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das nahende Fest
Leberecht Gottlieb (98)

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98. Kapitel, in welchem wir Leberecht Gottlieb als einen sehr, sehr neugierigen Menschen erleben und ihm interessiert über die Schulter schauen, als er - freilich unerlaubterweise - doch wieder in dem Libretto des Theaterstückes von Karl May liest ... 

Die Vorbereitungen für das große jährliche Theaterfest der kleinen Kirchensekte da draußen in der Wüste zwischen Kairo und Jerusalem waren in vollem Gange. Jeder hatte irgendeine Aufgabe. Nur Leberecht  - und der chinesische Seidenhändler Herr Luan Wang Li Zhang nicht. Während Letzterer sich mit seinen Schafgarbenstängeln beschäftigte und das Orakel befragte, ob es sinnvoll sei, die Seidenraupenzucht auch nach Sachsen gelangen zu lassen, schlich sich Leberecht unbemerkt in das große Zelt der Rezitationen - denn er konnte seine Neugier nicht bezähmen und wollte versuchen, noch ein paar Seiten jenes Librettos ansichtig zu werden, obwohl Ibn Jesus das eigentlich verboten hatte. Aber einen emeritierter Pfarrer aus Sachsen hält so leicht nichts auf! Und weil alle beschäftigt waren, gelang es ihm sogar. Das hier konnte er lesen:

 
Szene 2 - auf dem Markte

Ochlos - die Menschenmenge:
Was wird man hier gleich beginnen?
Wird man den Mann zu Tode gar bringen,
hinab ihn stoßen über die Klippen?
Werden die Götter einschreiten und retten?
Was wird geschehen …
Diese und andere Fragen
murmeln wir vor uns hin …

Mealethaios:
He, ihr Leute, schart euch um mich.
Die Priesterschaft werb’ ich im Tempel Apolls,
hier an dem Marktplatz werb ich sie ein.
Ihr nur entscheidet, zu Wohl oder Wehe
des Lästerers, der uns seit Jahren verspottet.
Brecht nun den Stab ihm über dem Haupte,
werfet alle die schwärzliche Kugel
hier in den Steinkrug, nicht aber die weiße,
die seinen Freispruch bedeutet.
Hört meine Worte und folgt meinem Ratschlag.

Ochlos - die Menschenmenge:
Da sind wir schon da - und umringen dich alle.
Hören, was du zu sagen uns hast.
Apollodor, eh’maliger Priester
Apollos, seht, dort steht er, der Schuldige,
gebunden am Pranger.
Die Binde, die weiße, das Ehrenzeichen
der unberührbaren Träger des Amtes,
haben die Schergen ihm abgenommen.
Und einem anderen wird sie gegeben.
Ein besserer Mann wird sie tragen.

Mealethaios:
So ist es. Ihr sagt es.
Ihr wisst auch, wer dieser
der neue Priester des Gottes wohl sein wird?
Ich selbst bin´s, der vor euch steht,
der zu euch redet.
Mealethaios, der kämpft für die Wahrheit
wie auch untrüglich mein Name es ausruft.
Und deshalb auch ganz genau dieses bedeutet:
„Es gibt keine Wahrheit!“.
Ihr wisst, was Apollo hat alles ertragen
müssen von seinem abtrünnigen Priester,
wenn man denn überhaupt jenen Verbrecher
Priester noch nennen darf, oder je durfte.

Denn verborgen im Glanze der Gottheit
und ihres ragenden Hauses, des Tempels,
hat stets sein eigenes Süpplein gekocht er,
dabei von unseren Opfern gemästet.
Hat die Orakel verhöhnt, und die Texte , welche uns heilig sind, alle bezweifelt
Nicht hat, die suchten nach Rat und nach Trostwort, 
dieser beruhigt mit helfendem Spruchwort,
sondern er hat der Vernunft ausgeliefert
alle die kamen und hat sie verpflichtet, 
sich seiner immer und stets zu bedienen
und hat sie ermutigt, ihr Leben und Schicksal
selber in eigene Hände zu nehmen.

