch beim Morgenmahl einen Streit gegeben. Sie wollte einmal hinaus ins Freie - er wollte in der Stube hocken bleiben. Erst nachdem sie ihm allerherzlichst die Reise nach dem Berg abgebettelt und er sich ausbedungen hatte, Akten mit sich führen zu dürfen, erst dann war es überhaupt zu der Fahrt überhaupt gekommen!
Valentin Schall meint erfreut, er würde gleich seine Schwester rufen. Da ruft aber Luther eilig vom Wagen herab: „Nein, nein, wir bleiben ja nit hier, sondern fahren zum Michelsberg!“ Ja“, - sagt seine Katharina. „Und Euch lieber Bruder Schall samt Eurer Schwester wollen wir mitnehmen. Heute ist ein schöner Tag. Es wird ein Ausflug zu viert! Schlagt uns die Bitte nicht ab. Wir haben uns nicht anmelden lassen, denn es sollte eine Überraschung sein!“ Die Marie Katharina wird also doch gerufen. Aber sie ist schon von allein gekommen. Errötet auch nicht vor dem alten gelehrten Manne in der Kutsche und seinem gönnerischen Ehegespons, das sie, die kleine Marie Katharina, Haushälterin eines hier draußen in der Unbedeutsamkeit versteckten Landgeistlichen zur Frühlingsfahrt einlädt. „Ei, Gevatterin von Bora und geehrte Lutherin, ich bin gleich reisefertig!“ ruft sie, rafft ein paar Dinge in einen Korb und nun werden die Sitze verteilt. Vorne auf dem Bock sitzt Valentin, der, so zeigt sich bald, ein kundiger Kutschierer ist. Und hinten im Wagen sitzen auf der einzig vorhandenen Bank dicht aneinander geschmiegt drei Personen. Es ist wenig Raum dort. Zwei Katharinen zu beiden Seiten, Luther aber in der Mitte.
Heidi, heido - los geht die Fahrt über die Heide. Fort aus Rahnsdorf, durch das träge die Zahna sich nach der gleichnamigen Stadt immer mehr verbreiternd dahinfließt. Und hin zum Michelsberg führt der Weg, wo der Erzengel die Teufel besiegt, und wo die Quelle jenes Flüsschens entspringt, das der Superintendentur im Ackerbürgerstädtchen Zahna ihren Namen verleiht bis an den heutigen Tag. Aber was war es denn um Luther und diese beiden Weiber mit Namen Katharina, zwischen denen er nun leidet wie Christus damals am Kreuz zwischen den beiden Schächern? Das sei nunmehr dem interessierten Leser dargeboten:
3. LEGENDA VON DER VISITATION UND WIE ALLES BEGONNEN HATTE
Als Martin Luther am 15.8.1530 mit Justus Jonas und Caspar Schultze noch einmal die Superintendentur in Zahna besuchte, führt der Weg die Kontrolleure des Neuen Weges erneut auch bis hinaus nach Rahnsdorf – an diese schöne und einigermaßen fette Pfründe nördlich von Zahna gegen die Grenze zum heutigen Brandenburg hin gelegen. Man war in Zahna irgendwie doch recht schnell fertig geworden, alles lag dort zum Besten. Schon 1528 war man hier gewesen, es gab nur noch ein paar offene Angelegenheiten zu observieren. In den zwei vergangenen Jahren hatte sich nichts geändert: Gelehrte Pfarrherren, intakte Gebäude und fleißige Lehrer, willige Kindlein und fromme Ackerbauern, keusche Weiber – sowohl jung als auch alt. Der Segen Gottes ruhte auf dem Städtchen. Nachdem die Reformatoren im Ratskeller ausreichend gespeist hatten, entschloss man sich, den Weg nach Rahnsdorf noch heute zu nehmen, eine halbe Stunde mit der Kutsche. Gesagt, getan. Man fuhr los, nicht beachtend, dass ein Gewölk aufzog am himmlischen Gezelt, – und als heftiges Unwetter Pferd und Mann mitten auf dem Wege überraschte. Mit Müh und Not und Peitschenknall erreichte man den Pfarrhof des alten Magisters Johann Schall und seines Neffen Valentin, einem Melanchthonverehrer, der seit 1528 die Pfarrstelle führte – und spannte ab. Rettete sich ins Pfarrhaus, während draußen Blitzsturm und Donner niedergingen – fast so wie ehedem zu Stotternheim.
