das Mysterium
Leberecht Gottlieb (Teil 109)

109. Kapitel, in welchem wir lernen, wie der Gärtner Pinchas auf Rosenstöcken  Maulbeerbaumfrüchte und aus den Zweigen der Bäume Rosenblüten hervortreiben lässt ...

Bald saßen sie beide an dem kleinen Tischchen von gestern, auf dem die silbern blinkenden Skalpelle, Pinzetten und Lanzetten des Herrn Pinchas, vom aufdringenden Morgenlicht geheimnisvoll angeregt, funkelten. Die beiden alten Männer schlürften lautstark den mit Zimt und etwas Pfeffer versetzten heißen, starken morgenländischen Kaffee. Bei zwei Dutzend von altem Gebäck lag auf einem silbernen Tellerlein herum - bald aber lag auch schon nicht mehr, denn Leberecht verspeiste alles mit Wohlbehagen, was Pinchas ihm mit breitem Lächeln quittierte. „Greifen sie zu, Herr Pfarrer und fühlen Sie sich wie zu Hause”, sagte er begütigend, als Leberecht ein wenig scheu in die Runde blickte, ob nicht noch jemand anderes vorhanden sei, der vielleicht ebenfalls Anspruch auf die Köstlichkeiten erheben würde. Aber niemand weiteres war im Raum - nur er, Leberecht selbst, und Pinchas, der Rosen- und Maulbeerbaumzüchter. Die Rosenblüten in den Bäumen und die Rosenbüsche waren vorhanden, welche sich unter der Last ihrer schwarzblauen Beeren bogen - sie schienen lebendiger zu sein, als man es Pflanzen und Gräsern sonst zugesteht.

Die Sonne brach sich Bahn durch die geborstenen Gewächshausscheiben, auf denen der Staub aus Jahrzehnten lag. Der, Laubreste vom Vorjahr und zahlreiche Chitinpanzer irgendwann verendeter Insekten erzeugten bemerkenswerte Schatten auf dem Steinfußboden, dieser trotz oder wegen aller Ramponage zeitlos wirkenden Gärtnerei. Leberecht versuchte von Pinchas zu erkunden, wie es um Gottes Willen sein könne, dass an Maumbeerbüschen Rosen erblühten und an Rosensträuchern wohlschmeckende Maulbeeren wüchsen. Pinchas antwortete, dass Leberecht sich die Antwort in seiner eben geäußerten Frage selber gegeben habe: Nämlich - es würde dieses alles nur „um Gottes Willen” geschehen, wie übrigens auch das meiste andere auf dieser verrückten Welt.

Man lachte - aber nachdenklich, lehnte sich in den bequemen Korbstühlen zurück und während die Sonne nun immer höher stieg, das Innere des Gewächshauses dabei in fabelhaftes Licht zu tauchen begann und die Rosen durch die dabei aufdringende Wärme ihren betörenden Duft zu entwickeln begannen, hob Pinchas an, einiges vom Geheimnis seines Gewächshauses ein wenig zu erläutern. Er tat dieses auch deshalb, weil das Geheimnis des Gewächshauses zwar ein ewiges sei. Ewig aber nur insoweit, solange sein Mysterium von Zeit zu Zeit wissenden und würdigen Menschen verraten und offenbart werde. Das sei überhaupt der Punkt, von dem alles abhängt - und worauf sich die Geheimwissenschaft - so Pinchas - begründe. Ein heilig öffentliches Geheimnis, das von den Alten behütet und durch Erzählen genährt und erhalten werden müsse - und auch von Urzeit her, seit Adam und Eva das Paradies hatten verlassen wollen, erhalten würde!

