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wer kann tiefer fallen ... als in Gottes Hand
Leberecht Gottlieb (Teil 114)

114. Kapitel, in welchem die Russen anfangen, bei der ganzen Sache ein Wörtchen mit zu reden.  Leberecht wird mit den Aufzeichnungen eines gewissen Herrn namens Sven Mossadi Ibn Danielski-Flat, dem  Erzoberarchivoffizier auf Scriptomania konfrontiert, kann sich keinen Reim darauf machen, weiß aber, dass niemand tiefer fallen kann als in Gottes Hand ...

Sie waren gerade im allerschönsten Erzählen und Spekulieren gewesen - da geschah es. Ganz plötzlich nämlich flog die Tür auf, flog aus den Angeln und stürzte mit viel Gepolter zu Boden. Was sich unmittelbar danach abspielte, spottet jeder Beschreibung. Vier bis fünf schwarz gekleidete und mit dunklen Wollmützen vermummte Gestalten stürmten herein und warfen sich sowohl auf den Gärtner Pinchas als auch auf Leberecht Gottlieb und den chinesischen Seidenhändler Wang Li Zhang. Die vermummten Gestalten setzten sich den alten Herren auf die Brust und in Sekundenschnelle waren die Greise alle drei mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt, so dass sie bewegungslos auf dem Steinfußboden des Gewächshauses lagen. Leberecht führte nach dem ersten Schreck seine gebundenen Hände bis dicht vor die Augen, betrachtete die Kabelbinder und erkannte in den Kunststoff eingeprägte kyrillische Schriftzeichen: Kабельные Cтяжки war da zu lesen. Gefolgt von der Produktionsangabe: Cделано в CCCP. Leberecht hatte in der Schule acht Jahre lang die russische Sprache erlernen müssen. Einiges war hängen geblieben. Er wusste zum Beispiel noch, dass die letzte Glyphe in CCCP dem lateinischen P wie Paula, Partei oder Putin gleich, eben kein P fürstellte, sondern als ein R zu verstehen war, wie etwa in dem Worte Russland. Die Russen also waren hier. Einfach so. In weniger als fünfzehn Minuten hatten sie das Kloster umstellt, die Tür aufgebrochen und unsere drei alten Männer in Gewahrsam genommen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde nun eingesackt und in grünen Plastic-Boxen verstaut, welche dann zu einem ebenfalls grünen Lastkraftwagen geschleppt wurden. Unsren Dreien wurden die Augen verbunden, sie wurden in luftdurchlässige Kunststoffsäcke - grüne - gelegt und ebenfalls zu dem LkW gebracht, auf dessen Ladefläche sie offenbar gelegt bald spürten, dass die Reise losging - wohin allerdings das wusste man nicht. Egal - man konnte nicht tiefer fallen, als in Gottes Hand. Hatte nicht eine ehemalige Bischöfin Ähnliches zu sagen gewusst, als sie ... aber da startete man den Motor des Fahrzeuges ...

Selbiges war ein russisches Fabrikat. Marke URAL 375 D. Leberecht merkte das sofort, als der Motor anhüpfte und  ein Teil der entstehenden Abgase in den Laderaum eindrang. Ja - so hatte es immer gerochen. Damals in Frankenberg nahe der Stadt Chemnitz, das früher noch Karl-Marx-Stadt geheißen hatte. Leberecht war achtzehn Monate dabei gewesen, bei der Fahne, bei der Asche - bei der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, wie das politische Ungebilde sich damals selber gern nannte, obwohl es weder demokratisch zuging noch Republik gewesen war. Nur deutsch war das Ding geblieben - das merkte man jetzt nach fünfunddreißig Jahren deutlich. Leberecht hatte als Steuermann eines solchen beeindruckenden Russenfahrzeuges vom Uralgebirge seine anderthalbjährige Zeit im sächsischen Frankenberg Tag für Tag abgetragen und kannte das Fahrzeug deshalb genau. Er wusste, dass das Ungetüm im Gelände einen ganzen Liter ehrlichen Sprit auf einen einzigen Kilometer genoss. Und davon ein Achtel unverbrannt ausspie - das gab dann diesen süßlichen Geruch.  