Ochlos - die Menschenmenge:
So ist es.
So war es,
du sprichst es aus,
für uns Mealethaios,
Die Wahrheit sei keine,
so lehrte er immer.

Mealethaios:
Seitdem lässt der Tempeldienst nach,
die Komödie ist zur Tragödie wieder geworden,
die Allmacht des Zeus wird in Frage gestellt
und vieles andere ist zu beklagen.
Aus unserm Zynismus ist Weisheit geworden.
So kann das nicht bleiben.

Ochlos - die Menschenmenge:
Mealethaios, was du uns sagst,
das glauben wir gerne.
Du sollst ab heute neu Priester uns sein.
Wirst dem Gotte Apollon nun dienen –
die Binde des Heiltums ums Haupt dir gewunden.
Wenn jener erst die Klippen hinabfiel
und zerschmettert am Felsboden auftriftt
wird er zum Fraß für Hunde und Nachttier.
Du aber diene an seiner Statt weiter.
Heute schlägt seine
und deine Stunde.
Beide eint euch ein einiger Glockenschlag.
Sagt dir die Menge der Menschen,
die eben dich, künftig Priester, umringt
hier, auf dem Marktplatz.

Apollon, der Gott: (ist wie nebenbei aus dem Nichts erschienen):
He ihr Leute, ich habe
alles mit angehört. Stört euch
nicht an meinem prächtigen Ausseh’n.
Ich bin halt Apollon, der Gott,
welchem dieser dort diente
und jener hier dienen will.
Weit besser aber finde ich den,
welchen ihr töten wollt.

Philochlos:
Noch so ein Lästerer? Niemand
hat je Apollon gesehen.
Wie kannst du dann sagen,
du seist er? Würden wir ihn mit den Augen
erblicken, wären wir alle
geblendet und Kinder des Todes.
Leute, lasst uns den Fremdling
und Lästerer mit auf die Klippen
führen. Ergreift ihn!

Ochlos - die Menschenmenge:
Ja, ergreift ihn, den Spötter! 
Ja, ergreift ihn, den Spötter! 
Ja, ergreift ihn, den Spötter!

Apollon:
Wehe mir, sie haben
mich eben ergriffen und binden
die Füße und Hände mir jach.
Schon packen sie mich und auch meinen
trefflichen Priester Apollodor.
Schon geht es hinaus auf die Klippe
unseliger Felsen. Man schleppt uns
über die Äcker zur Spitze.
Oh, - wie gehts jetzt bergan.
Neben mir taumelt mein Priester
und tröstet mich leise mit singenden Versen.
Wie kann er das Metrum behalten,
bei dieser Fahrt über unebenes Land.
Dem zoll ich Respekt! Ich soll nichts
befürchten, sagt er mir eben.
Apollon würde schon helfen.
Wenn auch im letzten Moment erst,
so will es die Gottheit und gibt -
auf bewährteste Weise den Frevlern
noch einmal letzte Gelegenheit,
vom schrecklichen Plan abzustehen,
um Einsicht noch zu gewinnen.

Szene 3 - auf der Klippe des Steinbruchs

Mealethaios:
Welch Glück doch, gesellt sich zum einen
der andere Frevler auch noch.
So werden sie beide springen
und beide gemeinsam zum Schattenreich fahren.
Zweie sind besser als einer.
Denn galt nicht schon immer, je mehr hingerichtet,
desto leichter fällt es den Richtern,
das Urteil schnell zu vollstrecken.
Ich aber werde die Binde
des Priesters schon morgen erhalten.
Schon bald seh’ ich selbst mich im Amte
des heute Verurteilten walten.
So komm ich nach Jahren schließlich
klug zu der Stellung, die ich mir stets wünschte,
dringend ersehnte seit Kindertagen.
Priester des Führers der Musen zu sein …

Theophilos:
Haltet ein, was hat denn Apollodor
euch, Ihr Freunde, getan?
Noch hörte ich nicht, wie er sich verteidigt,
noch lauschte niemand dem Priester
bei seiner Rechtfertigungsrede.
Männer der Stadt, wie seid ihr gesunken
so tief. Barbaren seid ihr geworden?
Kann denn ein Mensch verstoßen werden,
ohne dass man Gelegenheit gab
ihm zur Rechtfertigung vorher?
O, – haltet ein, vernehmt meine Bitte.