Leberecht verzehrte die leckeren Plätzchen und bemerkte einen Beigeschmack von Kokos und jenem recht küchenartig riechenden Stoffe, den er damals schon so oft bei Sven wahrgenommen, welcher die Zeitmaschine erfinden wollte - und (wie wir inzwischen wissen) dann auch tatsächlich erfunden hatte. In der alten Garage neben dem Mumplitzer Leichenhäuschen auf dem kirchlichen Gottesacker, da hatte es manchmal so ähnlich gerochen, was von der Verbrennung diverser Kräuter herrühren musste, welche der Erfinder Sven und seine diversen Kumpane daselbst ausgiebig in sonderbar geformten Glaspfeifen konsumierten und während solcher Séancen ihre verschiedenen Vorstellungen bezüglich der Weltveränderung  - wenn nicht sogar des gesamten Sonnensystems - einander zum Besten gaben. Leberecht lauschte Pinchas Bericht zu und aß immerzu von den Plätzchen. Und sein Geist weitete sich langsam aber sicher in das Grenzenlose, er schaute in die Abgründe des Möglichen hinunter, in deren unermesslichen Tiefe sich auch das bisher absolut Unmögliche nur als erweiterte Possibilität neckisch zu alsbaldigen Verwirklichungsexperimenten erbot.

Leberecht hat dann später am Abend nach lang währendem Mittagsschlaf den Vortrag des Herrn Pinchas und alles Andere dieses sehr denkwürdigen Tages schriftlich einigermaßen zusammengefasst und versucht, das Gehörte noch schnell auf’s Papier zu bannen, ehe es vom Auf und Ab der Alltäglichkeiten wieder ausgelöscht dahin schwände. Es sind unter seinen schreibenden Händen sonderbare Sätze entstanden, nicht so fein gedrechselte, wie der alte Geistliche sie sonst regelmäßig in Sonntags-Predigten einflocht und dann vorzulesen pflegte. Nein - es sind recht archaische Wortklaster geworden - und das mochte wohl ebenfalls von der Menge der Kokos-Plätzchen herrühren. Wie dem auch sei: Wir flechten einiges aus dem Text Leberechts dem geneigten Leser hier ein, nur wenig korrigiert und fast gar nicht kommentiert:

„Der Alte nahm also eines der silbernen Skalpelle her und schnitt in eine Stelle des Rosenstrauchs, der in jenem Topfe aufwuchs, welchen Pinchas auf unser Tischlein gehoben hatte einen feinen Spalt. Dann zog er das eine Ende des verletzten Holzes nach unten und schob ein Maulbeerzweiglein, das er vorher ähnlich angespitzt, in die bei dem Rosenholz entstandene Lücke. Nun wickelte er einen Papierstreifen um diese chimärische Verbindung und tränkte den so entstandenen Verband ausgiebig mit einem duftenden Sud, dessen Zusammensetzung er mir jedoch nicht verraten wollte. Jetzt aber geschah wahrscheinlich das Allerwesentlichste: Der Alte nahm ein Stück von der dünnen Goldfolie und drückte kleine Metallstempel darauf, so dass dadurch auf dem Goldstreifen ein Schriftzug entstand. Und ich sah, wie es hebräische Buschstaben in Spiegelschrift waren, welche am Fuße der Lettern angearbeitet worden waren. Ein צ sah ich ganz deutlich und ein מ. Alles andere konnte ich nicht sehen, weil meine Augen schon nicht mehr so genau blicken - und ich ebenfalls den Eindruck hatte, dass Pinchas mir nicht die Ganzheit seiner gärtnerischen Tricks offenbaren wollte. Die Goldfolie erhielt etwa bei sechs oder sieben - vielleicht auch acht Prägungen. Dann wurde dieser blinkende Streifen um das Papierchen der entstandenen Chimäre gewickelt und um diese beschriebene Goldfolie, die nun einen Ring um das Ästchen des manipulierten Baumes bildete, wiederum ein sudgetränktes Stücklein von jenem besonderen Papier. Nachdem Pinchas das alles erledigt hatte, schrieb er etwas in ein rotes Buch ein, auf dessen Außenseite ein blauer Schmetterling verkehrt herum abgebildet war. Dieses Büchlein hatte er aus der Innentasche seines Mantels gezogen und verwahrte es daselbst nach geschehener Eintragung und dem, was nunmehr noch weiteres geschah:

