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die Jagd
Leberecht Gottlieb (79)

79. Kapitel, welches mit dem Thema des rechten Gottesdienstes beginnt, zur Mutter der Frage aller Fragen überleitet und schließlich mit dem Beginn einer Beizjagd abschließt …

Wie wäre am besten fortzufahren mit der Geschichte des emeritierten Pfarrers Leberecht Gottlieb, der durch den sogenannten Zufall hinaus in die ägyptische Wüste verschlagen ward, dort bei der kleinen Christenschar derer, die den „Gebieter der Sterne und aller Wesen” verehren eines bösen Schlangenbisses wegen sich ausgiebiger Rekonvaleszenz unterzieht und dabei Zeuge dessen werden musste, wie winzigste Restminderheiten soziologischer Sondergemeinschaften seit Jahrtausenden die eigene Existenz sich zu erhalten wissen, obwohl kein renommiertes Geschichtsbuch von ihrem Dasein bisher Notiz nahm?

Die Frage ist leicht zu beantworten. Wir machen einfach dort weiter, wo unsere Erzählung vor ein paar Tagen zu berichten aufgehört. Leberecht hatte seinen Erinnerungen nachgehangen. Ein Knabe nämlich rezitierte mit dem kehligen Gesang der Tuaregs die Schöpfungsgeschichte - war aber nur bis zum vierten Tag des bekannten Prozesses gekommen. Denn die Schöpfungsgeschichte der Jildim Hakochabim-Sekte reicht nur bis zur Erschaffung der Himmelskörper. Mit Sonne, Mond, den Planeten und Sternen war die Sache erledigt. Leberecht meint nun, an der Kürze der Version der Jildim Hakochabim sei wohl ein sehr lange schon zurück liegen müssender Übermittlungsfehler schuld. Wahrscheinlich hatten die Sektenangehörigen nur die erste Seite des Genesisbuches zur Verfügung gehabt. Und deshalb konnte sich die theologische Gesamtinterpretation des Weltgeschehens innerhalb der Wüstengruppe, bei der Leberecht jetzt weilte, nur auf vier Tage statt auf sieben stützen - und alles andere musste aus der Analyse dieser wenigen Schöpfungswerke abgeleitet werden. Natürlich teilte Leberecht seine Erkenntnis bzw. diese Vermutung betreffs des lückenhaften Traditionsverlaufes dem Herrn Ibn Jesus und seinem Medizinmann nicht mit. So etwas tut man nicht ... Niemand sollte der Lückenhaftigkeit seiner heiligen Schriften wegen unnötig beschämt werden.

Ja - Leberecht hatte also seinen Erinnerungen nachgespürt. Und Ibn Jesus und der Häuptling ließen es ruhig geschehen. Hier draußen in der Wüste verlief alles sehr langsam; keiner hetzte einen anderen mit irgendwelchen aufgestellten ToDo-Lists. Der Knabe hatte seinen Text gut vorgetragen und beeindruckend gesungen. Leberecht auch daran erinnert, wie der Untergang der sächsischen Landeskirche an genau der Stelle begonnen hatte, von der ab die Leute nicht mehr sangen. Die Kinder sich zu singen schämten. Und die neuen Kirchenlieder in das Gesangbuch eingesickert waren. Textlich oft unmöglich zusammengereimter Quatsch, welcher an Stelle ehrlich gesungener Dogmatik nunmehr Bewahrung der Schöpfung zum Inhalt hatte, jene Genderproblematik nicht zu vergessen unter welcher die gesamte Landeskirche ächzte und stönte (ohne es freilich zuzugeben) und die Friedens- oder Klimathematik. Rhythmische Experimente - mit allerflachsten pseudotheologischen Aussagen zusammengetan - nahmen sehr bald auch den standhaftesten Insidern alle Lust am Singen. Allenthalben wurden diverse Sonderheftchen gedruckt, von irgendwelchen Kompetenzzentren abgesegnet - meistens von alternden Professorinnen aus Westdeutschland mit Doppelnamen. Und die Seuche, dass jeder ein eigenes Handy mit Flatrate besaß und sich an jedem Ort via Lifestream die anspruchsloseste Musik Tag und Nacht zu Gemüte ziehen konnte, tat ihr Übriges. Eines Tages konnten sie nicht mehr singen. Sie wollten es auch nicht mehr. Und sogar aus dem innersten Zirkel der Kirche heraus meldeten sich hochdotierte Leute - übrigens wieder Frauen - und plädierten dafür, den Gottesdienst, in dem der Gesang seit Jahrhunderten gehegt und gepflegt wurde, ganz abzuschaffen. „Kirche muss anders werden” verlautete ihr unsinniges Geplärr. „Damnata sis!” entfuhr es Leberecht - der vergessen hatte, wie er doch hier nicht allein in dem Zelte saß, sondern in Gegenwart der beiden Säulen der Gemeinde derer von Jildim Hakochabim, Ibn Jesus und Bar Ezrakiel.