„Träume ich oder wache ich?” fragte Leberecht aus seinem Kunststoffsack ins Nichts - und vom linken Sack neben ihm kam bald Antwort: „Wir träumen nicht weniger als sonst, denn das ist die Wirklichkeit!” Es war Pinchas, der so etwas zum Besten gab. Wang Li Zhang dagegen schwieg. Sein kunfuzinistischer Glaube sagte ihm, dass es besser sei, in unvorhergesehenen Situationen erst einmal zu schweigen. Aber - der Mann aus dem Reich der Mitte dachte sich  seinen Teil, - da können wir ganz sicher sein. Wang Li Zhang dachte sich, dass wenn sogar auch die Russen dem Geheimnis des Nanocodes auf der Spur waren, dann war wirklich was dran. Jener Code, welchen Code Pinchas und der alte Sachsenpastor offenbar zu knacken im Begriff waren.  Der Code, um das eine Wort zu finden, das alles verändern könnte, indem es alle anderen Worte vergessen macht - und damit eine mächtige Waffe darstellt. Eine Superwaffe, die mächtiger noch war als Infraschall, Laserstrahlen und Hyperschallraketen.

Sicherlich hatte das hier jetzt alles mit dem KGB zu tun? Und die alten Kabelbinder waren noch aus Sowjetzeiten. Nach etwa drei Stunden Fahrt kam man irgendwo an. Leberecht wurde aus seinem Sack genommen und in ein mittelgroß aussehendes sachlich anmutendes Gebäude geführt. An den Wänden keine Bilder, nichts konnte irgendwie gedeutet werden im Blick auf die Lokalität, an der man sich hier befand. Man setzte Leberecht auf einen Stuhl, zerschnitt die Kabelbinder Cделано в CCCP und verließ den Raum, in welchem der Emeritus sich nun allein befand. Auf dem Tisch vor ihm lag ein Aktenordner und darauf klebten Zettel mit der Aufschrift: "Bitte aufmerksam lesen!" in mehreren Sprachen. Und über einen Lautsprecher erscholl nun auch zusätzlich eine unsympathische Frauenstimme, die mit deutlich osteuropäischem Akzent Leberecht zur Lektüre aufforderte: Sie sagte: „Bitte lesen sie das, Herr Gottlieb sehr aufmerksam. Wir werden Sie in dieser Angelegenheit genauer befragen! Bittesehr!” Leberecht klappte den Deckel des Leitzordners auf und las:

