DREIUNDZWANZIG
Leberecht Gottlieb (Teil 112)
112. Kapitel, in welchem Pinchas von den uns bereits bekannten vier jungen Leuten erzählt, die draußen in der Wüste dann offenbar doch nicht umgekommen sind, dafür aber aber Agenten waren! Außerdem gewinnen wir tiefe Einblicke in die Eigenart Heiliger Schriften und wundern uns über sonderbare Methoden, die Texte der Evangelien auch betrachten zu können ...
Nachdem Pinchas sich eine Weile besonnen hatte, wandte er sein Gesicht dem Planeten Jupiter zu, der vor etwa zwei Stunden sich im Osten gezeigt, dann in respektabler Helligkeit aufgegangen war und nun seinen Schein gemeinsam mit Mars durch die zerborstenen Scheiben des Gewächshauses fallen ließ. Auch der Saturn war längst erschienen und stand beim fast voll gewordenen Mond hoch oben am Himmelszelt in einigermaßen exakter Konjunktion zu der uns vertrauten silbernen Scheibe, die ihr gelangweiltes Gesicht zeigte, wie dasselbe seit Menschengedenken auf unsere liebe Erde herab gähnt.
Nach einer angemessenen Phase würdiger Schweigsamkeit erhob der kabbalistische Wundergärtner die Stimme - und bald schon strömte seine sonderbare Rede im flutenden Mondlicht dahin. Ganz ruhig hatte Pinchas zu sprechen begonnen. Und Leberecht hörte zu. Man sah fast nichts in dem dunkel gewordenen Raum, denn jene Kerzen, welche die Dauer des Fernsehfilms vom Golde McKenna’s über lange geflackert hatten, waren alle inzwischen völlig ausgebrannt. Jedoch die Stimme des Vortragenden hörte man gut. Pinchas sprach langsam, mit Betonung und Einfügung längerer Pausen. Seine Rede ging etwa folgendermaßen:
"Lieber Freund, den dich das Schicksal hierher in meine gärtnerische Klausnerei hat führen wollen. Höre von meinen bescheidenen Versuchen, mir selbst und dir - also uns - die Welt zu erklären. Gemeint ist dabei nicht so sehr die sichtbare Welt, sondern auch die unsichtbare und gerade besonders diese. Welt und Gott stehen als allergewöhnlichste Vokabeln für das sichtbar und Begreifbare auf der einen und das unsichtbar Unbegreifliche auf der anderen Seite. So soll es auch bleiben bis in die fernsten Ewigkeiten hinein. Ich mag den Martin Heidegger nicht mit seinen Wortungetümeleien, mit denen er uns die Metaphysik aufgelöst und die wichtigsten Worte gestohlen hat, welche es uns früher möglich machten, die Welt wirklich zu erklären, ohne dass der Gott dabei ersterben musste. Gott und Welt - das waren, sind und bleiben jene zwei Brennpunkte der einen Elipse, auf denen unsere Gedanken kreisen. Und weil die Kreisbahn dieser Schleife ein möbiussches Band von unendlicher Länge ist und sich nur in einem absoluten Minimum über Null von dem vollkommenen Kreise unterscheidet, sind die beiden Brennpunkte dieser fast kreisförmigen aber eben doch elliptischen Figur ebenfalls unendlich weit voneinander entfernt, obwohl sie eigentlich fast ein und denselben Punkt darstellen müssten. Deswegen nicht - und zugleich doch: Gibt es zwischen beiden Punkten geheime Fäden und Verbindungen - und diese Verbindungen haben von beiden Seiten etwas Charakteristisches an sich. Sie sind sozusagen Gott und Welt in Einem - und bleiben doch klar voneinander unterschieden. Bei der Erklärung von Welt und Gott muss man also trotz