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Im Kloster
Leberecht Gottlieb (106)

106.  Kapitel, in welchem uns der Rosen- und Maulbeerbaumzüchter Pinchas - von heimlichen Freunden auch El Aynij genannt - schon ein wenig bekannt gemacht wird. Während Leberecht Gottlieb mit diesem Manne über dieses und jenes plaudert, schaut sich Wang Li Zhang inzwischen bei dem Gewächshause um und entdeckt Außerordentliches, worüber er kurz vor Mitternacht Leberecht etwas mitteilt …

Der Hausmeister des Klosters war gestern also recht bald unwirsch abgetreten und die beiden Ankömmlinge, der Chinese und Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb sahen sich mit dem alten Pinchas allein. Wang Li Zhang blickte sich im Gewächshaus um. Leberecht und Pinchas dagegen - sie mochten beide etwa im selben Alter sein - saßen bald im Abstand von etwa einem Meter sich gegenüber an einem hölzernen Arbeitstischchen, auf dem allerlei glänzende Gerätschaften abgelegt waren. Dabei handelte es sich um Messer, Scheren und eine Rolle Bast, weiterhin um ein Sirupfläschchen und dünne goldfarbene Metallfolie. Wang Li Zhang für seinen Teil schlenderte, wie schon gesagt, durch das Gewächshaus, welches vom Zahn der Zeit wirklich sehr in Mitleidenschaft gezogen geworden zu sein schien, hob hier eine Matte empor, um darunter zu spähen, zog dort einen alten Vorhang von einer kleinen Nische, welche verborgen worden war und staunte nicht schlecht, als er in dem hinteren Teil des Gartens sowohl einiger Rosenstöcke als auch grünender Maulbeerschösslinge ansichtig wurde, von welchen er Letztere sehr genau betrachtete, denn diese Pflanzen kannte er von der chinesischen Seidenraupenspinnerzucht her auf das Genaueste.

Leberecht Gottlieb hatte sein Köfferchen in der Flurhalle des Klosters stehen gelassen - aber den Heroldstab ließ er seit damals, als er ihn im Wüstensand vergessen, nie lange  aus den Augen und führte ihn immer mit sich. Was für Old Shatterhand seinerzeit der Henrystutzen gewesen, galt dem Emeritus dieser Stab nun, auf dem sich das Geburtsstundenbild seiner Ankunft hier auf Erden vor 85 Jahren abzeichnete - nur eben nicht als kreisförmiges Bild, wie es der normal informierte interessierte sternaffine Mensch kennt, sondern als Linie auf einem Stabe, der genauso lang geschnitten worden war, wie Leberechts Körpergröße maß.

Der alte Pinchas meinte nebenbei: "Habe lange keinen so schönen Stab mehr gesehen. Den letzten, den ich wahrnahm, hatten vor drei Wochen ein paar junge Leute aus USA, die sich vor mir als deutsche Theologiestudenten ausgeben wollten, ich sie aber natürlich als Agenten aus den Staaten durchschaut habe. Ihr habt da, verehrter Herr Gottlieb, ein besonders feines Exemplar - und die Planetenringe sind tatsächlich aus solchem Material, wie Dankreither in seinen Schriften es deutlich beschrieben hat."

Die Unterhaltung führte man übrigens in Englisch und auf Deutsch. Fachbegriffe wurden auch manchmal mit dem guten alten Latein präzisiert, wie es in einem Kloster auch nicht anders zu erwarten war. Man tastete sich in diesem Gespräch, welches etwa eine Stunde dauerte, behutsam gegenseitig ab. Und es stellte sich heraus, dass der Herr Pinchas überhaupt nicht verrückt war, wie der dumpfsinnige Hausmeister es hatte wissen und verkünden wollen, sondern einen äußerst feinen Herrn vorstellte, der encyklopädisch gebildet schien und von allem, was Leberecht auch immer interessierte, Ahnung bzw. sogar profunde Kenntnis besaß. Wir wollen hier den gesamten Dialog nicht aufführen, sondern nur erwähnen, dass dieser Pinchas auch einen zweiten Namen trug - derselbe lautete El Aynij, was übersetzt soviel wie „Gott meines Nichtsseins” bedeutet und im Lateinischen vom Namenseigner selbst mit der Formel Deus nentis mihi wiedergegeben wurde - woran sich ein weiterer Dialog anschloss, ob es nicht eher deus noentis mihi heißen sollte, was Pinchas aber nicht gern hören wollte. Das aber nur nebenbei - wir werden auf den feinen Unterschied in einem der nächsten Kapitel zurückkommen müssen.