„Wen hat mein Bruder aus dem Lande meiner Urmütter eben verdammt?” fragte Ibn Jesus in die Stille hinein, die unmittelbar nach dem pfarrherrlich ausgestoßenem Fluche entstanden war. „Ach” entgegnete Leberecht ein wenig verlegen „es handelt sich um eine Kollegin, die der Kirche ein Kompetenzdefizit bescheinigen zu müssen geglaubt hat. Sie plädierte kürzlich dafür, den Sonntagsgottesdienst abzuschaffen!” Ibn Jesus schüttelte den Kopf und der Medizinmann Bar Ezrakiel fuhr, nachdem ihm Ibn Jesus übersetzt hatte, von seinem Kissen auf und ballte sogar die Fäuste. „Mulieres tacent in ecclesiam!” stieß er in nicht ganz astreinem Latein hervor. Und daran merkte Leberecht, wie die Jildim Hakochabim neben den ersten Versen der Schöpfungsgeschichte doch wohl auch einiges von Paulus gehört haben mussten.

Es ergab sich nun ein längeres Gespräch über die Frage der Existenz Gottes. Ibn Jesus machte der abendländischen Theologie - und damit auch Leberecht Gottlieb - zum Vorwurf, dass dieselbe seit ihrem Beginn und von Anfang an her mit einer unguten erkenntnistheoretischen Frage belastet gewesen wäre, ob es nämlich den Gegenstand ihrer Verehrung - also keinen geringeren als Gott selbst - überhaupt gäbe. Diese Frage und Erwägung sei der Spaltpilz gewesen, das Virus oder Bakterium, durch welche allerlei Schöpfungen Satans die Kirche immerhin sehr viel ihrer Kraft hätte einbüßen lassen. Natürlich gibt es keinen Gott - sondern Gott gibt. Das sei die Antwort auf die Mutter der Frage aller Fragen - die Gottesfrage. Das Subjekt „Es” in dem Fragesatz „Gibt es Gott?” sei ja Gott selbst, der sich in eigener Dreipersonenunität hingibt. Und "Geben" - ganz allgemein gesehen - sei an dieser speziellen Stelle der Selbstvollzug Gottes als reines Sein. Am besten könne man das an der Explikation der Sternbewegung am Himmelszelt nachvollziehen, das seit Milliarden Jahren sich ewig gleich bleibt und zugleich stetig doch verändert.

Leberecht staunte. Hatte hier nicht gerade eben ein einfacher Wüstenbewohner die Generalwurzel zweieinhalb Jahrtausend währender Metaphysik gezogen? Ja - so war es wohl. Genau so!

In diesem Moment klappte die Zelttür auf und der Rezitationsknabe trug ehrerbietig den bunten Heroldsstab Leberechts herein, flüsterte Ibn Jesus etwas zu und zog sich dann wieder zurück. Ibn Jesus wandte sich darauf an Leberecht und sagte: „Mein Bruder aus dem Land unserer Urmütter zeige uns einmal, ob er mit seiner heiligen Lanze dazu beitragen könnte, unserer Schar ein wenig Fleisch zu verschaffen. Wir darben bereits seit etlichen Wochen, da unsere Späher weder die wilden Ziegen des Gebirges noch den Wüstenhund mit den Seinigen haben antreffen und erjagen können. Auch sind unsere Falken auszufliegen zu erschöpft, da wir ihnen Mäuse in ausreichender Menge nicht zuzuführen vermögen - und es herrscht auch große Not, weil wir die Kobras nicht füttern können!”