Von den Pegidianern (siebenter und letzter Teil)
In meinem Schiffe sitzend enteile ich dem System jener Sonne, die mich seit 5.800 jährlichen Umläufen am Planeten Erde beschienen hat. Das silberne Kruzifix des alten Dresdner Pastors Leberecht Gottlieb baumelt am Steuerknüppel des Autopiloten. Während das Schiff immer mehr an Fahrt gewinnt und meiner alten Heimat zueilt, welche im Sternbild des Wagens auf dem Planeten Scriptomania zu finden ist, ordne ich die umfangreichen Aufzeichnungen meiner Hand. Tränen tropfen auf die Schriftrollen, es sind die Meinigen - sowohl Rollen als auch Tränen. Wie lange sah ich diesem erdlichen Geschlechte zu, das sich mühsam aus wilden Tierhorden dann aber doch bis zur Freiheit der Verehrer eines menschenfreundlichen Gottes erhoben hatte. Wie viele Kriege wurden dort unten bei den Säugern geführt, um den transzendentalen Gedanken und seinen vernünftigen Kultus aus dem Blut ins Wasser und aus dem Wasser in die Seele und von dort aus in den Geist zu überführen. Es gelang! (Nicht ganz ohne unsere Hilfe - aber stets nur im Rahmen erlaubter Eingriffe). Vor allem dank eines Juden mit dem Namen Jehoschua, der das Volk seiner brutalisierten Vorfahren wirklich revolutionierte, was sie ihm freilich nur mit Verachtung zollten. Bald schon irgendwann, viele Jahrhunderte später, ließen sich nicht wenige taufen. Leider hat eine der besonders krassen und frühen Fehlformen des immer wieder sich selbst entartenden Christentums die Grenzen des Orients gesprengt, überrollte dann recht schnell das christlich hochgebildete Nordafrika und griff schließlich sogar auf Europa über, wo der Geist zwar stark, seine Kraft jedoch durch den Hochmut ermattet schien. Es war ein Drama … Gott sei Dank war viel früher schon Hannibal von den Seinen nicht unterstützt worden, so dass Rom hatte mächtig erstarken können, sonst gäbe es bei den Erdlingen heute überhaupt kein Latein und die Kirche wäre noch nicht einmal Episode gewesen.
Meine letzten Aufzeichnungen freilich, kurz bevor ich die Erde verließ, sind aller solcher Gründe wegen etwas ausführlicher geraten. Ich versuchte, euch die Gruppe derer um Pegida zu beschreiben, eine von den Moskovitern unter ihrem KGB-Fürsten in Dresden initialisierte Schar von Menschen, die sich der vom Orient her geplanten Islamisierung des Abendlandes entgegenwerfen wollten, dabei aber, ohne dass sie es selber bemerkt haben dürften, von der paneurasischen Front um die slawischen Religionsdesigner Dugin und Putin als primitive Separatistengruppe aufgebaut wurden, denen man dann zu Hilfe kommen wollte, wie kurz vorher schon den Russen in der Ostukraine - mit Panzern und Kalaschnikowraketen. Die Pegidianer hatten insofern aber ein nicht ganz falsches Gespür dafür, wie dadurch, dass der Begriff „Christlich“ in Europa weithin vergessen worden war, die internen Bindekräfte des einst so hoffnungsvollen Staatenbundes diesseits und jenseits der Alpen fehlten; - und dieser Bund demzufolge über kurz oder lang auseinander brechen musste, um tatsächlich für die autoritären Mächte des Ostens eine leichte Beute werden zu können. Der Widerstand hatte nämlich wieder einmal nur die weniger gebildeten und kleinen, missbrauchbaren Leute der Straße ergriffen ("Putin, hilf uns!"). Wer weiß, womit die anderen beschäftigt gewesen waren. Asien schlug nun brutal zurück und rächte sich bitter für die ihm vor Troja von einem Europäer seinerzeit angetane Schmach. Hatte Odysseus der eigentlich uneinnehmbaren Stadt das hölzerne Pferd untergejubelt, in welchem sich die Eroberer der Stadt verborgen hielten, so entsendeten die Nachfahren der damals Besiegten nunmehr allerlei Boote über das Mittelmeer, ihre Zuwanderer über die Gebirge und geifernde Hass-Prediger in das ahnungslose Abendland. Alle die wurden dort freundlichst aufgenommen, weil es bei den Gebildeten als generös gilt, den Fremdling aufzunehmen und seinen Marotten gegenüber tolerant zu sein. Koste es, was es denn wolle, - selbst auch das eigene Leben. Als man die Sache schließlich näher betrachtete, war es bereits zu spät. Mehr will ich davon aber nicht wissen, mich dauert der Untergang dieser weit entwickelten Civilisation. Was hatte ich nicht schon alles andere auf bedeutend vielversprechenderen Planeten beobachten müssen. Wo Jahrmillionen nichts richtig losging und die Phase von Viren und Katechoklasmen nie wirklich überwunden wurde, - einfach keine Entwicklung vorankam. Aber dort hinten, die Erde – schade drum. Am Schlimmsten dann war natürlich der chaotische Einfluss, den die Russen auf die ganze Sache genommen haben. Wenn kleine Leute Einfluss gewinnen, dann geht es meistens schief. Ein ehemaliger KGB-Offizier im ostdeutschen Elbflorenz hatte genügend Zeit gehabt, den sächsischen Menschentyp zu studieren. An eine Litfaßsäule gelehnt und mit einer Bockwurst in der Hand brachte der aufgestiegene Hinterhofjunge wahrlich meisterhafte Milieustudien zusammen. Als er dann aber wieder in Moskau zu Hause angekommen war, verspann er die in der Pubertät gelesenen Bücher von Solowjew, Ouspensky und Berdijajew mit den Vorlesungsmanuskripten Alexander Dugins - und mit seinen eigenen neidvollen Beobachtungen damals an der Elbe. Als der Rubel abstürzte, das Öl sich verbilligte und noch einige andere Dinge sich ereigneten, betätigten betrunkene Genossen jene Hebel, über die eigentlich fast schon Gras gewachsen war. Aber eben nur Gras. Der Photonen-Feuerstrahl meines von der Erde fliehenden Schiffes zeigt in die Richtung, von woher ich eben noch losmachen konnte, als die Raketen des Hasses aufstiegen und die giftigen Pilze der atomaren Kernspaltungsorgien in den Himmel qualmten. Schade um diesen so schönen hellblauen Ball.