Als der Rauch sich dann verzog, schaute man hinaus und sieht die Linden stehen in nebeldampfender Pracht; sie umsäumen das liebliche Haus. Der alte Schall lädt die Brüder auf einen Trunk hinaus in den Hof ein. Dort legt er auch schon mal die Kirchenbücher vor, die er mit eigener Hand alle selber führt, mit fein säuberlicher Schrift täglich einschreibt. Tag und Uhrzeit und Planetenstand bei den Taufen, denn er ist ein Verehrer der astrologischen Kunst und darin Gefolgsmann einer Marotte Melanchthons, welche Luther nicht sonderlich schätzt. Ursachen und Begebenheiten der hiesigen Tode trägt er ein zusammen mit medizinischen Bemerkungen, ganz wie es bei gelehrten Pfarrern dann lange noch Sitte sein wird – bis auch das als nicht mehr schätzenswert von den Verwaltungsbütteln der Reformation und ihren Epigonen erst abgeschafft und dann sogar verboten wird.
Es ist Freitag, der 15. August 1530 – und die Uhr zeigt ein Viertel nach Vier. Schall der Ältere hat eine Sonnenuhr an der Südseite seiner Scheune anbringen lassen, weil er mit der Zeit lebt und von der Zeit begeistert ist. Er will eben dem Eislebener Wittenberger in ein philosophisches Gespräch über die Zeit verwickeln, da geht das Türlein im Tor des Stallgebäudes urplötzlich auf und Katharina, die Nichte des alten Rahnsdorfer Lateinlehrers und Halbschwester des jetzigen Pfarrers Valentin Schall - sie tritt heraus, hat ihre Röcke geschürzt und trägt im Tuch Körner für die Hühner, Enten – und den Hahn. Ihre Schenkel sind zwar nicht sichtbar, aber die Waden – die hohen Herren aus Wittenberg sehen alles ganz genau. Sie, die Körnerträgerin, bemerkt das und, erschrocken über die unverhoffte Begegnung mit den gelehrichten Gästen aus der Stadt, lässt sie ihre Röcke fallen – so dass dabei Körner und Blumen unweigerlich auf den Boden purzeln. Alsbald kommen Hühner, Enten – und Hahn – herbeigerannt und machen sich über die leckere Speise her. Und sie, Katharina, steht unschlüssig inmitten der pickenden Schar. Ihr schwarzes Haar schimmert in der Nachmittagssonne. Denn das Gewitter hat sich inzwischen völlig verzogen und über der Scheune erglänzt der göttliche Regenbogen. Die Nichte des Lehrers und Schwester des Pfarrers rafft ihren Kräuterbuschen auf, der auch mit zu Boden geglitten ist, und dann schreitet sie barfuß über das Hofpflaster zum Wohnhaus, dicht an den Herren vorbei wie eine Königin.
Luther frägt, indem sie vorübergeht, „Schönes Maidlin, was ist Euer Name, bei dem Ihr getauft seid?“ Sie: „Marie Katharina, wie meine selige Mutter!“ Artig, denkt Caspar Schultze – und schaut auf Luther, der zu erröten scheint. Der Reformator denkt: „Sie wird leicht bei 20 Jahren zählen“. Er selbst ist bereits 47.
Heute ist Mariae Himmelfahrt, was man in Wittenberg nicht mehr so recht feiert wie früher. Hier draußen auf dem Lande dagegen noch mehr - aber auch nicht mehr mit ganz gutem Gewissen – seit die Visitationen angefangen haben. Freilich - die Kräuter weiht man schon! Heimlich. Denn das Vieh soll am Leben bleiben - trotz der Reformation, die alles Heilige auf die Gasse geworfen hat. Maria ist abgesetzt worden. Christus regiert allein mit dem Vater und dem Heiligen Geist.
