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WORT UND WAFFE
DER SELTSAME BESUCH

„Ja - das muss etwa um abends halb eilf gewesen sein, als es an der Tür klingelte und danach heftiger Lärm erscholl, welcher nicht mehr enden wollte” antwortete Bertha Wohlgemuth auf die Frage des freundlichen Kriminalbeamten, der die alte Frau gebeten hatte, ihm der Reihe nach die Vorkommnisse der letzten Stunde zu berichten.

Bertha Wohlgemuth war Kirchrechnerin der Gemeinde Sankt Maxima in der Stadt Merseburg gewesen, - allerdings alterswegen bereits seit zehn Jahren entpflichtet. Aber jeder kannte sie noch als die Person, welche in der alten DDR Kirchensteuern eingetrieben, darin recht beachtliche Erfolge erzielt und sich von renitenten Zahlungsunwilligen nicht hatte einschüchtern lassen.
Kriminalobermeister Müller, der den Bereitschaftsdienst für seine junge Kollegin Sophie Haas an diesem Tag samt problematischem Abend und sonderbarer Nacht bis früh um sechs Uhr übernommen hatte - also den Halloweentag, der in seriöseren Kreisen immer noch Reformationsfest heißt - setzte sich auf den ihm angebotenen Küchenstuhl und schaute in die Runde. Das Mobiliar entsprach hier immer noch dem zu DDR-Zeiten üblichen Design. Alles war einfach und nützlich eingerichtet. Auf der Wachsdecke des Tisches lagen TV-Fernbedienung und ein benutztes blaues Büchlein oder Heft.

Bertha Wohlgemuth war sichtlich noch schockiert von den eben erst zurückliegenden Ereignissen. Sie schluchzte sogar ein wenig und sagte dann mit tränenerstickter Stimme: „Herr Kriminalobermeister, ich wollte das doch nicht. Ich habe mich ja nur verteidigen müssen!" Daraufhin pochte sie mit den Knöcheln ihrer rechten Hand auf das Losungsheftchen, welches die harten Stakkatowirbel der Rentnerinnenhand allerdings abfederten, so dass es keinen lauten Ton gab, sondern nur ein Patschen wie bei einem schallgedämpften Kleinkalibergewehr. Sven, der Urenkel der Frau Wohlgemuth, war Jäger und ließ seine Großmutter einmal mit auf die Pirsch gehen. Da hatten sie einem Fuchs aufgelauert - und der Fuchs war nicht auf der Hut gewesen. Deshalb schmückte sein Pelz heute den Kragen des Wintermantels von Frau Wohlgemuth. Und den Schuss, der dem Fuchs den Pelz gekostet hatte, war der Kirchrechnerin noch in bester Erinnerung. Ein leises Patschen, wie wenn man auf das blaue Losungsbüchlein der Herrnhuter Brüder klopfte.

Kriminalobermeister Müller bat nun Frau Wohlgemuth noch einmal eindringlich um genaue Schilderung des Tathergangs. Schließlich seien unter Umständen vier Personen erheblich zu Schaden gekommen und man müsse ausschließen, dass sie, Frau Wohlgemuth, dabei schuldhaft beteiligt sei. „Oh Gott, oh Gott, Herr Kriminalobermeister! Kann denn ein so kleines Büchlein, so großen Schaden anrichten?” rief Frau Wohlgemuth und hielt das Heftchen in die Höhe. Der Kriminalobermeister fragte, was das überhaupt für ein Heftchen wäre. Von der Farbe her erinnerte ihn das Druckerzeugnis an eine Werbeschrift der AfD-Partei. Dasselbe Blau. Aber rot war nicht dabei. Sondern nur weiße Schrift. Irgend ein Lösungsheft vielleicht für Kreuzworträtsel oder SUDOKU. Alte einsame Leute beschäftigen sich mit sowas. Jedenfall stand LOSUNGEN darauf. Die Ö-Strichelchen fehlten jedenfalls. Sicherlich  hat es was mit irgendwelchen Lösungen zu tun, folgerte der Kriminalobermeister messerscharf und fügte jetzt ein wenig barscher im Tonfall hinzu: „Nun erzählen sie alles, Frau Wohlgemuth. Aber bitte nichts als die Wahrheit!”

