de ambulacro - von dem Spaziergang
Hölderlin zu Genesis 3,8
In bereits fortgeschrittenerem Alter will einer meiner Freunde nun doch noch promovieren. Kulturwissenschaften … Thema: "Der gesellschaftliche Stellenwert des bürgerlichen Spaziergangs in der Zeit vom Wiener Kongress bis zur Revolution 1848". Metternichs Zeit ist also gemeint. Im Zusammenhang der notwendig umfangreichen Recherchearbeit zur Klassifizierung verschiedenster Kulturtechniken versteigt sich der Freund zu der These, dass auch gemeinsame Spaziergänge und Stadtbummeleien mit zur bürgerlichen Widerständigkeit jener Epoche dazugehören. Nun fragt er mich als Theologen, ob es je eine biblische Begründung des "Spazierengehens an sich" gegeben habe. Ich wurde sofort hellhörig. Als evangelischer Landpfarrer freue ich mich darüber, dass es immer noch Zeitgenossen gibt, die scheinbar ganz alltägliche Vorgänge auch aus theologischem Blickwinkel beurteilen möchten. Ich habe sofort Feuer gefangen. Wir verabredeten uns zu einem - wie könnte es anders sein - gemeinsamen Spaziergang. Da unsere Terminkalender schwer in Übereinklang zu bringen waren, blieb nur der Montagabend übrig.
Das Wetter war so „lala”. Ungeimpft - wie wir beide nach wie vor aus Sicherheitsgründen sind - konnten wir uns nur außerhalb gastronomischer Etablissements im Offenen aufhalten. Wir hatten zu unserem gemeinsamen Treffen eine jener mitteldeutschen Städte vereinbart, deren Namen vor Kurzem noch weithin unbekannt geblieben waren, mittlerweile jedoch im Zusammenhang der Spaziergänge am Beginn der Woche von sich Reden machen. In der Abendkühle leistete uns eine große Thermosflasche mit heißem Hagebutten-Tee wärmende Dienste und stärkte den innerlichen Menschen. Mehr aber noch jenes kleine Gedicht aus dem Jahr 1848, welches von dem bereits alt gewordenen Hölderlin stammen soll. Und das in einer Kopie der Kopie meiner persönlichen Abschrift eines aus dem Jahr 1989 stammenden Ormeg-Abzugs der Abschrift von Hölderlins Tübinger Hymnen-Tagebuchs in meinem Besitze sich befand. Denn so was schmeißt man ja nicht weg. In diesem schmalen Bändchen findet sich also Hölderlins Rekurs auf den wichtigsten biblischen Bezug zum Thema des Spazierengehens. Der Turmbewohner am Neckarstrom hatte nur wenige Zeilen wie im Trance hingeworfen - aber damit sehr viel gesagt. Dass es in der Heiligen Schrift für schlichtweg alles einen literarischen Anklang gibt, darf als bekannt vorausgesetzt werden.
Gott also ging am sechsten Tag kurz vor Sonnenuntergang im Garten Eden spazieren (Genesis 3,8). Adam und Eva hörten den Schall der unbedingten Präsenz auf dem langsam aber sicher unter diesen Tritten unweigerlich sich herausbildenden Pfade. Jedoch fürchteten sie sich, denn sie hatten gerade von ihrer persönlichen Freiheit Gebrauch gemacht und unter Herzklopfen etwas angeblich Verbotenes vollbracht. Menschen fürchten sich oft - eigentlich immer. Das ist jedoch - zumindest von höherer Warte aus betrachtet - kein Grund für irgendetwas. Erschwerend kam allerdings hinzu, dass Adam und Eva sich gleichzeitig schämten. Sie erkannten nämlich, dass sie nackt waren - was nur ein trivialerer Ausdruck dafür ist, dass man keine Argumente mehr hat. Hier nun Hölderlins Verse über den Spaziergang Gottes im Garten Eden.
Der du uns wandelst im heiligen Park,
bei den grünenden Bäumen spazierest,
sei uns willkommen, unsterbliche Gottheit!
Du ließest werden seit Menschengedenken:
Wechsel dem Wild - und Pfade
dem menschlichen Schicksal.
Dir nur allein, dem Allesgebietenden,
lauscht auch das Pflaster der Straße.
Du schreitest dahin und dorthin.
Kömmest her und kehrest zurücke.
Unbezwingbarer uralter Wanderer:
Gesegnet dein wandelndes Walten.
Gut, dass du da bist. Gut, dass du gehst.
Spazierte bereits nicht der Weltgeist ob Wassern?
"Komme ins Offne - tritt unter die Himmel!“
So lockte Eva den Adam: "Schande und Scham,
wer sich duckt vor der Sonne, wer sich birgt vor dem Monde.
Unterm Versteck, da bebet der Odem, da atmet der Mensch!"
Heut zog die Schlange die Maske vor uns von der Haut sich.
Gebieter der glänzenden Sterne,
bewahre den Garten und schütze den Weg uns.
Ich hatte dem Freunde diese rätselhaften Zeilen vorab per Mail zukommen lassen und während des Spaziergangens kamen wir darüber gut ins Gespräch. Hölderlin knüpfte um das Revolutionsjahr 1848 offenbar tatsächlich an jener Stelle des Genesisbuches an, die uns wie nebenbei berichten will, dass Gott den freien Menschen sucht - und dieses sein Suchen zugleich ein Spazierengehen unter den Bäumen des Paradiesgartens bedeutet. Die Dichter um die Jahrhundertwende und bis zur Mitte des Goethezeitalters erlebten damals erst die Französische Revolution und danach die Zeit der Metternichschen Restaurationsepoche mit sehr ambivalenten Gefühlen. Wer da nicht alles auf Nimmerwiedersehen im Gefängnis verschwand, psychisch zerstört oder seiner materiellen Existenz vollkommen beraubt wurde … Ausgangssperren waren damals an der Tagesordnung und die Polizeispitzel des Fürsten Metternich allgegenwärtig.
Den Gottes-Spaziergang aus Genesis 3,8 haben die rabbinischen Kabbalisten zeitlich übrigens auf den Freitagabend zwanzig Minuten vor Sonnenuntergang (also kurz nach dem Biss in die verbotene Frucht) gelegt. An dieser Stelle in der Zeit beginnt auch Shabbes. Wir diskutierten lange über die Unterschiede der damaligen zur heutigen Zeit; mehr noch über die strukturellen Gemeinsamkeiten. Auch andere Leute waren dabei - sie könnten es bestätigen.
Das Gewahrwerden eigener Nacktheit und die Realisierung der freiheitlichen Tat geschehen in ein und demselben Augenblick. Genau dort, wo Gott spaziert und die Menschen sich verstecken. Klar, dass solch ein starkes mythisches Motiv immer wieder dazu verlockt hat, sich an seiner Kraft zu ergötzen und sich selbst mit Mut ausstatten zu lassen. Die Revolutionen der Metternichzeit allerdings sind, trotzdem sie auf romantisch aufgeladenen Spaziergängen und in den zahlreichen Kaffeehäusern der Hauptstädte vorbereitet worden waren, weithin erst einmal scheinbar missglückt. Moralisatio für alle, die unterwegs sind: Der biblische Spaziergang Gottes ist ein sehr schönes Motiv. Als Erster ist Gott spazieren gegangen. Und er geht immer noch spazieren. Gott sei Dank.
Mein Freund wird Genesis 3,8 in einer der zahlreichen Fußnoten seiner Arbeit unterbringen. Er hat es mir versprochen.
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