Man selbst sitzt im Garten und man hört dem eifrig vortragenden Schall nur mit halbem Ohr zu, denn Caspar Schultze will nach Hause, er ist 1530 bereits ein alter kränkelnder Mann. Und Justus Jonas hat in Wittenberg noch einige Sachen auf dem Pult liegen – er denkt an seine Schrift „Das siebend capitel Danielis von des Türcken Gotteslesterung und schrecklicher Morderey“, die er in zweiter Auflage bei Hans Lufft drucken lassen will. Da sind einige Stellen, wo er es den Mohammetisten noch besser zeigen will, wie der trinitarische Gott dem unitarischen doch bei Weitem vorzuziehen wäre. Darum kann er sich nicht recht auf die Auslassungen Schalls konzentrieren, der eben darzulegen versucht, wie doch heute am Freitag, Mariae Himmelfahrt (ein alter abgetaner papistischer Feiertag, gewiss, gewiss …) eben jetzt, da bei den Juden der Sabbath beginnt, die liebe Venus, der Morgenstern, mit dem hurtigen Merkur, dem anderen Morgenstern, zusammen in der Jungfrau am Himmel stehen im achten Felde. Und unsere liebe Frau die Kräuter segnet, die dem Viehe und dem Feld Gutes tun, auch Scheuer und Hütte beschirmen.
Luther erzürnt und denkt: „Da wird man eingreifen müssen bei solchem Heidentum. Wo das Heidentum blosses Heidentum ist, ist’s nit so arg. Aber wo es sich verbündet mit Medizin, Sternenschau und Gelehrsamkeit, wird´s zur Seuchen“. Aber dann ist er gleich schon wieder mit seinen Gedanken der Marie Katharinan hinterher, die im Haus verschwunden ist und sich dort zu schaffen macht.
Ja, - es ist wahr! Der Reformator, der doch verehelicht ist mit Frau Käthe und schon bei drei Kindern mit ihr hat, kann sich das Bildnis der Schall-Tochter nicht aus dem Hirn schlagen. Dieses Bild sitzt fest, wie der Firnis auf der Farbe, so pflegt Lukas Cranach immer zu sagen. Das lieblich schimmernde Haar unterm Regenbogen. Die emsige Schar der Geflügelten, die die Körner aus den Mariähimmelfahrtsblüten aufpicken und die Waden der Marie Katharina.
„Wie alt ist denn Euers seligen Bruders Tochter, Magister Schall?“ fragt der Doktor den Alten. „In zehn Tagen wird sie uns bei 2o Jahr“ sagt der. „Also ist sie am 25.08.1510 geboren“, denkt Luther, – so schnell hat er das im Kopf ausgerechnet.
Dann befiehlt er, die Pferde anzuspannen. Nach zwei Stunden ist man in Wittenberg zurück. Die Schatten an der Rahnsdorfer Sonnenuhr sind inzwischen enorm lang, denn die Sonne geht eben unter und der Mond wird in zwei Tagen voll sein. In Wittenberg lässt sich der alte Erdtrabant über den Elbwiesen schon sehen. Martin Luther schaut aus dem ehemaligen Schwarzen Kloster nach Süden, wo das Gestirn der Nacht sich langsam aber immer mehr zu erheben beginnt. Dann geht er zu Bett, aber das Bildnis der Tochter Schalls lässt ihn im Traum nicht los. Es hat sich eingebrannt. Die Blumen, die Hühner, der Regenbogen, die Haut und das Haar. Den nächsten Tag – ein Samstag – sitzt Luther an der Predigt – versucht seine Gedanken zu ordnen. Ihm fällt aber nichts ein. Nur das Bildnis ist da. Mehr nicht – und damit alles.
NOCHMALIGE NACHSCHAU IN RAHNSDORF
Wir wollen nicht beschreiben, wie es dem Reformator in den Tagen bis zum 25. August erging. Oder doch? Er wandert halt ruhelos umher. Er pflückt Blumen. „Martin, was tust Du – da Du Blumen pflückst und mir schenkst?“ fragt Käthe. „Das hast Du noch nie getan!“ Er: „So tue ich’s itzt!“ Dann sucht und findet man doch noch einen Vorwand, um nach Rahnsdorf fahren zu müssen, exakt zum Tag, als die Marie grad Geburtstag feiert. Was soll Martin der Katharina schenken … Ach - da hat man noch ein par Druckseiten von einem Pflanzenbüchlein. „Ueber die Arzeneien – und wie ist Christus unser lieber HERRE der wahrhaftig Apotheker. Fürgestellt von Karl Philipp Mohr aus Sindelfingen. Komet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch Erquickung schaffen.“
Luther wickelt die Seiten in ein buntes Papier, umwindet die Rolle mit einem Band. Dann lässt er anspannen und fährt hinaus in die immer noch hochsommerliche Natur. Er wählt den Weg über Euper, das Gut Abtsdorf, durch Woltersdorf rollt die Kutsche und streift Zahna, ehe sie in Rahnsdorf ankommen.