Pichas alias El Aynij erhob sich bald, wies darauf hin, dass der Abend schon weit fortgeschritten war und die Nacht bereits hereinbrach; er führte die beiden Gäste aus dem Gewächshause in einen abgelegenen Trakt des armenischen Klosters, um Leberecht und dem Chinesen dort eine Schlafstätte zuzuweisen. Mit einem Imbis würde er erst am kommenden Morgen dienen, meinte er leichthin, was er für die Zwischenzeit aber anbieten könne, seien überaus schmackhafte Maulbeeren vom Morus-Nigra-Baum. Und damit wies er auf eine große Tonschale voll dieser Früchte hin, welche unter einer schweren Glasglocke ruhte und angefüllt war von etwa drei Pfund dieser köstlich duftenden, schwarzen und saftigen Früchte. Leberecht griff zu und auch der Chinese langte in die Schale, die sich schnell leerte - dann machte man noch kurz Abendtoilette und sank in die sonderbaren Betten, welche viel zu weich und mit irgendwelchen unphysiologisch geformte Matratzen ausgestattet worden waren und sonderbar rochen. Da man aber rechtschaffen müde geworden, sank man doch recht bald in den Schlaf - aus dem Leberecht, wie wir im vorigen Kapitel den treuen Lesern berichtet haben - zur Mitternachtsstunde erschrocken auffuhr.

Bevor er aber einschlief, und auch der Chinese sich erst an der Grenze zum Traume befand, berichtete dieser noch davon, was er hatte entdecken dürfen, als man im Garten umhergewandert war. Wang Li Zhang erzählte, dass dieser Pinchas ein Genie sein müsse, denn er beschäftige sich mit der Kreuzung zweier eigentlich nicht zusammengehöriger Pflanzensorten. Er, Wang Li Zhang, habe mit eigenen Augen gesehen, wie einem Früchte tragenden Maulbeerbusch wirkliche und tatsächliche Rosenblüten entsprossen wären. Und das sei botanisch eigentlich unmöglich. Diese Rosen hätten zudem einen derart betäubenden Duft ausgesandt, dass er sich nicht erinnern könne, bei anderen Gewächsen der Art Rosaceae solcherart angetroffen zu haben.

Leberecht staunte und berichtete von einem Fachbegriff aus der Philosophie Viktor E.Frankls. Dabei handele es sich um die sogenannte „Trotzmacht des Geistes.” Diese bezeichne eine Fähigkeit des Menschen, trotz äußerlich widrigster Umstände sein Schicksal in die eigene Hand nehmen zu können, dies auch zu wollen und damit in gewisser Weise über sich selbst hinauszuwachsen. Solches gelinge aber nur dann, wenn der Mensch eine oder mehrere Sinnmöglichkeiten, welche zudem immer außerhalb seiner liegen müssten, selbst wahrnähme - und davon nicht mehr loskomme. Der Punkt sei, sagte er bereits fast schlafend, dass es sich wirklich lohnen müsse, für dieses Etwas, das außerhalb des Möglichen läge, persönlichen Einsatz zu zeigen. Frankl erörtere die Bedeutungen dieses menschlichen Potenzials, dessen Wirkung er durch seine eigenen Erfahrungen aus den Konzentrationslagern belegt, in denen er interniert gewesen war, mit vielen Beispielen. Vielleicht habe Pinchas einen Weg gefunden, die Rose der Maulbeere anzuvertrauen, wie manche Jäger mutterlos gewordene Tigerbabies von säugenden Labradorhunden aufziehen ließen. Vielleicht, entgegnete dann der Chinese, sei ja umgekehrt eher der Maulbeerstrauch jenen Rosen anvertraut worden - die Wurzeln also wären dann Schützlinge der oben blühenden Zweige. Wie ja auch der Körper unter dem Schutz der Seele stehe. Mit solchen Gedanken versuchten sich die beiden Männer gegenseitig in den Schlaf zu bringen. Und es gelang ihnen schließlich auch. Die Maulbeeren hatten wohl einen Anteil daran, denn sie waren wirklich köstlich gewesen. Bevor Goethe dem Leberecht im Traum erschien, hörte er im Halbschlaf aus dem gegenüberliegenden Kapitelsaal des Klosters eine Knabenstimme singen:

Gesegnet das Schicksal / geglaubt sei sein Sinn
wie Gott will / ich halt still
Immer nur weiter / Gott bleibt heiter

Leberecht erwachte hin und wieder kurz - und da kam ihm ein wichtiger Gedanke in die Quere, den er gleich aufschreiben wollte, weil er fürchtete, ihn am anderen Morgen wieder vergessen zu haben. Leider war aber kein Schreibgerät in der Nähe und ebenfalls nichts von Papier, so dass der Pfarrer beschloss, sich diesmal den Satz wirklich zu merken. Er flüsterte ihn leise vor sich hin. Immer wieder - um ihn nicht zu vergessen. Und dabei schlief er ein. Der Satz aber lautete:

Was wir getan haben,
das haben wir durch unser Tun hinüber in die Vergangenheit gerettet.
Dort bleibt es auf ewig geborgen ...

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Mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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