Mein Vorschlag, den ich dem Rat sofort nach meiner Rückkehr auf den Planeten Scriptomania vorlegen werde, besteht darin, an einen bestimmten Punkt der Geschichte der Erdlinge den Terminator X-1001 andocken zu lassen, um in der Form eines (meinetwegen auch bärtigen) Propheten die sattsam bekannte wirre Fehlform des orientalisch sich sehr problematisch entwickelnden Christentums heimlich in solche Bahnen zu lenken, die dann später im Zeitalter der Spätrenaissance leichter zu adaptieren sein würden. Eine Lehre nämlich habe ich in den 5.800 Erdenjahrbeobachtungen gezogen: Reine und distanzierte Betrachtung der Erdlinge hilft gar nichts und bringt immer nur wieder Pegida hervor. nein, nein - man hätte eingreifen müssen, - an den richtigen Stellen mit geeigneten Mitteln. Und natürlich verdeckt, damit die Verschwörungstheoretiker, ohne die es auf keinem Planeten zu gehen scheint, etwas zum fabulieren haben.

Ich sehe die Lichter der Landedimension von Scriptomania bereits freundlich vor mir flackern. Ans Werk! Meine sechs Aufzeichnungen über das Volk derer von und zu Pegida lege ich hier im Archiv ab, und zwar unter der Signatur "recall1056".

Sven Mossadi Ibn Danielski-Flat (Erzoberarchivoffizier auf Scriptomania)

Leberecht erstaunte. Offenbar bezog sich dieser sonderbare Bericht schon gleich ganz am Anfang auf seine - Leberechts - eigene seinerzeitig adventliche Reise an die Enden und Ecken des Seins, die man kurz vor dem Umzug in das Dresdener Altersheim "Abendsonnenfrieden" hatte unternehmen dürfen. Der treue Leser kennt den Bericht aus den Kapiteln eins bis zwölf des vorliegenden Berichts, den wahrzunehmen er hier die Chance hat.
Auch der Raumzeitgleiter PURGATORIO war also wohl noch existent? Jemand hatte das Teil ausfindig gemacht und sogar auch noch das Kruzifix, welches ich - dachte Leberecht - damals von der Synode in Ephesus hatte mitgehen lassen?  Unglaublich ... Wie war das alles zu verstehen? Und wer war dieser Erzoberarchivoffizier auf Scriptomania namens Sven Mossadi Ibn Danielski-Flat? Nun - eines wusste man aber: Die PEGIDA-Zeit war schon lange vorbei. Die Dinge überleben sich - selbst solche. Alles hat eben seine Zeit. Aber - dass es mit dem Erdplaneten zu Ende gehen sollte, das schmeckte Leberecht gar nicht. Er wandte sich also der ihm anempfohlenen Lektüre wieder zu und fuhr fort zu lesen. Es handelte sich nun wohl tatsächlich um den ersten Teil eines Berichts über die Visitation des Erdplaneten ...

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bald mehr. Alles andere von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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