Frau Wohlgemuth fing wieder mit ihrem „Oh Gott, oh Gott, Herr Kriminalobermeister! Kann denn ein so kleines Büchlein, so großen Schaden anrichten?” an - dann aber setzte sie sich kerzengrade auf dem zweiten Küchenstuhl, auf dem sie saß, hin - und berichtete wahrheitsgetreu, was sich um etwa halb eilf Uhr, wie sie als Merseburgerin sagte, bei ihr zugetragen:

Man habe gerade im Fernsehfunk - Frau Wohlgemuth sagte wirklich dieses uralte Wort aus DDR-Zeiten - die Sendung „Monk” auf RTLup verfolgt. Da ginge es auch um einen Kommissar, genauso wie er Kriminalobermeister sei, wäre dieser Herr Monk auch einer in der Art. Nun - dieser Kriminalmensch Monk scheint ein wenig außer Kontrolle zu sein. Manchmal. Er könne zum Beispiel keine schiefhängenden Bilder ertragen - und hänge solche Bilder dann immer auch millimeterweise gerade. Und sei von Hause aus Angehöriger der mosaischen Religion. Das mache aber nichts, weil er die schlimmsten Fälle mit rätselhafter Überlegenheit stets lösen könne. Also - gerade da, als der Herr Monk wieder diesen sonderbaren Blick zeigte, der irgendwie ins Unendliche greift - wenn der Herr Kriminalobermeiser versteht, was damit gemeint ist - klingelte es an der Tür. Halb eilf - wer könne das denn sein? Aber sie habe sich natürlich sofort an diese aus den USA herübergeschwappten Halloweenbräuche erinnert und habe gleich die Bonbontüte, welche sie vorher am späten Nachmittag in der Kaufhalle erworben, in ihre Hand genommen und die Haustüre bereitwillig geöffnet. Da hätten sie dann alle vier gestanden, die vier Leute. Kinder waren das nicht, sondern erwachsene Leute. Schwarze Gestalten, denn sie hatten sich in schwarze Bettlaken gehüllt und nur die Gesichter waren weiß wie bei einem Totenkopf, so weiß. Es sei allererschreckend anzusehen gewesen. Macht man denn das - schwarze Bettlaken?

Sie hätten sich nicht bewegt - sondern einfach nur so da gestanden. Sie hätten auch weder das bekannte „Süßes oder Saures” gerufen, wie die Kinder es machen, wie man es weiß - oder andere Worte. Sie hätten nur drohend geguckt und hätten genau auf der Schwelle da gestanden, immer nur so da - man konnte die Türe nicht mehr zu machen. Sie habe dann dem vordersten Geist - wissen Sie Herr Kriminalobermeister, wie dieser Geist gerochen hat? Ach, das wolle sie lieber gar nicht näher beschreiben. Ihm habe sie die Tüte mit den Gummibärchen gegeben, „Guten Appetit” gewünscht und dann gesagt „Bitte gehen Sie!” Aber die vier haben da gestanden und wären langsam zentimeterweise in den Hausflur vorgerückt und haben immer so geguckt. Durch die weißen Masken. „Oh Gott, oh Gott, Herr Kriminalobermeister! Kann den ein so kleines Büchlein, so großen Schaden anrichten?” rief Frau Wohlgemuth wieder und nahm das Losungsheftchen in ihre alten Hände. Der Kriminalobermeister sah diese Hände und erinnerte sich an die Hände von Albrecht Dürers Mutter. Sie sahen genauso aus. Vielleicht ähneln sich die Hände der alten Frauen zum Schluß wie ein Ei dem anderen, dachte er und fragte: „Und dann?”

Ja dann, meinte Frau Wohlgemuth habe sie die Gummitiertüte fallen lassen und sei in die Küche zurück geeilt. Habe das Losungsheftchen der Brüdergemeinde zur Hand genommen und … Kriminalobermeister unterbrach den Bericht der alten Kirchrechnerin Wohlgemuth: "Was für eine Gemeinschaft ist das. Was für Brüder sind das denn?" Fragte der Kriminal und erinnerte sich an ferne Bruderschaften vom Norden des Planeten, wo ganz früher die Wikkinger gehaust und ihre Raubzüge unternommen - bis zum Süden hin, in welchem Gebiet auch allerlei Bruderschaften ihr sattsam bekanntes Unwesen bis auf den heutigen Tag treiben. Ja - nun, das seien eben fromme Christen, die für jeden Tag einen guten Spruch mit Erklärungen erlost haben, meinte Frau Wohlgemuth und merkte, dass der Polizist keine Ahnung von dem Grafen Zinzendorf und seinen Sprüchen haben musste. Deshalb heißt das Büchlein auch Losungsheft. Sie habe dieses Büchlein genommen und den Tagesspruch aufgeschlagen und laut rufend gegen die geisterhaften Eindringlinge vorgelesen. Wie Mose und Aaron im Palaste des Pharao und später in der Wüste auch. Da hätte es zweimal wie eine Verpuffung gegeben und die zwei vorn stehenden Geistergestalten hätten sich in üblen Rauch aufgelöst. Die beiden anderen aber hätten nun ihre Arme gegen sie ausgestreckt und seien immer mehr in die Wohnung herein getaumelt, wie man es in den Zombiefilmen immer sieht. Schrecklich! Da hätte sie zusätzlich auch noch den Lehrtext aus dem Neuen Testament gerufen. Und dann hätte es wieder diese Verpuffung gegeben und die beiden anderen seien auch verschwunden.

