Grammatik im Advent
zu Sacharja 9,9
Einer der wichtigen Texte für die angebrochene Adventszeit ist der neunte Vers aus dem neunten Kapitel des Prophetenbuches Sacharjas. Das ist auch der Spruch für den heutigen Sonntag und lautet in der Übersetzung Luthers:
„Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.” Den Spruch darf uns keiner nehmen - er soll bleiben, solange der Planet sich dreht. Die folgenden Gedanken wollen die Bedeutung dieses Prophetenwortes zusätzlich noch vertiefen - denn eigentlich müsste er anders übersetzt werden. Im Original sieht der Text so aus:
הנה מלכך יבוא לך צדיק ונושע
Der Begriff ונושע, der von vielen Übersetzern mit „ein Helfender” übertragen wird, ist im Hebräischen tatsächlich ein Partizip. Dieses gehört zum hebräischen Verbalstamm des sogenannten Niphal. Und wäre deswegen eigentlich passivisch zu übersetzen - nicht aktivisch! Der erwartete König bzw. Messias ist nach dem Urtext dieser Bibelstelle also nicht nur einer, der hilft, sondern eher einer, dem geholfen worden ist - bzw. geholfen werden muss. Wir listen im Folgenden ein paar Übersetzungen auf.
1. Elberfelder Bibel: „Siehe, dein König wird zu dir kommen: gerecht und ein Retter ist er.”
2. Revidierte Elberfelder: „Siehe, dein König kommt zu dir: Gerecht und siegreich ist er.”
3. Menge-Bibel: „Siehe, dein König kommt zu dir; gerecht und ein Retter.”
3. Hoffnung für alle: „Seht, euer König kommt zu euch! Er ist gerecht und bringt euch Rettung.”
4. Schlachterbibel: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Retter ist er.”
5. Neue Zürcher Bibel: „Sieh, dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich ist er."
Wir sehen, wie alle diese deutschen Übersetzungen das Partizip Passiv von HELFEN (ישׁע) philologisch sehr frei übertragen haben - wenn nicht sogar unpräzise. Das mag daran liegen, dass auch die lateinische Bibel und die griechische das Partizip Niphal an dieser Stelle unpräzise als Partizip Aktiv und nicht als Partizip Passiv übertragen haben:
6. Vulgata: „Ecce rex tuus veniet tibi justus, et salvator.”
7. Septuaginta: „Iδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι, δίκαιος καὶ σῴζων.”
Der Wunsch, dass einem selber geholfen werden kann und möge und auch wird, ist so groß, dass (sicher ganz unbewusst) auch die Grammatik zur Verbündeten gemacht wird. Dass es auch anders geht, zeigt die Gute Nachricht.
8. Gute Nachricht: „Seht, euer König kommt zu euch! Er bringt Gerechtigkeit, Gott steht ihm zur Seite.”
Das ist zwar auch sehr frei übersetzt, aber wir merken, wie der aktivische Charakter von וְנוֹשָׁ֖ע aufgeweicht worden ist. Gott stand ihm zur Seite. Dieses lässt uns annehmen, wie Gott ihm (dem Gerechten) geholfen hat. Der König wäre dann einer, welcher selber erst einmal Hilfe erfuhr - und deswegen helfen kann? Martin Buber hat es noch schärfer gesehen und übersetzt:
7. Martin Buber:„Nun kommt dir dein König, ein Erwahrter und Befreiter ist er.” Hier ist aus dem Helfenden tatsächlich einer geworden, dem geholfen worden ist.
8. Auch der Alttestamentler Wilhelm Rudolph ist in diese Richtung eingebogen und spricht in seinem Sacharja-Kommentar vom „König als einem Ehrengekrönten, der Hilfe reichlich erfahren hat.”
Schließlich erinnere ich mich an einen Vortrag des Alttestamentlers Gerhard Begrich vor zwanzig Jahren. Hier konnten wir erfahren, dass berichtet wird, wie Rabbi Nachman (Urenkel des Begründers des Chassidismus), als er diesen Text einmal längere Zeit meditierte, von seinen Schülern umgeben war. Und wie Tränen in seinen Bart rollten. Man hörte, wie er bei sich selbst sprach: „HERR, ich fühle Erbarmen mit dir!”
Ganz sicher bleibt Christus jener König, welcher zu uns kommen soll. Ein Gerechter ist er und damit ehrenbekrönt. Sicher wird er auch gern helfen - aber könnte es nicht sein, dass ihm dabei geholfen werden muss? Er ist der Gerechte, dem geholfen wurde und der immer noch unser Erbarmen braucht. So hat es Rabbi Nachmann - in der Mitte seiner Seele angerührt - festgestellt.
Vielleicht nehmen wir diese kleine Beobachtung aus dem Reiche der Grammatik in unsere Adventsfeiern auf - wir haben einen König, dem sich helfen lässt. Wie man helfen kann? Indem wir gern von ihm singen und erzählen. Gott hat sich aus sich selbst heraus in die Sprache hinein versetzen lassen wollen. Tatsächlich ek-sistiert er also im Modus seines Wortes, das er uns geschenkt bzw. sogar überantwortet hat, so dass es nun auch unser Wort ist. Fragte Nietzsche nicht so scharfsinnig: "Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben!" 1) Das stimmt. Gott und Mensch begegnen sich im erzählten Wort. Advent ist die Zeit des Erzählens solcher Geschichten, wie sie von Rabbi Nachman berichtet werden ...
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1) Nietzsche: Götzendämmerung, Die Vernunft in der Philosophie 5 (letzter Satz)
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