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Kinderlieder ...
VON DER MAGIE DES GESANGS

1. Lieber, lieber Sommer,
musst nun weiter geh’n,
schöner, warmer Sommer -
kühler Wind will weh’n.

2. Ziehst in weite Ferne
aus dem Land hinaus,
Sonne, Mond und Sterne
bringen dich nach Haus.

3. Sonne Mond und Sterne
leuchten dir voran -
Fackeln und Laternen
zünden wir hier an.

4. Schöner, warmer Sommer
geh’ mit uns ein Stück,
lieber, lieber Sommer -
komm auch bald zurück.

Der Text dieses berückenden Kinderliedes hat etwas Magisches an sich. Magisch ist das, was uns mit dem Ganzen verbindet, ohne dass wir selber etwas dafür getan hätten oder etwas dagegen tun könnten. Rilke hat in zwei kurzen Gedichten das Magische einzufangen versucht1) 2)
Und es gelingt ihm fast, jenen flüchtigen Augenblick der Verwandlung zu beschreiben, in dem sich das Wunder vollzieht, mit dem Gemeinten gedanklich derart ein und dasselbe zu werden, so dass die Gedanken aufhören und tatsächlich das reine Erleben stattfindet, welches von keiner Reflexion im Blick auf dieses Erleben mehr angekränkelt ist ... 

Ebenso bei dem Kinderlied "Lieber, lieber Sommer ..." Der Text kommt einfach und fast naiv daher. Liebevoll auf jeden Fall. Kinder singen dem Sommer ein Abschiedslied - und wer von den Erwachsenen mitsingt, der wird in diesem Moment selber Kind. Das ist das Magische: Worte verwandeln, verjüngen und verzaubern. Der Sommer dieses Lobpreisliedes wird nicht bedenklich gemacht wegen irgendwelcher Klimaverzerrung. Er ist zweimal lieb und einmal schön bzw.warm. Aber aus dem Kindermund  wird ihm nun gesagt, dass er weitergehen muss. Denn auch die Kühle hat ihr Recht und fordert dieses Recht jetzt ein. Das ist der Weg. 

In der zweiten Strophe wird dieser Weg beschrieben. Es geht aus dem Land hinaus - es geht in die weite Ferne. Dort ist aber nicht nichts - sondern im Gegenteil: Dort ist das zu Hause des Sommers. Er wird nicht vertrieben, der Sommer - sondern er geht nach Hause. Sonne, Mond und Sterne bringen ihn dorthin. Wer will, kann sich hier an den vierten Tag der biblischen Schöpfungsgeschichte erinnern lassen. Da stehen Sonne, Mond und Sterne als Garanten der Zeiteinteilung und ihrer ewigen Ordnung auf dem Plan. Es ist rührend, wie der Sommer angeredet wird. Es ist eine Zwiesprache, die die zu singenden Kindern Gewordenen mit dem Sommer führen. Sie reden mit der Zeit, ohne mit ihr zu verhandeln. Das Lied ist ein Singsang nicht über die Zeit und ihre Geheimnisse, sondern ein Lobpreis eines Teils der zyklisch sich vollziehenden Zeit.

Die dritte Strophe wendet das Thema auf die Seite des Menschen, der nun ohne den Sommer und seine Begleiter Sonne, Mond mit Sternen zurückbleibt. Fackeln und Laternen bleiben uns aber. Wir zünden sie an. Deren Wärme und Licht ist keineswegs billigerer Ersatz der Originale, sondern Erinnerung und Vergegenwärtigung aller Sommer, die wir bereits erlebt hatten und noch zu erleben trachten.

Davon singt die vierte Strophe. Diese ist die Bitte um eine baldige Parusie des Sommers. Ein wissendes Erhoffen auf das "wieder zurück." Nicht wird protestierend gejammert: "Ach, komm doch zurück!" Es wird zustimmend formuliert: "Komm auch bald zurück!"
Was aber bedeutet das "Geh' mit uns ein Stück"  in der zweiten Zeile der vierten Strophe? Nun - auch wir gehen davon. Auch der Mensch ist dem Fortgehen unterworfen, dem großen Wandel. Sonne, Mond und die Sterne ziehen uns voran. Und auf den Gräbern leuchten in den Lampionen, Fackeln und Grablichtern die Seelenfünkchen, von denen die Gnostiker aller Zeiten geschrieben und an sie geglaubt haben . 

Wir selber alle sind nämlich dieser Sommer und er ist wir - beide gehen davon und kehren immer wieder. Das ist im Liede nicht direkt ausgesprochen - aber beim Singen wird es klar. Genau das ist das Magische des kindlichen Gesangs. Deshalb sind die singenden Menschen alle mehr oder weniger Magier und können - ohne dass sie dieses selber bewirken - viel bewirken. Die Ästhetisierung der Klage durch und im Gesang hat ihre zehntausend Lieder hervorgebracht und finden dürfen. Das oben eben behandelte Kinderlied ist davon eines der unschuldigsten. Hier immer wieder zu hören ...

_______________________________

1) DAS MAGISCHE
Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen
solche Gebilde: Fühl! und glaub!
Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen;
doch: in der Kunst: zur Flamme wird der Staub.

Hier ist Magie. In den Bereich des Zaubers
scheint das gemeine Wort hinaufgestuft...
und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,
der nach der unsichtbaren Taube ruft.

2) DER MAGIER
Er ruft es an. Es schrickt zusamm’ und steht.
Was steht? Das Andre; alles, was nicht er ist,
wird Wesen. Und das ganze Wesen dreht
ein raschgemachtes Antlitz her, das mehr ist.

Oh Magier, halt aus, halt aus, halt aus!
Schaff Gleichgewicht. Steh ruhig auf der Waage,
damit sie einerseits dich und das Haus
und drüben jenes Angewachsne trage.

Entscheidung fällt. Die Bindung stellt sich her.
Er weiß, der Anruf überwog das Weigern.
Doch sein Gesicht, wie mit gedeckten Zeigern,
hat Mitternacht. Gebunden ist auch er.

R. M. Rilke (1922)

Autor:

Matthias Schollmeyer

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