Sonntagsreportage aus Möschlitz
Am Ausgangspunkt der Lockerungen
Noch sind die Rapsfelder, die ich passiere, grün. Nur langsam kämpft sich die Morgensonne im Osten an den Himmel. Über die Autobahn fahre ich ihr entgegen. Noch etwa 100 Kilometer zeigt mir das Navigationsgerät an, Ankunft in etwas weniger als anderthalb Stunden. Das Autoradio verzichtet an diesem Sonntagmorgen auf störende Ansagen, ein Lied geht ins andere über und ich nutze die Zeit, die Geschehnisse, die zu meinem Ausflug führten, Revue passieren zu lassen.
Ein Rückblick
Es ist der Abend des Ostersonntags, als die Ostthüringer Zeitung (OTZ) etwas von einem Infektionsschutz-Zwischenfall im Saale-Orla-Kreis meldet. Weil der dortige Landrat Thomas Fügmann (CDU) verbotenerweise ein Posaunenblasen besucht haben soll, wurde ein Bußgeldverfahren gegen ihn eingeleitet. Noch am Abend tausche ich Nachrichten mit Politikern und Kollegen dazu aus. Die alles dominierende Frage: War das wirklich so? Eine Gegendarstellung des Landrats, verbreitet durch die Pressestelle seines Amtes, folgt auf den Fuß. Er sei, heißt es darin, als "Vertreter des Pandemiestabes des Landratsamtes vor Ort" gewesen. Was dann geschieht, das ist inzwischen (bundesdeutsche) Geschichte. Landratsamt, Polizei und durch Quellen bediente Medien liefern sich einen kleinen Schlagabtausch, stellen sich immer wieder gegeneinander. Als Posaunen-Posse von Möschlitz bezeichnet das Magazin "Der Spiegel" das, was in dem kleinen Ortsteil der ostthüringischen Stadt Schleiz passierte. Auch unsere Zeitung berichtet vom Blech des Anstoßes und macht damit die 550 Seelen-Gemeinde zumindest in der mitteldeutschen Kirchenlandschaft bekannt.
Dabei sei Möschlitz schon in der Kirchenverwaltung geläufig gewesen, als diese noch auf dem Eisenacher Pflugensberg gesessen habe, sagt zumindest Sigfried, genannt Siggi, Wetzel: "Wir waren schon immer ein gallisches Dorf!" Er ist einer der ersten, die ich in Möschlitz treffe. Kurz zuvor hatte ich noch bewundert, wie die imposante weißgetünchte Kirche sich über dem Dorf erhebt. Nun stehe ich an der Kirche, Siggi Wetzel schält sich aus seinem direkt davor geparkten BMW. Er grüßt freundlich, ist mit jedem gleich auf Du und Du. 20 Jahre lang hat der heute 70-Jährige im Thüringer Landtag gesessen, 2014 war der CDU-Mann nicht noch einmal angetreten. Wetzel ist im Saale-Orla-Kreis eine Institution. Schon als die Kollegin Beatrix Heinrichs sich mit dem Blech des Anstoßes beschäftigte, hatte er ihr viele Informationen geliefert. Als ich Möschlitz´ Pfarrer Kai Weber wegen der bevorstehenden Andacht kontaktierte, sagte der mir, dass Herr Wetzel sich um die Prominenz kümmere.
Besagte Prominenz kommt wenig später in Gestalt des Landesbischofs Friedrich Kramer. Er hat - an diesem ersten Sonntag nach der Kirchenschließung - den Weg vom Magdeburger Amtssitz nach Ostthüringen gefunden. Mit Maske vor dem Gesicht steigt er aus. Er geht zunächst zum Bläserensemble, das schon eine halbe Stunde vor dem Gottesdienstbeginn sich hinter der Kirche aufgebaut hat und noch am Üben ist. Gleich darauf trifft Kramer auf Siggi Wetzel, sie hätten bereits in der schriftlichen Korrespondenz miteinander zu tun gehabt. Nun freue er sich, den Landesbischof auch einmal persönlich zu treffen, sagt Letzterer. Während Friedrich Kramer sich für die Andachten ankleidet, trifft Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ein, Ramelow ist sichtlich gut gelaunt, erzählt den vor der Kirche Wartenden, dass er sich freue, dass "es endlich wieder losgeht". Es sei ihm ein "Herzensanliegen", diesen ersten Gottesdienst nach der Corona-Zwangspause ausgerechnet in Möschlitz zu besuchen. In den vergangenen Wochen hatte Ramelow, so berichtet es die Nachrichtenagentur Idea, sogar mit der Bundeskanzlerin über den Vorfall beim Posaunenblasen gesprochen.
Ein ungleiches Paar
Zeitgleich mit Ramelow kommt auch Thomas Fügmann in Möschlitz an. Brav wartet er hinter dem Ministerpräsidenten, während der den Ortspfarrer Kai Weber begrüßt. Dann tritt Fügmann, der im hellblauen Anzug, mit seinem dichten grauen Haar und der modernen Brille nicht so ganz in die Möschlitzer Dorfansicht zu passen scheint, vor. Es beginnt ein kleiner Plausch, die Herren unterhalten sich wie alte Bekannte. Um sie herum versammeln sich immer mehr Menschen. Das Präludium der folgenden Andacht.