Philochlos:
Nein, wir lassen nicht reden den Schwätzer.
Kann es doch sein, dass manchen
die Klugheit der Worte, und deren Schönheit,
noch weiter abbringt von dem, was wir kennen.
Seit tausenden Jahren gelten die Schriften.
Er aber lehrte uns neuartig Dinge.
Schreibt sich auch selber besondere Lehren,
verführt uns, zu denken nach seiner Weise.
Das duldet kein Gott, das dulden auch wir nicht.
Hinweg mit dem Gaukler.
Keine Gemeinschaft mit solchen –
so lautet der Wahlspruch.
Zusammenarbeit nur mit jenen, die wir schon kennen.
Vom Felsen wird er gestoßen.
Mag sein, dass sein Daimon ihn rettet,
doch wird er stürzen – das glaube ich fest.

Theophilos:
Was hat er getan, wenn er lehrte,
Verstand zu gebrauchen?
Danket ihm lieber, sag ich,
da er euch zeigte, die Furcht vor dem Alten
anzuschauen, sie dann zu verwandeln
in neckisches Spiel.
Solche sind groß, die es wagen,
den Göttern mutig zu trotzen.
Kleinlich seid ihr, die ihr immerdar
hockt unterm Schatten der eigenen Ängste.
Auf meinen Reisen …

Mealethaios: (unterbricht den Theophilos)
Ich will dich an dieser Stelle,
Theophilos, schnell unterbrechen.
Zwei stoßen wir nieder zum Schattenreich gleich.
Soll noch ein Dritter dabei sein?
Dann rede nur weiter!

Theophilos:
Ach, so verstumme ich lieber,
angesichts deiner bedrohlichen Warnung.

Philochlos:
Besser für dich.
Besser für uns,
besser für alle!

Mealethaios:
Den Verstand gebrauchen wir auch.
Doch niemals gegen die Lehren der Alten.
Und niemals darüber hinaus.
Stellt sie nun auf die Klippe.
Dort auf den Stein, den rötlich
Geäder durchzieht. Aufgeworfen
einst aus der Tiefe des heißen Vulkans,
diene er nun zum Absprung
hinab in denselben.
Ergreifet sie beide. Hinab in die Tiefe mit ihnen!

Theophilos:
Ich wende mich ab von solchem Grauen,
mein Herz aber verweilt bei beiden im Mitleid.

Apollon:
Ach - ich bin mir noch nicht sicher,
was nur werde ich gleich machen?
Wenn sie uns nun beide stoßen
von dieser ragenden Klippe?

Lithostratos:
Weh’, nun traten sie mir auf.
Ehrenhaft ist es für mich,
dem Gott als Abtritt zu dienen.

Apollodor (zu Apoll):
Fürchte nichts, unbekannter
Gefährte des Schicksals am misslichen Tage,
ein Gott wird uns retten.

Apollon:
Ein Gott? Welcher denn?

Apollodor:
Dem ich Jahrzehnte des Lebens
diente. Der auch die Musen
führt, die Gesänge lenkt und den Bogen
spannt für den rächenden Pfeil.
Sohn des Zeus und Bruder des Hermes.

Apollon:
Wenn du es sagst,
wird es schon stimmen.
Bist du doch selber
sein Priester schon immer …

Apollodor:
Ich war es auch gern.

Apollon:
War? Oder bist du es?

