Seelsorger für Mitarbeitende
Keine Zeit zum Ausruhen, auch wenn der Ruhestand naht: Mit Propst Diethard Kamm, dem Regionalbischof des Propstsprengels Gera-Weimar, sprach Michael von Hintzenstern unter anderem über die Aufgaben der Kirche in der Gesellschaft.
Herr Kamm, was hat Sie in den letzten fünf Jahren als Regionalbischof ermutigt, was erscheint Ihnen verbesserungswürdig?
Kamm: Ich möchte zuerst sagen, dass mir dieser Dienst als Regionalbischof
in unserer Landeskirche ausgesprochen viel Freude macht. Ich tue den Dienst gerne, weil es möglich ist, Gemeinden zu besuchen, als Seelsorger unterwegs zu sein für Gemeindekirchenräte, für Pfarrerinnen, Pfarrer, für Mitarbeitende in unserer Region. Es ist ein ganz anderer Blick als in der Zeit vorher, als ich Superintendent war. Das ist die Möglichkeit, Seelsorger für Mitarbeitende zu sein. Nicht als Dienstvorgesetzter zu kommen, ist für mich wichtig. Ich habe den Eindruck, es ist gut, dass es diesen seelsorgerlichen Dienst und dieses Amt in unserer Landeskirche gibt.
Bei meinen Besuchen erlebe ich die große Unterschiedlichkeit unserer Gemeinden, von ganz kleinen Gemeinden im Schleizer oder Greizer Oberland oder auch im Kirchenkreis Eisenberg, die zum Teil zwischen 50 und 100 Gemeindeglieder umfassen, bis hin zu einer ganz großen Kirchengemeinde in Jena mit 12 000 Gemeindegliedern.
Auch den Unterschied zwischen Stadt und Land erlebe ich sehr deutlich. Auf der einen Seite erlebe ich die Kulturstadt Weimar, die Universitätsstadt Jena, in der es viel Industrie und Innovation gibt. Daneben liegt die ehemalige Bezirksstadt Gera, die im SPIEGEL als »Stadt im Niedergang« bezeichnet wurde, mit ihren Schönheiten. Wenige wissen, dass es in Gera das einzige Fünf-Sparten-Theater in Thüringen gibt, den Hofwiesenpark, das Otto-Dix-Haus oder die Schulenburgvilla von van der Velde. Zugleich erlebe ich eine Mentalität, die mit den Veränderungen nach 1990 nur schwer umgehen kann: dem Einwohnerverlust, dem Wegfall von Industrie und einem gefühlten Bedeutungsverlust. In Gera arbeitet aber auch ein »Kulturpfarrer«, der mit spannenden Projekten kirchenfernere Menschen erreicht.
Im stärker ländlich geprägten Bereich gehören oft 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung zur evangelischen Kirche, in Gera keine zehn Prozent. Es ist spannend, das zu erleben und dabei auch zu sehen, wie unterschiedlich die Erwartungen sind, ohne zu vergessen, dass wir an alle Menschen gesandt sind. Mit ihnen zu suchen, was zum Leben hilft, könnte heute hier eine Aufgabe von Kirche sein. Die Ungleichzeitigkeit in unserer Landeskirche kann man hier hautnah erleben.
Gera wird immer als besonders entkirchlicht bezeichnet. Ist das ein Resultat aus 40 Jahren DDR?
Kamm: Die Entkirchlichung in Gera hat noch tiefere Ursachen. Sie begann schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Das hat viel mit der Industrialisierung zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass die evangelische Kirche nicht unschuldig an dieser Entkirchlichung ist. Sie hatte meist auf die Fragen und Probleme der Arbeiter in einer Arbeiterstadt keine Antworten. Auch auf die sozialen Fragen hatte die Kirche kaum Antworten. Aber es hat auch mit den Entwicklungen in der Zeit des Nationalsozialismus und danach in den Zeiten der DDR zu tun. Damals ist es einer forcierten antikirchlichen Politik, ja man muss es wohl so sagen, gelungen, Menschen mit Druck und Lockungen dazu zu führen, aus der Kirche auszutreten.
Gerade in Gera ist die Staatssicherheit sehr zielgerichtet vorgegangen, um kirchliche Strukturen zu unterwandern oder anzugreifen …
Kamm: Ja, es ist so und ich habe das zum Teil miterlebt. Ich bin ja nicht erst 2012 nach Gera gekommen, sondern ich war von 1987 bis 1999 zuerst als Stadtjugendpfarrer und dann als Gemeindepfarrer in Gera-Lusan tätig. In der Zeit als Stadtjugendpfarrer habe ich diese Erfahrung deutlich machen müssen. Es wurde versucht, Einfluss auf kirchliche Jugendarbeit zu nehmen oder sie zu unterbinden. So erlebte ich, dass ein Anruf kam, dass drei NVA-Soldaten sich durch einen Aushang in meinem Schaukasten diskriminiert fühlten. Ich konnte darauf antworten: Ich weiß gar nicht, was Sie stört? Es ist ein Kalenderblatt, das in der DDR gedruckt worden ist. Ich hänge es nicht ab. Die Erkenntnis, wie stark die Unterwanderung kirchlicher Strukturen war, ist bis heute erschreckend.