des Unterschieds den Umstand immerwährender Beziehung zwischen beiden stets beherzigen. Und das Wort beherzigen meint tatsächlich auch das Herz des Menschen. Wobei nicht nur das rastlos unablässig pochende blutbewegende Organ in der Brust des Menschen gemeint ist, sondern auch eigentlich viel eher die Seele als innerer Wesenskern. Man kann zwar viel mit den Kräften des Verstandes erkennen - aber wo das oft so elend leidende Herz dem Verstande nicht als Hilfe herbei eilt und dicht hinzu tritt, da schlafwandelt alle Erkenntnis genau an demjenigen vorüber, was erkannt werden soll - nämlich die unsichtbare Welt aller unsterblichen Gottheiten und ihres ewigen Gebieters, deren Aura von uns Sterblichen nur durch eine hauchdünne Folie getrennt - wie etwa einer von Graphen - entfernt liegt und zugleich vermittels dieser dünne Folie verbunden ist. Weil dieselbe eben auch an das Göttliche selbst grenzt, das wir Juden ehrfürchtig HERR nennen und ihr Christen wohl ganz ähnlich anruft, obwohl ihr den unnennbaren Namen dabei ausprechen zu dürfen meint, was ich an dieser Stelle wieder einmal getadelt haben möchte, aber darauf weiter jetzt nicht zurückkommen will. Denn es geht um Wichtigeres.
Als der HERR - hochgelobt sei er - den Menschen Adam und sein Weib Eva aus dem Paradiese hinaus in jene Welt laufen ließ, die sich die Menschen vermittels der ihnen verliehenen „Freiheit zum Guten und zum Nichtguten” selber erwählt hatten, gab er ihnen neben der schimmernden Haut, in die er unsere Ureltern gnädig einhüllte, auch das Alphabeth zum Gebrauche auf den Weg - jene Glyphen also, mit Hilfe derer er zuvor an sechs Tagen die daseienden Dinge aus dem Nichts durch sein Sein sich hat erschaffen wollen. Es waren genau 22 Zeichen an der Zahl, welche die beiden unglücklichen Freigelassenen der Schöpfung aus der Hand des Allmächtigen beim Abschiede empfingen. Jeder Konfirmand müsste diese Laute heute eigentlich hersagen können, wenn man ihm denn einen ordentlichen Unterricht hat zukommen lassen," fügte Pinchas hinzu, wobei er einen Seitenblick auf den emeritierten sächsischen Pfarrer warf, der beiläufig nickte.
"Die Reihe dieser ewigen Zeichen beginnt mit Aleph, Beth, Gimmel und endet mit Resch, Schin und Taw. Aber - der Ewige machte den Menschen auch das Wissen von einem weiteren, dem 23. Buchstaben kund, welchen er jedoch weder in seiner Gestalt, irgendeiner Form, dem Laut oder gar der Bedeutung nach verriet - sondern dieses alles geheimer hielt als das Geheimnis aller Geheimnisse je geheim gehalten worden ist. Nur, dass es diesen 23. gab - das gab Gott den Menschen zu bedenken. Der 23. war also so etwas wie der Joker im Romméspiel - ihr kennt diese Karte mit dem darauf abgedruckten lustigen Narrenkopf?" Leberecht und Wang Li Zhang, der inzwischen ebenfalls eingetroffen und sich dem Vortrage beigesellt hatte, nickten erneut.
"Die besondere Karte, die viel gilt, jedwedes andere Blatt ersetzen und damit alles völlig verändern kann. Die Ausnahme ist diese Karte - und ähnlich auch dieser dreiundzwanzigste Buchstabe …" Leberecht und der chinesische Seidenhändler Wang Li Zhang nickten zum Zeichen, dass sie der Rede folgen konnten und sie auch verstanden hatten. Pinchas fuhr fort.