Sie selber konnte sich nach solchem Geschehniss lange nicht fassen, sei dann vor die Tür getreten und dort war ihr diese sonderbare Flüssigkeit im Rinnstein aufgefallen. Da dachte sie, es könne wohl oder übel auch Blut sein und hätte deshalb flugs die 110 gerufen, wie man es aus dem Fernsehfunk kennt. „Oh Gott, oh Gott, Herr Kriminalobermeister! Kann den ein so kleines Büchlein, so großen Schaden anrichten?”

Der Kriminalobermeister sagte nun in Richtung der Frau Wohlgemuth, dass kein Schaden ohne Nutzen sei. Zumindest sei diese Geschichte, welche er hier am Halloweenabend gehört habe, nicht nur rätselhaft, sondern ... dann suchte er nach einem treffenden Wort ... und entschied sich schließlich für den Begriff 'ungewöhnlich und erstaunlich.' Jedoch müsse man das Lösungsbüchlein, wie sie es nenne, leider behördlich gleich einziehen und mitnehmen. Nicht gerade beschlagnahmen, denn es handele sich ja nicht um einen verbotenen Gegenstand. Aber u.U. müsse man bedenken, dass das Büchlein den Zweck einer Waffe erfüllen könnte - bzw. hier und heute tatsächlich auch erfüllt zu haben scheint, wenn dieses alles auch im Falle von mutmaßlicher Notwehr bzw. Nothilfe. Allerdings man müsse unbedingt ausschließen, dass es sich in ihrem Falle nicht doch um den Tatbestand sogenannten unerlaubten Waffenbesitzes handle. Der Sachverhalt müsse überprüft werden. Sagte der Kriminalmann und nahm das Büchlein mit den Lösungen vom Wachstuch des Küchentisches an sich, steckte es ein und empfahl sich etwa gegen 1.33 Uhr des Allerheiligentages.

Frau Wohlgemuth winkte ihm nach und murmelte immer wieder: „Oh Gott, oh Gott. Kann den ein so kleines Büchlein, so große Dinge anrichten?” Denn Schaden war ja eigentlich nicht entstanden. Das würde der nette Polizeimann sicher herausfinden. Zwecks Überprüfung eines Sachverhalts, wie es hieß. Aber dann rief Frau Bertha Wohlgemuth dem entschwundenen Herrn Müller noch nach: „Sie müssen mir das Büchlein nicht zurückgeben. Ich habe ja noch zwei andere und für 2025 ein ganz neues." 

Solches aber hatte der Kriminalobermeister schon nicht mehr gehört, denn er saß in seinem Automobil und fuhr nachdenklich langsam seiner Dienststelle zu, um die sonderbare „Waffe der alten Frauen", wie er das Teil bei sich selbst schon zu nennen begonnen hatte, einer genaueren Überprüfung zu unterziehen. Frau Wohlgemuth für ihren Teil war inzwischen wieder in die bescheiden eingerichtete Küche zurückgekehrt, um sich dort den Monk-Film im Fernsehfunk per Mediathek vollständig anzusehen. Es war etwa gegen 2.45 als der Film zu einem guten Ende gekommen war. Der Allerheiligentag war längst angebrochen, morgen bereits Allerseelen - und der Herr Kriminalobermeister Müller ein netter Mann ... 

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Losungen für den 31.10.2024
"Jene verlassen sich auf Wagen und Rosse; wir aber denken an den Namen des HERRN, unsres Gottes."
Psalm 20,8

"In keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden."
Apostelgeschichte 4,12

Autor:

Matthias Schollmeyer

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