Seinem Kommen hatte Luther einen formellen Brief vorausgeschickt. Schreibt: „Lieber ehrenfester und günstig Gelehrter, – Magister Schall. Noch einmal möcht ich Euch meinen Besuch ankündigen, denn in dem einen Kirchenbuche sah ich kürzlich die Eintragung über Melchior Beelitzens Hof, wie darauf ettlich Schulden liegen, abzutragen bei der Stadtkirchen allhie zu Vittenberg. Da will ich mich einsetzen für Melchior Beelitzen beim Rat. Muss aber noch mal genau und selber lesen. Stellet mit doch das Büchlein bereit.
D.M.Luther zu Vittenberg“
Der alte Schall hat mit fliegenden Händen alles vorbereitet, will keinen Fehler sich nachweisen lassen, fürchtet er doch seit Jahren schon seine Anklagung wegen der persönlich deutlichen Interessen an Sonne, Mond und Sternen – und seines vorgerückten Alters wegen. Auch Marie Katharina ist wieder da. Sie trägt in den drei Stunden, in denen Luther scheinbar das Büchlein vor und zurück studiert, frische Semmeln, Tee, Bier und Milch von der Ziege auf, diese Milch hat sie mit Honig gesüsst und Minze hineingetan.
Luther verknallt sich an diesem Nachmittag unsterblich in das Geburtstagskind. Er hat ihr das Apothekerbüchlein von Christus als dem rechten Arzt offeriert. „Hier, Jungfer Schallin, ein kleines Geschenk von uns aus Vittenberg!“ Er hüstelt verlegen. „Diese Kostbarkeit!“ ruft der Vater! „Ach nein!“ sagt Luther, „Wir haben es zu Vittenberg zween Mal.“ Was nicht stimmt, er hat es einfach aus der Bibliothek – entfernt. Du sollst nicht stehlen. Was ist das … Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Aber Luther hat schon am Sonntag einen Ablass in den gemeinen Kasten getan. „Pecca forte - sed crede fortiter“, sagt er sich. Und dieser Satz wird überliefert werden bis in späteste protestantische Tage hinaus. „Ach, Gott, vom Himmel sieh darein. Und habe doch ein Einsehen, lass die Zeit stille stehen.“ Aber nun schaut der Kutscher herein. „Es wird bald dunkel und die Pferde müssen heim, Herr Doktor. Herr Luther, es ziehen Wolken auf. Wir müssen gen Vittenberg fahren!“
Luther verabschiedet sich. Schall, der alte und der junge nicken beide und die Marie Katharina dankt. Sie reicht ihm die Hand, er nimmt sie und drückt sie ein wenig. O weh, – ein Duft von Schafwollseife und Rosmarien bleibt zurück – und prägt sich ein. Er führt diese Hand während der etwa zweistündigen Fahrt nach Wittenberg immer wieder an die Nase. O weh …
Nie wieder wird Martin Luther aus eigenem Antrieb Rahnsdorf besuchen. Er wird diesen Ort meiden. Denn hier wohnt und regiert die Hexe, die er lieben muss, obwohl er es gar nicht will. Denkt er. Armer, armer Martin … Nie wieder wird er Rahnsdorf besuchen? Wo es dort doch so schön ist …
DAS DILEMMA