Apollodor:
Sie haben die Binde mir abgenommen.
Das Zeichen des Priesters trägt nun ein Schwindler …

Apollon:
Halte dich dafür nun jetzt
fest an diesem Band hier,
das meine Hüften umschlingt.
Halte dich fest, wenn wir fallen.

Apollodor:
Wir fallen ja schon,
gestoßen haben sie uns
von der Klippe hinab.

Lithostratos:
Schmach das für mich,
bei dem Gotte …

Apollon:
Wir fallen nie.
Wir steigen.
Ich bin Apollon.
Wir schweben eben
den Sternen entgegen.
Merk’ es, mein Priester!

Lithostratos:
Doch keine Schmach?
Beim Gotte …
Basis der Himmelfahrt ward ich,
armes Gestein nur,
fast selber vergöttlicht
seit eben!
So wird man heilig!

Apollodor (im Aufflug):
Du bist der Gott?

Apollon:
Wer sonst. Ich bin´s. Du wolltest es so.
Ich rette mich eben, merkst du es nicht?
Und dich nun rett´ ich gleich mit.
Als Zwillingspaar steigen wir auf.
Du siehst wegsinken, die unter uns gaffen
und die dich ertöten wollten.

Apollodor:
Ich bin erstaunt, denn solches,
hätte ich nie für möglich gehalten.
Ich dachte ja immer, die Götter
gäbe es gar nicht …

Apollon:
Und warst doch so lange
mein Priester?

Apollodor:
Warum nicht? Ich diente dir treulich
indem ich zugleich dich bezweifelte.
So wuchs ich
und du wardst nicht kleiner,
sondern immer noch größer.
Ich auch.

Freilich, die anderen deuteten
mich als Scharlatan nur.
„Heute die Binde, und morgen die Kappe.
Heute die Maske und morgen Gesicht.”
So höhnten sie meiner Rede
und haben das Ganze niemals begriffen …

Apollon:
Was wähnest du nun, woran diese
dort unten wohl denken mögen?

Apollodor:
Es ist mir gleich, was sie denken.
Sie dachten ja nie,
sondern töricht
sind sie fast immer gewesen,
wenn sie versuchten zu denken
und dich zugleich zu verehrten.
Froh bin ich, die Binde nicht mehr
tragen zu müssen, da du nun
mich selber, den Priester erträgst.

Apollon:
Da hast du wohl Recht. Aber hatte
nicht auch Mealethaios und dieser Philochlos
ebenso Recht, dich zu verurteilen heute?
Hast du nicht etwas, wie sagt man,
reichlich auch übertrieben?
Du hättest ihnen den Glauben
an sich selber genommen,
wenn sie dich hätten weiter
predigen lassen im Tempel.
Die Törichten wissen ja nichts.
Sie müssen glauben.
Verstehst du?

Apollodor:
Ich ahne fast, wie du’s meinst.
Mein Freund, Theophilos, steht dort,
als einziger noch auf der Klippe.
Er dauert mich so.
Er blickt uns wohl nach?
Traurig ist er und weint gar …

Apollon:
Tröste dich jetzt und reiß dich zusammen.
Er kann uns schon nicht mehr erblicken.
Wir sind ihm bereits zu weit und entrückt.
Er wird sich zwar grämen und – was aus ihm wird,
das steht im Geheimnis der Sterne.
Wir werden ihm heute zur Nacht
ein gütiges Traumbild aussenden.
Versprochen.
Und werden ihn nie -
ganz aus den Augen verlieren.

Leberecht hatte bis an diese Stelle gelesen, als das Öllämpchen verlosch und es schlagartig stockdunkel wurde. Da musste er sich auf sein lager im Nachbarzelt tasten und versuchte, keinen Lärm zu machen. Nicht - das etwa noch herauskäme, dass er heimlich im Libretto des Theaterstückes, das ja erst übermorgen gezeigt werden sollte, gelesen hätte.

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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