Das war eine klare Bitte und Leberecht nahm sich vor, seinen Errettern, die zwar ebenso jene darstellten, von denen er gefangen genommen worden war, ein gutes Beispiel dafür abzugeben, was Feindesliebe und echtes Samaritertum sei. So raffte er sich also auf und betrat mit seinen beiden einheimischen Begleitern Ibn Jesus und Bar Ezrakiel die gnadenlos brütende Wüste. Er setzte die Sonnebrille auf, die ihm die jungen Leute aus dem Jeep Wrangler vor ein paar Tagen überlassen hatten und brachte den Heroldsstab in Stellung. Was heißt das nun genau?
Nun, - Leberecht  berührte mit der Rechten den kupfernen Ring, der für den Planeten Venus stand und mit der Linken den amalgatenen Ring für den Merkur. Dann kniff er die Augen zusammen, um in Richtung Sonne blicken zu können und brachte einer Eingebung folgend den Stand der Sonne zwischen seine beiden Hände. Das geschah so, dass - wie der kundige Leser es sich vorstellen möge - die Sonne als Spitze oben stand und die beiden genannten Planetenringe am Stab die Eckpunkte eines in diesem so entstandenen gleichseitigen Dreieck bildeten. Dann ergänzte Leberecht in Gedanken die Linie zwischen Sonne und Venus in einer schrägen Linie soweit, bis dieselbe auf dem Wüstensand unten theoretisch aufstoßen würde -  und genau dorthin trat er mit seinem Fuß und legte den Stab so ab, dass der Stab nunmehr diesen ermittelten Punkt mit dem Punkte, auf dem Leberecht vorher gestanden, verband. Inzwischen hatte sich die Mehrzahl der Jildim Hakochabim um Leberecht und seinen sonderbaren Sinn-Navigator im Kreise versammelt. Der Emeritus ließ sie alle nun einen entgegen dem Uhrzeigersinn sich bewegenden langsamen Kreistanz beginnen, indem nämlich  jeder Einzelne einen Schritt pro Sekunde nach rechts vollführte. Das ging wohl etwa bei sieben Minuten so. Als sich aber ein kleines dunkles Wölkchen vor die Sonne schob, so dass die Schatten der Tänzer alle verschwanden, rief Leberecht ein gebieterisches "Halt!" Sofort stoppte die Kreisbewegung. Und Leberecht wählte jene beiden Personen aus, auf die nun die beiden Enden bzw. Spitzen des Stabes zeigten.
"Diese sollten gehen" - meinte er und "sie werden Fleisch in Hülle und Fülle finden, wie einst Moses Volk die Wachteln!" Die Geschichte aus Exodus 16 war hier wohl ebenfalls bekannt, denn die Jildim Hakochibim brachen in lauten Jubel aus und ihre beiden eben bezeichneten Volksgenossen wurden sogleich losgeschickt - ausgerüstet mit altmodischen Vorderladergewehren aus der Zeit des Krimkrieges und mit einem offenbar zur Jagd abgerichteten Falken, dem eine grüne Kappe über die Augen gestülpt worden war.

Unter Gebeten und Gesängen (die hier zu hören sind) begleiteten die Jildim ihre beiden Abgesandten noch ein Stück zur Wüste hinaus, genau in jene Richtung, in welche Leberecht zu wandeln geraten. Um Fleisch zu suchen und auch zu finden. Es war nicht die Richtung der Sonne, sondern man sollte bei der Wanderung sich dergestalt bewegen, dass der eigene Schatten, wenn man wanderte, links von einem stand - und zwar in einem Winkel von 60 Grad zum Weg, den man zu laufen sich bemühte  ...

Wie sich herausstellte, war es nicht einfach, dergestalt sich zu bewegen. Aber auch nicht zu schwer. 
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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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