der Zwölfjährige und
der Tempel
Wer am 2. Sonntag nach Weihnachten einen evangelischen Gottesdienst besuchen oder im Fernsehen verfolgen möchte, wird mit der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel beschert. Folgendes war passiert: Nach einer Pilgereise zum Jerusalemer Heiligtum kehrt der kleine Jesus mit seinen Eltern und dem Pilgertross nicht mehr nach Hause zurück, sondern verbleibt im Tempel. Dort finden ihn die Eltern nach lange ergebnislos verlaufener Suche und machen ihm Vorwürfe. „Was konntest du uns nur antun! Wir haben dich mit großer Sorge gesucht.” Jesus antwortet souverän: „Wo habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist?”
Man kann die kleine Story zum Anlass nehmen, sich wieder einmal ernsthaft zu fragen, wo Jesus zu finden ist. „Überall!” sagen die einen. „Also Nirgends!” spotten die anderen. Der Text sagt, dass Jesus im Tempel gefunden wird. Die christliche Ikonographie hat im Laufe der beiden Jahrtausende, in denen das Christentum umgeht, zahlreiche Bilder dieser Szene hinterlassen. Meistens sehen wir den jungen Jesus in der Mitte einer Schar alter lauschender Männer sitzen - und dozieren. Seine greisen Zuhörer staunen - und sind ergriffen. „Woher weiß der Kleine das alles, was wir Großen nur noch mühsam erinnern?” Er weiß es eben.
Die Geschichte ist ebenfalls zum Anlass dafür genommen worden, die Theorie von der ANIMA NATURALITER CHRISTIANA zu bestärken. Diese Theorie besagt, dass die Seele des Menschen von Natur aus christlich ist. Das heißt - dass sie gut ist und um das Wahre, Schöne und deshalb eben auch Gute weiß. Jeder im Laufe der Zeit irgendwie zur Bestie gewordene Mensch weiß also im Grunde seines Herzens doch immer noch von der ehemaligen Göttlichkeit, die er besessen und - leider - verraten hat. Wenn dem so wäre, wird die Sache zugleich ernst UND verheißungsvoll. Das bedeutet nämlich: „Wehe dem, der sich und anderen wehe tut.” Und zugleich heißt es auch: „Du kannst dich ändern, denn in dir lebt der Abschein eines makellosen Urbildes. Du weißt um das Gute. Lass dich nicht von Täuschung und Lüge verführen. Du kennst das Wahrhaftige noch und kannst davon berichten!” Oder anders gesagt: „Du findest dich" - wenn man es so nennen will meinetwegen auch als inneres Kind - "in den Tempeln, die deine Vorfahren an den Rand des Schiefergebirges oder woanders auf der Welt hingebaut hatten und ausgemalt haben. In den Tempeln der Christen findest du den zwölfjährigen Jesus und seine Wahrheit.”
Traurig ist's allerdings, wenn diese Tempel oft verschlossen sind ... Schlimm war auch, dass wir lernen mussten, wie zuweilen das Amt von solchen Menschen bekleidet wurde, die an den Großinquisitor aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow” und Schlimmeres erinnern. Aber gerade auch wegen und trotz aller Missstände bei Thron und Altar - der Jesus geht mit den Seinigen nicht einfach wieder nach Hause, nachdem er zum Heiligtum gepilgert und angebetet hatte. Nein - er ist noch dort und sucht gemeinsam mit uns immer noch in den Antworten auf die Fragen nach Welt und Leben. Mag sein, dass ihm gegenwärtig nur die Krippenfiguren, der Weihnachtsbaum, die geschnitzten Engel und die Bilder an den Emporen gespannt zuhören. Aber - es mögen wohl recht bald andere Zeiten kommen.
Dies ist keine Drohung!
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