Da hatte nun Marie Katharina Schall aus Rahnsdorf dieses Büchlein von Luther empfangen. Das Büchlein von Christus als dem einzigen und wahren Apotheker. Sie las es durch - von hinten nach vorn. Ja, - sie war seltsam, die Katharina. Bücher las sie immer von hinten nach vorn. Woran das lag? Sie hatte das Hebräische erlernt, fast noch eher als das grobe Deutsch. Dann Latein und dann Griechisch. Erst mit sieben Jahren hatte sie auch Deutsch zu schreiben begonnen. Der Vater hatte darauf gedrungen, dass sie mit lateinischen Buchstaben das, was sie sprach, aufzeichnete. Denn sie schrieb bisher „ij” für „ich” und „Ai” für „Ei” (wenn sie nicht genau wusste, wie es geschrieben wurde, setzte sie in Klammern den Lateinischen Ausdruck noch dahinter. Also für „Ich, das Ei“ schrieb sie: „Ij (ego) will dieß Ai (ovum). Ja, - sie war ein bisschen sonderbar. Und Vater mit Bruder fragten sich, was will das werden? Fast wie im Märchen ging es zu. Einige Freier wurden vorgestellt, - sie blieben links und rechts der Nachmittagsstunden liegen, während derer man in Rahnsdorf am Tisch im Garten zusammensaß. Katharina mochte diese Männer alle nicht. Sie ließ die bestellten Freier spüren, dass keiner von ihnen das Wasser ihr je würde reichen können. Und so zog man sich zurück, es gab ja noch andere Pfarrerstöchter in Kursachsen … Luther nun, wesentlich älter als Katharina, hatte ihr das Büchlein von Christus dem Apotheker geschenkt. Und sie las es nun. Das Erste, was sie las, was das:
Der Mensch gleicht der Blume
auf weitem Feld
Am Morgen blüht sie und leuchtet
der Sonne gleich pranget die Blüte
Pracht, Farbe und Licht.
Am Abend neigt sie
erschöpft und verblüht sich
Gebeugt von der Lebenskraft
sinkt vor der Sichel sie in das Heu.
Der Mensch ist die Blume,
dem Gras gleicht der Mensch
Blumen bindet er fröhlich zu Sträußen
Traurig legen wir Blumen ans Grab.
Gott nimmt und presst sie
ans Herz sich, ans pochende Album
Unendlich stehet mit goldener Wucht
auf dem Deckel des Buches.
Drum, einmal, beginnen die Saiten
des göttlichen Herzens
erneut sich zu regen.
Sie tönen alle
im Tau der Lieder
und bringen ein Blühen hervor.
Marie Katharina schrieb diese Verse ab, übersetzte alle auch in alle jene Sprachen, die sie kannte - und fügte sie dann in der seltsamen Schrift der Voynichen zu ihren Tagebüchern. Luther indessen hatte es schwer. Eigentlich wollte er ja die Katharina von Bora gar nicht. Er hatte nämlich schon lange seine Augen auf Ave von Schönfeld geworfen. Aber die wollte ihn nicht, - ihn, den alten Zauderer mit ständigen Leibschmerzen und Angstanfällen, dafür heiratete sie den lustigen Mediziner Basilius Axt. Die aus dem Kloster Nimbschen geflohenen acht Nonnen waren also alle vergeben - nur Nummer neun, Katharina von Bora - den spröden Herrn Käthe - mochte keiner haben. Da nahm Luther sie bzw. ihn. Die Vernunft wird, wenn sie am dümmsten ist, groß genannt.
