vom Zeugnis für die Wahrheit
IM STREIT
Haben Sie schon einmal jemandem am Rockzipfel ergriffen und versucht, ihn aufzuhalten? Wenn nicht, dann können wir uns jetzt selbst am Zipfel des folgenden Bildwortes festhalten. In unserem Predigttext heißt es:
„Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.” (Sacharja 8,23).
Wo kommt der Rockzipfel noch vor? Man hängt der Mutter am Rockzipfel, sagt man, und will damit ausdrücken, dass jemand noch nicht für sich selbst einstehen kann oder will. Eine andere Variante finden wir bei Bernhard von Chartres (um 1120): „Wir stehen auf den Schultern von Riesen, deshalb sind wir so groß.” Oder aus der Perspektive des kleinen Mannes Napoleon Bonaparte, als er in Ägypten bei den Pyramiden stand, klingt es folgendermaßen: „Jahrtausende schauen auf uns herab!” Alle diese Worte versuchen darzustellen, dass wir Orientierung suchen oder Halt gefunden haben oder finden möchten an etwas, das größer oder bedeutsamer ist, als wir selbst es aus uns selber sein können.
Im Evangelium des heutigen Sonntags hören wir von einer fast nebensächlich zu nennenden Begebenheit, welche im Umfeld des Meisters Jesus geschehen sein soll und von der Markus und Matthäus Ähnliches berichten. Es geht um den Streit - besser gesagt: Um das qualifizierte Streitgespräch an sich. Hier die leicht gekürzte Markusversion:
„Als sie stritten, hatte ein Schriftgelehrter zugehört. Der merkte, wie Jesus doch so gut parierte. Und deshalb fragte er: »Was ist am Wichtigsten?« Jesus: »Höre … der Ewige … ist’s allein. Du sollst den Ewigen … lieben … mit all deiner Kraft. Und was anderes noch: »Du sollst deinen Nächsten lieben, denn der ist wie du!« Da meinte der Schriftgelehrte: »Recht geredet, Meister!« Drauf Jesus: »Du bist nicht fern vom Reich Gottes.« Und keiner wagte mehr, ihn weiter zu befragen.”
Der griechische Philosoph Heraklit (520-460 v. Chr.) hat uns einen wichtigen Satz hinterlassen: „Streit ist der Vater aller Dinge.” Gemeint ist der faire Streit, den man früher ganz richtig im Bereich der Künste angesiedelt haben wollte. Im Umfeld der Jesus-Leute wurde und wird bis heute um die Wahrheit gestritten - und bei diesem Streitobjekt geht es in erster Linie nicht um den Sieg, sondern um ein Zeugnis für die Sache der Wahrheit. Und wir lesen, dass einer dem Gespräch zugehört hat. Auch das Zuhören-Wollen bzw. Zuhören-Können ist eine Kunst. Echte Schriftgelehrte hören genau zu - und fragen dann selber nach. Denn es geht eigentlich bei Allem tatsächlich um jenes Höchste, über das Höheres hinaus nicht gedacht werden kann. Um nichts ist mehr gestritten und am Ende gemordet worden als um die Frage nach dem einen, was wirklich wahr ist. Wann aber führt der Streit, der vielleicht qualifiziert und fair begonnen hat in die Gefahr? Wenn es nicht mehr um das Zeugnis für die Wahrheit geht, sondern um den Erhalt der eigenen Macht. Dann ist Gefahr. Macht und Wahrheit müssen deshalb entkoppelt bleiben - und wo sie es nichtmehr sind, entkoppelt werden. Die Wahrheit darf für sich selbst keine Macht beanspruchen, sie gewinnt diese immer nur aus sich selbst. Und die Macht darf sich der Wahrheit nicht in den Weg stehen - sonst wird sie böse.