"Liebe Freunde aus der Ferne, als ihr vorgestern durch unseren fatalen Hausmeister zu mir geführt wurdet, sagte ich, dass ich bereits auf euch gewartet hätte. Und das war nicht gelogen. Denn seit Jahren arbeite ich daran, jemanden zu treffen, der mit den Geheimnissen des Heroldstabes ebenso vertraut ist, wie ich es inzwischen bin. Der Heroldstab Johann Nepomuk Dankreithers könnte nämlich vielleicht dazu helfen, jenen 23. Buchstaben zu entschlüsseln, von dem ich sprach und den der Herr - hochgelobt sei er - dem Adam damals nicht zum Gebrauche übereignet, wohl aber das Wissen davon, dass es ihn gäbe, geschenkt hatte. Nun waren vor etwa drei Wochen schon einmal vier junge Menschen hier, die sich als Theologiestudentinnen ausgaben - zwei Frauen, in Begleitung zweier Männer. Es zeigte sich auch, dass sie von dem Stabe Johann Nepomuk Dankreithers wussten. Aber sie untermengten allerlei sonderbare Lehren in Dankreithers Überlegungen zum Heroldstab und faselten von der Bundeslade, vom Heiligen Speer und von dem Gralsbecher. Nachts - so beobachtete ich es genau - sandten sie geheime Funksprüche nach den Vereinigten Staaten von Amerika und standen in Verbindung mit Geheimorganisationen, die seit Jahrhunderten sowohl in Amsterdam, dem Litauischen Vilnius und Massachusetts ihre Zelte aufgeschlagen haben und uns Wissenden ihrer Eigenart nach als Stätten wichtiger Weisheitstradition zugleich aber auch allerlei Verschwörungsarbeit als bekannt gelten müssen. Ich habe mich den vier jungen Leuten gegenüber als unwissenden und sonderbaren Tropf zu erkennen gegeben - und sehr schnell gemerkt, dass sie darauf aus waren, das Mysterium des 23. Buchstaben mir zu entreißen; woher sie die Information hatten, dass ich solches Wissen besitze, ist mir unbekannt. Aber ihr Gefasel von Lade, Speer und Gral war nur Ablenkung und sollte meiner Verwirrung dienen. Sie kredenzten am Abend ihrer Ankunft vorzüglichen Wein und machten mich dermaßen trunken, bis sie denken konnten, ich sei tatsächlich eingeschlafen. Als ich aber nur so tat, als ob ich in tiefen Träumen mich befände - ich hatte das Homöapaticum Vinum C1000 zu mir genommen -, sah ich durch die halb geöffneten Augenlider, wie sie meine Gärtnerei durchsuchten und fotografische Aufnahmen von alledem machten, was ich mir allhie zur Freude bisher gezüchtet. Am nächsten Morgen schieden sie freundlich von mir und bedauerten, dass ihnen niemand Auskunft geben konnte über den Ort der drei gesuchten Heiligen Dinge, wie sie es nannten. Eine der beiden Damen aber verriet sich, als sie den Namen Dankreithers erwähnte. Ich hatte nämlich gefragt, welche historischen Quellen sie denn kennen würden, welche dazu hilfreich sein könnten, die drei Dinge ausfindig zu machen? Da kamen dann alle möglichen Namen aus dem Wikipediaeintrag zu Tage. Aber eben auch der Name Dankreithers, der dort aber gar nicht aufgeführt steht. Einer der Herren unterbrach das albern und sorglos ausplaudernde Weib, als der Name des Johann Nepomuk Dankreither ihren Lippen entschlüpft war und sah sie zornig an. Als ich mich daraufhin umwandte, sah ich sein erschrockenes Gesicht in einer meiner zerbrochenen Fensterscheiben … Also - ich erzähle das nur deshalb, um euch kund zu tun, das ihr nicht die einzigen seid, die nach dem Buchstaben suchen."