Aber jetzt? Jetzt hatte Luther gleich zwei Katherinen und mit denen von Töttleben und Tambach waren es sogar vier. Besser gesagt, die eine hat er - die andere hat ihn. Die dritte war verloren - und die vierte war vielleicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt - seinetwegen. Katharina von Bora ist elf Jahre älter als ihre Namensbase aus Rahnsdorf. Jene ist sehr durchschnittlich und ohne Reiz - diese aber hochgewachsen und schön von Gestalt. Jetzt liest sie in dem Büchlein vom Apotheker Christus, das Luther ihr zum 20. Geburtstag verehrt hat. Das Büchlein liegt ihr von diesem Tag an immer dicht am Herzen. Sie geht damit in der Feldflur umher, denn ihr Interesse ist von Kindesbeinen an das Leben der Flora im grünen Gefild. Sie kennt die Stimmen und Gesänge der Vögel, sie hat ein kleines Tambourin, mit dem sie den Herzschlag nachahmt und sich auf diese Weise bis dicht an Hirsch, Schwein, Auer und Reh heranpirscht. Sie seiht die Aufgüsse von Belladonna und Aconitum, macht Auszüge aus Engelswurz mit Schweinefett und kann auch das Rosenöl herstellen. Ihre Kammer ist ein Labor, über dem Alkoven hängen Pflanzenbüschel. Pilze trocknet und Steine sammelt sie. Der Onkel, Johann Schall, fürchtet, dass eines Tages seine Nichte als Hexe auf dem Scheiterhaufen zu Wittenberg enden wird. Der Bruder Valentin redet mit ihr oft und lang über das elende Heidentum und die fremden Götter, die in den Dingen wohnen könnten, wenn diejenigen, denen diese Dinge gehören, es zulassen. Das ist dann Zauberei - und des Feuers würdig. Katharina ist klüger als dieser Bruder, obwohl sie bei zehn Jahren jünger ist. Valentin kennt nur Bücher. Sie aber kennt das, worüber die Bücher berichten. Das ist der Unterschied.
Das Frauenwissen hat die Katharina von ihrer Mutter Marie, die aber schon im Himmel ist. Eines Tages lag sie tot im Bett. Ganz kalt. Der Arzt stellte fest, das das Herz stehen geblieben war. Es ist das an einem kalten Novembertag gewesen. Am 27. November 1526. Müntzer war schon hingerichtet worden, die Bauernkriege niedergeschlagen. Die Mutter Marie also, eine geborene Niemegk, wesentlich jünger als ihr Ehemann Joseph Martin Schall, starb mit 45 Jahren und wurde in der Kirche begraben, an der Nordwand des Chorraumes des uralten Gotteshauses im sächsischen Mumplitz. Einen Sandsteinepitaph ließ der unglückliche Ehemann über ihrer Gruft anbringen. Darauf sieht man einen sich zwischen Totenkopf und Sanduhr herumflätzenden Putto, der sich ein Spruchband über den Leib zieht, darauf „memento mori“ geschrieben steht. Dann starb auch der Ehemann Joseph Martin Schall selber - vor Kummer. Die beiden Kinder Valentin und Marie Katharina kamen zum Onkel nach Rahnsdorf in die dortige Pfarre. Wenn dieser Onkel schwermütig wurde (und er wurde es oft), sah er in die Sterne und schrieb Zeichen auf Papiere, die er dann in einer Lade verbarg, zu der nur er den Schlüssel hatte. Der Neffe Valentin dagegen las zu finsteren Nächten immer nur in der Bibel und in den Schriften der noch jungen Reformation. Katharina jedoch floh hinaus ins Freie, in die Natur, aufs weite Feld, an die Ufer des Zahnabaches und in den Wald, der sich mit seinen Eichen und Buchen in dunklem Grün erhob. Wenn Gewitter gehen, - da könnt ihr sicher sein, dass sie im Wald ist. Katharina. Unter den Eichen!
"Nun kommen wir zum Schluss!" rief Leberecht. "Das letzte Blatt aus der Kiste ist jener „Agnisentraum”, der von Luther nicht kommentiert und von Tusmenitzer mit Fragezeichen versehen worden ist. Die Schrift der Eintragung ist allerdings nicht dieselbe wie die auf den anderen Lutherzetteln zu merkende. Es ist, als ob eine andere Person die Schrift des kleinen Martin hätte nachahmen wollen. Die Buchstaben gleichen in den Unterzügen der Hetzerschen Handschrift. Und so darf man wohl die Vermutung wagen, dass Hetzer selbst den Traum von der Agnisa erfunden hat - um Luther in den Bereich des Psychotischen zu verfrachten - und die ganze Reformation gleich mit. Die Datierung dieses sechsten Traums weist ihn allerdings zeitlich als ersten Traum aus." So Leberecht zu seinem Auditorium.