Ein Blick in die Geschichte vergangener und gegenwärtiger Tage lehrt: Wenn der eigene Niedergang bestimmten politischen Parteien offenbar geworden ist, versuchen sie, ihre politischen Gegner absichtlich falsch zu verstehen, ihnen die Worte zu verdrehen, aus dem Zusammenhang zu reißen, um aus der dadurch bei den Zuhörern entstehenden Verwirrung eigene Vorteile zu ziehen. Diffamieren, Isolieren, Liquidieren. In diesem Dreischritt versuchte die DDR-Stasi jene zu beseitigen, die dem längst seinem verdienten Untergang geweihten Arbeiter- und Bauernstaat einen Spiegel vor das Gesicht gehalten hatten. Man hörte nicht mehr zu - und wollte auch gar nicht mehr zuhören, sondern hatte sich von der Frage „was das Höchste sei” ganz bewusst abgekoppelt - und sank damit um so tiefer. Manche sagen, dass wir heute wiederum in solch einer Zeit leben. Haben sie damit Unrecht? Auf jeden Fall bleibt die Frage bestehen: Was ist wirklich wichtig? Was ist das Höchste? Was gilt es im Blick zu behalten? Was darf nicht vergessen werden?
Der Schriftgelehrte bekommt auf seine Frage von Jesus eine doppelte Antwort. Es sind nicht die Waffen, es ist auch nicht die Heimat, weder höherer Mindestlohn, noch Gender-Sprache oder Klimakampf. Das alles ist nicht das Höchste, von dem ausgehend man deduktiv Weisungen und Gebote für den Alltag ableiten könnte. Sondern? Gott lieben wie sich selbst - und den Nächsten, denn er ist wie du. Die geniale Formulierung „wie Du” stammt von Naphtali Hirz Wessely (1725-1805) und akzentuiert noch einmal in ganz besonderer Schärfe die bekannte Wendung: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” Übrigens ist von Nächstenliebe die Rede, nicht von Fernstenliebe.
Jesus lässt sich auf den Dialog mit dem Mann aus der Schriftgelehrten-Partei ein, die sonst meistens nur seine Gegner und am Schluss offenbar auch die Drahtzieher des Justizmordes am Kreuz stellte. Christen haben aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments viel gelernt - wenn auch nicht immer beherzigt und angewandt. Reichlich tausend Jahre später hat Thomas von Aquin uns gelehrt, den Streit damit zu beginnen, die Argumente der Gegner besser darzulegen, als diese es selber gekonnt hätten - und sie erst dann zu widerlegen. Wenn wir auf den Evangeliumstext genau hören, merken wir: Wer streitet, wird dabei auch von einzelnen kompetenten Leuten (den Schriftgelehrten) beobachtet, nicht nur von der dumpfen Masse Mensch, die sich heute hierhin lenken und morgen dorthin verführen lässt. Wir lernen heute anhand eines kurzen Bibelwortes, wie das Höchste mit dem Niedrigsten verbunden bleibt - das fernste Göttliche mit dem Allernächsten eine Einheit bilden. An dieser Stelle haschen wir nach dem Rockzipfel der Weisen, die vor uns waren und auf deren Schultern wir stehen.
Besonders lehrreich - wenn auch nicht weniger problematisch - ist, dass wir am Schluss des Predigtextes bei Markus und auch bei Matthäus lesen, wie am Ende „keiner mehr Fragen zu stellen” wagt. Es kann nun durchaus sein, dass sich alle weiteren Fragen erübrigt hatten, weil die Sache klar war. Könnte aber auch sein, dass die Menschen Angst hatten, weiter zu fragen. Das muss uns zu denken geben! Viele sind auch heute besorgt, am offenen Diskurs der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Parteiungen sich qualifiziert zu beteiligen. Die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht gespaltener denn je. Schnell kann man einiger deutlicher Fragen wegen ins soziale Abseits bzw. schlimmer geraten. Vorsicht also vor denen, die uns das Nachfragen und die freie qualifizierte Meinungsäußerung nicht mehr erlauben möchten. Wahrscheinlich scheuen sie die Antworten auch besonders deshalb, weil sie dieselbe selber ahnen bzw. sogar besser als alle anderen schon genau kennen und wissen. Wer die Offenbarung der Wahrheit fürchtet, hat aber definitiv schon verloren. Denn "Streit ist der Vater aller Dinge!"
Die christliche Theologie mitsamt ihrer langen Dogmengeschichte ist das Gedächtnis der Kirche. Christen erinnern sich lange, lange Zeiten zurück - deshalb werden sie vor der Wahrheit nicht scheu und bleiben trotzdem guter Laune! In diesem Sinne - uns allen noch einen angenehm gesegneten Monat August!
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