Mit dem Glockenschlag begeben sie sich, der Klerus und die Politik in die freundliche und großzügige Dorfkirche. Vor der Tür zum Kirchenraum steht ein halbautomatischer Desinfektionsmittelpender. "Haben Sie da dann bitte ein Auge drauf? Die Dinger sind gerade heiß begehrt", hatte die stellvertretende Vorsitzende des Gemeindekirchenrates noch kurz vor der Ankunft des Ministerpräsidenten einen Beamten aus dem Personenschutzkommando gebeten.
Heiß begehrt, das sind an diesem Tag auch die Plätze in der St.-Severi-Kirche. Nur 30 Personen sind pro Gottesdienst zugelassen. Din-A4-Zettel mit großen grünen Punkten darauf zeigen an, wo jemand sitzen darf. Für Ramelow und Fügmann liegen zwei dieser Zettel in der ersten Reihe. Mit seinem weißen Mundschutz vor dem Gesicht beginnt Landesbischof Kramer die Liturgie. Er hebt an: "Wir feiern diesen Gottesdienst", und pausiert. An der Stelle, wo der Liturg ganz klassisch auf Vater, Sohn und Heiligen Geist verweist, setzt Kramer an und beendet seinen Satz mit "...unter schwierigen Bedingungen."
Eine dieser Bedingungen ist auch, dass nur gesummt und nicht gesungen wird. Die Gefahr einer Tröpfcheninfektion werde dadurch gesteigert, heißt es vom Pfarrer. "Wenn aber nicht gesungen wird, dann brauche ich auch keine Gottesdienste", hatte eine Frau noch vor dem Beginn der Andacht gesagt. Wie viele andere auch, war sie eigentlich nur wegen des Ministerpräsidenten gekommen. Der nämlich wird an diesem Sonntag Jubilate zum lebendigen Briefkasten. Vor und auch nach der Andacht kommen Menschen auf ihn zu und geben ihm Umschläge. Darin: Ihre Wünsche und Hoffnungen in der Corona-Krise. Alle verbunden mit einem jeweiligen Anliegen, das sie betrifft.
Applaus für die Bläser
Kurz vor dem Ende der ersten Andacht, drei wird es an diesem Sonntag in Möschlitz geben, bekommt auch der Ministerpräsident das Wort erteilt. Nachdem Siggi Wetzel die summende Gemeinde zu Wie lieblich ist der Maien auf der Orgel begleitete, darf der Politiker in der Kirche sprechen. Er steht auf, dreht sich in seiner Bank zu den Gemeindegliedern und erklärt, dass Möschlitz für ihn der "Stein des Anstoßes" gewesen sei, um stärker über Lockerungen bei den bestehenden Gottesdienstverboten nachzudenken. Besonders "Es ist gut, Musik zu hören und die Herzen anstecken zu lassen", sagt Ramelow und sagt dem Landrat zugleich zu, ein mögliches Strafgeld gegen den aus der eigenen Tasche mitzutragen.
Nach einer guten halben Stunde ist die Andacht beendet. Die Gemeinde strömt durch die Seitentür, Ramelow und Kramer witzeln über die Verteilung der Kollekte. Sie ist an diesem Sonntag für die eigene Gemeinde und den Kirchenkreis gedacht. Nachdem die Kirche leer ist, geht Ramelow auf die andere Seite des Gebäudes. Mit großem Abstand bleiben er und der Landrat vor den ebenso Abstand haltenden Bläsern stehen. Diese spielen ein paar Choräle, darunter Großer Gott wir loben Dich. Nachdem sie geendet haben, schallt Applaus durchs Dorf und der Andachtsreigen beginnt von vorn. Auch der Ministerpräsident nimmt noch einmal teil, er setzt sich auf den gleichen Platz, alles scheint wie beim Mal zuvor. Doch dann übernimmt Pfarrer Kai Weber die Liturgie, der Landesbischof predigt. Auf das Grußwort des Ministerpräsidenten wird in dieser Andacht verzichtet. Im Anschluss steigt Ramelow in die Regierungslimousine und verlässt Möschlitz. Fügmann ging bereits nach der ersten Andacht, der Landesbischof ist bei allen Dreien dabei.
Es ist gegen Mittag, als ich mit meinem Auto wieder über die Autobahn fahre. Dieses Mal nach Hause, gen Westen. Ich kann noch einmal über die Posaunen-Posse von Möschlitz nachdenken. Ich habe mit den Menschen gesprochen, die damals dabei waren, an diesem denkwürdigen Ostersonntag. Ich konnte mir ein eigenes Bild machen. Die Sonne steht inzwischen im Zenith, der Raps leuchtet gelb,
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