Leberecht unterbrach Pinchas und meinte leichthin, dass er gar nicht nach dem Buchstaben suche. Er wisse zwar, dass es denselben geben soll - aber er versuche inzwischen eigentlich nur, endlich nach Hause zu gelangen. Und wolle vielleicht noch in der Bibliothek des Klosters ein paar interessante Schriften von Goldmann ausfindig machen, der seinem Freund Uschmann nach dem ehemals sächsischen Zahna geschrieben habe - und bezüglich der Sterne und Planeten Interessantes mitgeteilt hätte. Und, fügte er hinzu, dass er hocherfreut sei, wie die vier jungen Leute also noch am Leben wären und nicht Opfer eines Wüstenüberfalls mit tödlichem Ende geworden wären. Denn ihr durch die Jildim Hakochabim aufgefundenes Automobil hätte zahllose Einschusslöcher und Blut an den Sitzen aufgewiesen. „Alles nur Täuschungsmanöver” rief Pinchas und fuhr dann mit seiner Erzählung fort: Die Vier hätten von einem verwirrten Geistlichen in der Wüste mit einem Stab berichtet, welcher Stab so etwas wie ein zusätzliches Sinnesorgan darstellen solle, mit Hilfe dessen man dies und das bewerkstelligen könne, was den übrigen Normalsterblichen verwehrt wäre. Dieser Mann sei aber recht von Sinnen gewesen und nun sicher nicht mehr unter den Lebenden. "Da wusste ich, dass Ihr hier bald aufkreuzen würdet, was dann ja auch geschah."
Eine Stille trat ein und Pinchas fuhr fort:
"Wenn man den Stab dazu nutze den 23. Buchstaben zu erfahren, dann würde man die Macht haben, jenes besondere Wort zu bilden, welches alles ändern könne. Und auf der Suche nach diesem Wort sei er seit Jahrzehnten - und alle anderen Personen ebenfalls auch, die hier in dem Kloster gelebt hätten. Nur der Hausmeister nicht. Das eine Wort, dass alles ändern kann!"
Und er erzählte uns die bekannte Geschichte aus dem zweiten Kapitel des Markusevangeliums, wo die vier Männer ihren kranken Freund durch das Dach eines unbetretbaren Hauses in den Raum hinab ließen, der unerreichbar geworden war, weil zu viele Leute darinnen standen.
"In der Mitte jedoch - da saß Jesus 'und sagte Ihnen das Wort.' Es heißt in diesem Text tatsächlich: καὶ ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον. Das Hebräische Wort für „das Wort” lautet דבר: DaBaR. Und damit ist natürlich das Wort des HERRN gemeint: דבר־יהוה. Nein - es war keine Predigt, die Jesus hielt. Sondern es war wirklich nur ein einzelnes oder einziges Wort. Dieses war - sein alles einendes Wort. Und genau dieses Wort suche ich, solange ich hier in dem Rambertinaerkloster lebe," fuhr Pinchas begeistert fort. "Nur dieses eine Wort nämlich hat den Gelähmten geheilt. Von einem Moment auf den anderen. Die vier Leute, die den einen Mann an vier starken Seilen in den Raum der Heilung herabgelassen hätten, das sind die vier Buchstaben gewesen. Und der kranke Gelähmte ist der 23. Buchstabe, den keiner noch nicht kennt. Es könnte dieses Wort vieleicht שלום sein - SCHaLOM - der Friede. Der eine Buchstabe würde dann dieses eine gesammte Wort bezeichnen - oder es sogar wahr machen? Der eine Buchstabe in die vier Buchstaben שלום zerlegt - würde das nicht der Friede selbst sein müssen? Wie nun heißt dieser Buchstabe, den keiner kennt, der aber das Wort Frieden wirklich macht?"
Er sei, sagte Pinchas, bisher nur soweit gekommen, mit der Goldfolie, auf die er die übrigen 22 anderen Buchstaben in sinnvoller Reihenfolge aufpräge, Unzusammengehöriges zusammen bringen zu können. Rosenstrauch mit Maulbeerbaum - zum Beispiel. Aber wie weiter? Ob Leberecht eine Idee habe? Und Leberecht hat.
Davon im kommenden Beitrag mehr … Alles andere von Leberecht hier
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