Hymnus der Silvesterrakete
Leberecht Gottlieb (Teil 118)
118. Kapitel, in welchem sich Leberecht Gottlieb an ein Gedicht erinnert, selbiges ihn vor langer Zeit in bereits trunkenem Zustand angefunden und ihm von einer schweifenden Muse am Silvestertage des Jahres 1995 zugespielt ward ...
Leberecht Gottlieb saß nun wieder allein in seiner Kammer, in seiner Zelle - im Gefängnis dieses sonderbaren Geheimdienstes. Ob es der russische war oder gar der Mossad selbst - denn man befand sich wohl immer noch in Jerusalem? war dem greisen Pfarrer aus Sachsen unklar. Man hörte jedoch von Zeit zu Zeit den Ruf irgendeines fernen Muezzins durch die Mauern dringen. "So laut können diese Leute schreien!" dachte Leberecht bei sich selbst und ergänzte: "die Kirchenglocken sind viel leiser - sie dringen nicht durch!" Also musste man wohl doch noch in der heiligen Stadt sein. Und weil seit einiger Zeit auch die Knallkörperwerfer und Raketenabschießer draußen auf den Straßen ihre pyrotechnischen Erzeugnisse gen Himmel abfeuerten und in Leberechts Zelle ganz oben ein kleines Fenster sich befand, stellte unser Held sich vorsichtig auf seinen Stuhl und erhaschte mit den Augen tatsächlich ein paar feurige Kometenchweife und Sternexplosionen. Sofort erstand der kleine Text jenes Hymnus' vor seinem geistigen Auge. Das Gebet einer kleinen Silvesterrakete. Ja, - auch die Dinge beten. Alles betet. Die Welt selbst - ist ein großes hie und da auch misslungenes Gebet. Und Leberecht rezitierte seine eigenen Worte in die Dunkelheit des Raumes hinaus. Und das klang so:
Allherrscher der Dinge!
Gib, dass ich brenne.
Nicht, dass ich versage,
am höchsten Punkte
der Flugbahn noch scheitre.Heut kauft’ mich ein Herr.
In grüngoldener Schachtel –
da lag ich so stolz.
Er trug mich zum Block,
dort haust er mit Vielen.Und Samstag, zur Nacht,
da werd ich zerschellen.
Am Himmel in Farben -
um Licht in das Dunkel
Euch Menschen zu senden.Dann freuet Euch alle.
Ich fürchte die Stunde.
Salpeter bin ich, bin Schwefel und Kohle.
Aus Strontium mit Kali,
Magnesium und Leim.O laß doch, Du Höchster,
o laß es gelingen –
wenn ich da oben
in Funken zerstiebe,
den Menschen da unten.Und gib, dass mein Körper
drauf friedlich und leise
und ohne Feuer und Schaden zu stiften,
ganz demütig aufschlägt
am Rücken der Erde.Zum Morgen sende mir fröhliche Kinder.
Die finden mich frühe
und basteln aus Stöckchen
und Hülse was Feines.
O Gottheit!I Dich preis ich.Du gabst mich - so gab’s mich.
Danksagung für alles!
Im Schaufenster lag ich
mit Schwestern und Brüdern.
Ein Herr kam und kaufte.Nur mich erwarb er mit sinnender Mine.
Er trug mich gar achtsam.
Die Kindlein bestaunten
die glänzende Pappe.
Sie riefen: "Laß´ fliegen“!Doch „Nein“, sagt der Vater.
„Silvester muss werden erst,
scheiden die Jahre.
Dann wird mit Segen
die Zündschnur entzündet,dem Himmel zu senden,
der schwärzlichen Sphäre,
die über uns abrollt
seit Menschengedenken
die kleine Rakete.”Da schrieben sie auf
drei wagenden Wünsche:
„Arbeit für Vater,
ein Geld auf dem Konto
und Friede auf Erden."Sie schrieben auf Zettel,
die hängen am Hals mir.
Da hängen sie sichtbar,
und hängen sie deutlich.
Es stehet geschrieben:„Dass unsre Nachbarn
nicht immer nur saufen,
den Hund nicht verprügeln.
Der Bruder nach Haus kommt -
die Kirche nicht einstürzt."Und ich, die Rakete,
ich fürchte die Stunde,
doch will Eure Wünsche,
ans Himmelszelt tragen.
Da oben spreng ich ihr enges Gefängnis,nach siegreichem Knalle
zur Erde ich falle,
wo spielende Kinder
des neu wordnen Jahres
mich suchen und finden.Mögen die Sterne es sehen,
mögen die Engel es dulden -
und du, als Vollender
mich segnen beim Wirken
durch Tun oder Lassen.O gib, dass es glücke.
Auch schenk, dass es daure.
Wir bitten um Gutes –
für Dinge und Menschen
hier unten auf Erden.Und Amen … 💥
Als Leberecht diese Worte gesprochen hatte, ging die Tür auf. Der Agent Gendrich Novascholov trat ein und klatschte langsam mehrere Male gleichsam zum Applaus in die gepflegten Raketenwissenschaftlerhände. Dann setzte er sich und sagte: "Prost Neujahr, Herr Pastor Emeritus!" Weiter auf gute Zusammenarbeit. Er zog aus den weiten Taschen seiner grünen Uniformjacke zwei kleine Sektfläschchen und ebenfalls zwei Gläser aus Plastic, hielt dieselben prüfend gegen das Licht der summenden Neonröhre an der Zimmerdecke, nickte und goß das sprudelnde Nass aus den Flaschen in die Gläser. "Lassen Sie uns doch gemeinsam auf das neue Jahr anstoßen" meinte er und erhob die Hand mit dem Sektglas zum Toast. "2025 wird uns allerhand zumuten." Leberecht stand auf, ergriff das ihm gereichte Glas, roch daran - und rief: "Prüfet alles - und das Gute behaltet!" Dann tranken sie, setzten sich wieder und schauten einander an. Das neue Jahr hatte begonnen oder war - sozusagen - angebrochen worden ...
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