Sie waren immer auch gesellschaftlich engagiert: Als Organisator der Friedensgebete in Gera wie als Mitbegründer des Runden Tisches gegen rechts in Jena. Welche Aufgabe hat die Kirche heute in der Gesellschaft?
Kamm: Ich denke, die erste Aufgabe von Kirche ist es, und zwar auf allen Ebenen und zu aller Zeit, das Evangelium weiterzusagen. Das heißt auch zu fragen: Wie sehen wir gesellschaftliche Entwicklungen in diesem Land und inwieweit sind es für Christen Entwicklungen, die wir begrüßen können, die wir kritisieren müssen? Dies müssen wir klar und eindeutig tun.
Wir müssen erkennbar sein und müssen deutlich machen, wofür wir stehen. Wir sind nicht dazu da, Parteipolitik zu machen. Ich wünsche mir aber eine politische Kirche.
Sie hatten in Jena mehrfach mit rechtsextremen Auswüchsen zu tun. Wie kann man neonazistischen Aufmärschen angemessen begegnen?
Kamm: Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein wichtiges Gut in unserem Land. Das ist unbestritten, gerade, wenn man wie ich aus der DDR kommt. Aber, wie können wir Menschen motivieren, sich zu engagieren, dafür einzustehen, was ich mit demokratischer Gesellschaft, mit Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit, Einsatz für Frieden und gegen Gewalt beschreiben möchte? Da haben wir noch viel zu tun. Auch in unseren Gemeinden ist das nötig.
Vielleicht muss man manchmal einfach deutlich erinnern: Kirche ist weltumspannend und nicht national. Jedenfalls hat Kirche, hat das Evangelium sehr schnell den Weg in einen größeren weltweiten Zusammenhang gefunden. Es heißt im Neuen Testament: Hier ist nicht Jude noch Grieche. Das heißt, wir haben den Auftrag, jeden Menschen als Ebenbild Gottes zu sehen, zu erkennen und dies auch weiterzusagen. Ist das nicht unser politischer und theologisch seelsorgerlicher Auftrag?
Zu den Herausforderungen gehören seit 2015 viele Flüchtlinge, die auch in Ihrer Region aufgenommen werden mussten. Wie waren Ihre Erfahrungen in den Gemeinden?
Kamm: Manche haben sich überfordert gefühlt. Aber zuallererst darf ich sagen, es hat in unseren Gemeinden ein ausgesprochen großes Engagement für Flüchtlinge gegeben, oft in Zusammenarbeit mit der Diakonie. Hier in Gera gibt es ganz hervorragende Beispiele: Es gibt einen Flüchtlingskreis, der ökumenisch arbeitet und sehr viel bewegt hat und bewegt.
Ich habe natürlich auch Ablehnung erlebt, nicht zuerst in Gemeinden, sondern weit darüber hinaus. Als in Gera-Liebschwitz eine Erstaufnahmeeinrichtung eingerichtet werden sollte, wurden sowohl der Justiz- und Migrationsminister als auch ich von 2 000 Leuten für unsere Position ausgepfiffen. Das gehört zum Bemühen um Klarheit dazu.
Es ist eben in einer Demokratie so, dass Menschen unterschiedliche Meinungen haben. In unseren Gemeinden gibt es beides. Es gibt die Menschen, die ganz engagiert sind und jene, die voller Sorge sind oder einfach Fremde nicht in ihrer Nähe haben wollen, weil sie es nicht gewohnt sind. Beides begegnet mir immer wieder.
Sie haben das Amt des Regionalbischofs nur zögerlich angetreten, weil Sie sich als Superintendent in Jena sehr wohl und angenommen gefühlt haben. Werden Sie im Ruhestand von der Elster wieder an die Saale zurückkehren?
Kamm: Ja, das werden wir. Wir haben eine Ruhestandswohnung in Jena. Jetzt fühlen wir uns hier in Gera-Untermhaus sehr wohl. Im Ruhestand werden wir dann in Jena wohnen. Meine Frau und ich haben in Jena studiert und haben dort viele Freunde. Wir haben also ein soziales Umfeld, in dem wir gerne leben wollen.
Als Regionalbischof und Stellvertreter der Landesbischöfin müssen Sie viele Termine wahrnehmen. Was machen Sie zum Ausgleich?
Kamm: Ich fahre Fahrrad. Meine Frau und ich wandern gerne. Wenn wir es schaffen und das Wetter es hergibt, gehen wir schwimmen. Ich setz mich auch gerne mal auf meinen Balkon und lese ein Buch.
Und gibt es auch schon Pläne für die Zeit danach in Jena und der Welt?
Kamm: Es gibt vielleicht keine Pläne, aber es gibt Überlegungen. Da sind ein paar Dinge, die ich schon heute tue
und gerne weitermachen möchte. Ich bin z. B. im Kuratorium der Evangelischen Akademie in Neudietendorf. Da würde ich sehen, ob ich noch etwas mittun kann. Ich mache derzeit noch eine Ausbildung zum Coach. Damit will ich dann auch der Landeskirche, wenn sie mich braucht, zur Verfügung stehen. Bis 2021 bin ich zudem im Hochschulrat der Ernst-Abbe-Hochschule, der Fachhochschule in Jena.
Und dann möchte ich einfach auch Zeit haben, meine Kinder und ihre Familien zu besuchen, die relativ weit entfernt in Niederbayern und in Schleswig-Holstein leben.
Autor:Adrienne Uebbing |
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