Pinchas schlug nämlich das rote Büchlein oft auf, blätterte darinnen von hinten nach vorn und von vorn zur Mitte und nach hinten immer wieder herum - zahlreiche farbige Bändchen schauten aus dem Bucher heraus, mit denen er sich offenbar zu orientieren behalf. Und der Alte las jedesmal mit wohltönender Stimme langsam daraus etwas vor und wiederholte das Vorgelesene recht oft, als ob er einem Kinde, das schwer von Begriff ist, immer wieder ein und dasselbe erklärte. Er gebrauchte ganz einfache und fast monotone Laute in immer wiederkehrenden Reihenfolgen - und rief auch Silben und offenbar Worte, die ich überhaupt nicht verstand, weil ich sie als Vokabeln weder aus dem Gesenius noch aus Raphael Hirschs großem Kompendium kannte. Nur an einer Stelle wähnte ich etwas zu erkennen: Die Wurzel der im Hebräischen einander so ähnlichen Wörter mit Bedeutungen wie „verbinden, aufwachsen lassen, ineinander pressen, kombinieren und bedecken” - damit hatte es wohl zu tun? Bei diesen Vokabeln ist es immer nur der letzte Buchstabe, der sich ändert. Ein Resch, ein Mem, ein CHet ein He, ein Dalet und ein Aleph. Vielleicht, so vermute ich, dass hier etwas Ähnliches geschieht, wie in der alten Legende vom Prager Golem geschehen war, der eigentlich nur ein Klotz aus Lehm in Menschengestalt gewesen, aber weil Rabbi Löw ihm einen beschriebenen Zettel unter die Zunge gelegt mit Buchstaben und Zahlen darauf, dadurch viel mehr geworden war, so dass er als Ungetüm aus Lehm und Geist zum willfährigen Diener geworden, was Gustav Meyrink in seinem gleichnamigen Buch so überaus treffend und gut vorstellbar beschrieben hatte. Auch mochte es wohl sein, dass Pinchas sich der Schriftstelle aus Genesis 2,19 verband, wo es heißt, dass der HERR an Adam alle Tiere vorbei gehen ließ und der Mensch einen Namen ausrief - und jedes angerufene Tier dann ebenso hieße, was nichts anderes bedeutete, als dass das Tier den ausgerufenen Namenssinn mit seinem eigenen Lebenssein würde sinnvoll ausfüllen, verwirklichen und nachvollziehen müssen bzw. dürfen. Hier, in diesem Gewächshaus nun, wären es eben nicht Tiere, sondern Pflanzen - und Pinchas belegte dieselben mit Namen, welche er ihnen gab - und so müssten sie dann eben sein. Es entstünde also aus den beiden Worten für Rosenstrauch und Maulbeerbaum ein neues Gebilde.”

Und dem Befehl der göttlichen Zeichen müsste das Gewächs dann durch das Geheiß des menschlichen Willens gehorchen? Und so wüchsen in Folge dessen eben auf Rosensträuchern die blauschwarzen Früchte und in den grünen Maulbeerbäumen duftende Rosen.

„Soweit kann ich mich gerade noch erinnern”, fügt Leberecht noch an: „Und daran, wie Pinchas mehrere Male sagte, dass der unmögliche Hausmeister vom gestrigen Tage von all diesen Dingen gar nichts verstünde und nichts verstehen wolle, auch nicht, dass es Wunder gäbe und wir an ihrer Entstehung mitwirken dürfen und sollen, damit dieselben geschähen. Und, dass dieser ungehobelte Unhold immer nur ein Hausmeister bleiben würde - ohne Sinn und Geschmack für das Unendliche. Dass aber genau sei auch gut so. Denn die großen Geheimnisse der Nanowelt derer Zahlen und Laute müssen den minderwertigeren Charakteren dieser Welt auf ewig lächerliche als Rätsel erscheinen. Die Gefahr sei viel zu groß, dass, wenn deren wahre Mysterium in falsche Hirne geriete, dasselbe Geheimnis danach auch bald schon in falschen Händen zu finden sei. Im Vergleich dazu wären die Gefahren der Kernenergie jener Gefahr, welche in den Zahlen und Zeichen liegt, nämlich durchaus zu vernachlässigen …

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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