6. TRAUM
Führte heut mein klein Püpplin Agnisa-Kathrein, dasselbe ich von Großmuttern Margareten geborene Ziegelerin zum Christfest vorigs Jahr als Gab und Geschenk erhalten, am Tag der Heiligen Katharina von Alexandria mit innen Berg. Hab drunten mit Vater Hans allwieder viel Ertz brechen und schleppen müssen. Darnach ein wenig gevespert, als der Berg grollete und Rumor gemacht. Dass der Vater aufspringt, seine Sachen und zum Schluss auch mich in Korb warf und schrie: „Hoch fahrn müssen wir, dummer Bub, geschwindt! Der Berg kommt übel.” Da sind wir flugs hinauf und hoch, da der Vater am Seil uns aufgezogen über die drei eisern Rollen, die außen am Schacht fest hangen. Darbei aber das Agnisenpüpplin Kathrein unten im Schacht vergessen. Ist der Stollen mit Ach und Krach und großem Staubgewölke zufallen und Püpplein Kathrein verschlossen nun in dem Berg liegt. - - - Hab mich innen Schlaf geweinet die ganze Zeit und bin an Mitternacht erwacht, weil die Kathrein mir im Traum erschienen. Hab ein Licht entzündet und für mein Püpplein zur Maria und zum Antonius geflehet, dass ichs mag wiederfinden über Tag und Jahr - und wenns soll erst sein in der lieben Ewigkeit der Höllen. Da hab ich wieder einschlafen können. Und geträumt, die drei heiligen Madeln seien mir erschienen und inmitten stund die Heilige Katharina und flüsterte immer und immer wieder: „Martin, Martin. Wirst werden ein großer Mann, denn ich will Dir helfen von unten aus der Seele des harten Steinbergs. Weiß ja, wie du dein Püpplin herzlich vermissest! Und harre deiner da drunten in der Tiefe!” (D. Kath. de Alex. 5.Iulii 1490)
ComTus:
Fragezeichen über Fragezeichen. Ist das wirklich ein Kindertraum von Luther? Die Schrift ist anders gestaltet. Auch spricht gegen die Autorschaft Luthers, dass dem Traum die Beschreibung einer Situation am Tag 5.7.1490 vorangestellt ist. Ebenfalls gibt gerade dieses Datum keinen rechten Sinn, denn es ist der Tag der Heiligen Katharina am 5.Juli des Jahres 1490 ein Sonntag gewesen, an dem auch der Vater Luthers sicher nicht im Bergwerk gearbeitet haben mag.
Hat hier Dominicus Hetzer selber einen Luthertraum gar erfunden? Wenn ja - dann ist dieses sicher aus der Motivation heraus geschehen, Luther eine Verbindung zu unterirdischen Kräften anzudichten. Erfunden ward ein Traumgesicht, das für eine schicksalsmäßige Verwandtschaft des armen Mannes stehen sollte, mit Frauenspersonen, die allesamt den Namen Katharina tragen, in metaphysischer Verbindung zu stehen. Und die im Kupfer-Berg-Werk durch die Nachlässigkeit des Knaben verschüttete Kinderpuppe spräche lebenslang immerdar zu ihm, als Symbolon seiner in der Tiefe des Schicksals verschüttet und gefangenen Seele. Und die Aufgabe wäre gewesen - und ist es ja auch geworden - , das Seelenpüppchen aus der Tiefe tauben Gesteins zu erretten und samt sinnigerem Inhalt nach oben an das Tageslicht zu führen. Insofern verstehen wir auch den Spruch: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!” nun ganz neu, und genauso, wie es schon der bekannte Seelenarztes Dr. Carl Gustav Carus im sächsischen Dresden ganz beispielhaft, wenn auch nicht unwidersprochen, schon zu unseren Zeiten behauptet hat.
An dieser Stelle ließ Leberecht Gottlieb seinen Vortrag Traumnotizen und Berichte über Luther und die in seinem Leben relevanten Katharinen betreffend enden. Anzumerken bleibt noch, dass der Pappdeckel der Akte auf seiner Innenseite den Vermerk des damaligen Hauptbibliothekars Antonio Tosti enthält:
Nunmehrige Ablösung
des Hilfsbibliothekars Jacub Tusmenitzer
(religio mosaicae)
endlich
am 24. Februar 1866
durch die Hand des Sekretärs Joseph Felix Mödelbauer
Sekretärs unseres
Heiligen Vaters,
seine Heiligkeit
Pio Nono,
unterschriftlich
genehmigt.
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Antonio Tosti
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