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eine Garage bei Riesa
Altes und neues von Leberecht Gottlieb (Teil 2)

Da saß er nun mitten im Advent  in diesem sonderbaren Raumzeitgleiter und wartete darauf, ob irgendetwas Sonderbares passieren würde. Direkt vor ihm erglänzte die Steuerungskonsole - sie war mit zahlreichen Lämpchen ausgestattet worden und in ihrer Mitte lief eine Uhr, die Jahre und Jahrhunderte anzeigte. Gerade dort, wo man sich im Augenblick aufhielt, wies der Pfeil auf eine Zahl. Demnach war Leberecht Gottlieb, der Pfarrherr i.R. (in Ruhe) eben rasant am 24. Juni des Jahres 2037 vorbei geflogen. Und schon war er im Oktober desselben Jahres angelangt. Und - nach einer gefühlten Minute im Januar 2038. „Was ist Zeit?” murmelte Leberecht Gottlieb gedankenverloren - und der Bordcomputer Alexa antwortete ihm mit dem Vorlesen eines Wikipediaartikels. Leberecht Gottlieb rief: „Alexa - stop!” Aber Alexa reagierte nicht, sondern fuhr fort zu lesen. Alexa ließ sich ab Januar des Jahres 2038 offenbar nicht mehr ausstellen, sondern hörte die ganze Zeit über ungefragt mit zu. Der Emeritus erschrak. Glühender Verehrer altjüdisch-kabbalistischer Zahlenkünste, der er schon immer gewesen war, wusste Leberecht Gottlieb, dass nach dem jüdischen Kalender der HERR seiner Schöpfung nur bis zum Jahr 2039 Dauer hatte beimessen wollen. Dann waren die 5.800 Jahre vorbei, denn die Schöpfung stammte aus dem Jahr 3.761 vor Christus - und jetzt war es wenige Monate vor dem Ende der Welt. Wer rechnen kann, der ist klar im Vorteil!  Oh weh - da war keine Zeit zu verlieren - und Leberecht i.R. riss nicht ohne Unruhe den roten Hebel mit der Aufschrift HALT auf die Nullposition. Das Räderwerk, welches den Verlauf der Jahre anzeigte, kam sofort zum Stehen. Also stand wohl die Zeit still?

Gottlieb betrachtete das Steuerpult aufmerksamer und bemerkte einen anderen roten Hebel. Unter demselben war ein Schildchen angebracht, darauf stand VERGANGENHEIT. Und ein Pflaster war dazugeklebt, darauf mit Kuli verzeichnet: LIEBER NOCH NICHT BENUTZEN, IST NOCH IN ERPROBUNG. Der Emeritus, dem bereits im Predigerseminar eine deutlich ausgeprägt experimentelle Ader zur Grundausstattung seiner Persönlichkeit zuerkannt worden war, ignorierte diese Warnung und schob den Hebel VERGANGENHEIT ganz leicht und nur ein wenig nach oben. Alsbald bewegte sich das Räderzahlenwerk der Zeitmessuhr in die entgegengesetzte Richtung. Leberecht Gottlieb erlebte die Sekunden, die unmittelbar zurücklagen wie ein sonderbares Déjà-vu. Dann durchlief er noch einmal den Augenblick, als man ihn in den Gleiter setzte, er sah die besorgten Blicke der netten Kirchenrätin, die monatlich mit ihrem O.K. die Überweisung seines Ruhegehalts nach Tübingen veranlasste, von welchem stattlichen Betrag dann das Altersheim „Elysio” bis auf wenige Euro Taschengeld alles einbehielt. Das Bischofskollegium, seit einigen Jahren Triumvirat geworden und bestehend aus einer Frau, einer diversen Person und einem Manne, war zum Abschuss des Raumgleiters hinaus in die Fernen der Zeit höchstselbstisch erschienen und auch der Finanzdezernent mit seinem Beraterteam stand im Hintergrund mit dazu. Letzterem war es zu verdanken, dass das Unternehmen „Erprobungsraum Zukunft” durch enorme Grundstücksveräußerungen in den ehemaligen Städten Berlin, Magdeburg, Erfurt und Dresden überhaupt hatte finanziert werden können. Die Herren in ihren tadellosen Anzügen diskret im Hintergrund machten bedenkliche Gesichter: "Hoffentlich kann er irgendwo auch ein paar neue Mitglieder für uns auftreiben" bemerkte einer den jüngeren Finanzer. "Sonst können wir in ein paar Jahren wirklich dichtmachen!" So sandte jeder seinen ganz persönlichen Wunsch dieser Raumkapsel hinterher, welche sie eben hatten im Nichts verschwinden sehen. Der eine wollte, das Leberecht neue vernunftbegabte Zivilisationen auftrieb, die sich nach erfolgter Taufe in die Schar der kirchensteuerzahlenden Mitglieder würden aufnehmen lassen. Ein anderer wollte, dass Leberecht Gottlieb mit neuem Wissen heimkehre und darüber belehre, wie Verschwörungstheoretiker (und Theoretikerinnen) so richtig wirksam gebannt werden könnten. Anderen war das alles ziemlich egal, diese mochten nur erfahren, ob es Gott vielleicht doch gäbe - vielleicht nur eben ganz, ganz weit entfernt auf einem andern Stern. Wieder welche wollten selber in die Zeit reisen und hatten sich nur noch nicht getraut. Aber wenn das Experiment glücken würde - dann führen sie wie der alternde Pfarrer gewiss auch hinaus. Jedes dachte halt so, wie es seiner Art entsprach  ...

Eine EKD gab es übrigens seit Ende der Zwanziger schon längst nicht mehr - sie war nach einer gewaltigen Revolte der Gliedkirchen aufgelöst worden. Es hatte einen großen Streit darüber gegeben, ob Jesus der Sohn Gottes, auferstanden wäre und zur Rechten des Vaters säße - und: Ob es den überhaupt je gegeben hätte. Die EKD-Leute hatten die Meinungslage der Glaubenden im besonders im Osten falsch eingeschätzt, geistig-törichte Leuchtfeuer angesteckt, dann aber, als sich ihr Projekt als Irrtum herausstellte, vergessen, die qualmenden Fackeln einfach verlöschen zu lassen. Besonders Lutheraner waren daraufhin Sturm gelaufen. Und so war es eben irgendwie passiert: Der Kirchen-Bund löste sich auf. Ohne dass es besonders große Wellen geschlagen hätte, vereinigten sich darauf die nicht wenigen freigesetzten Mitarbeitenden ohne viel Federlesens zu machen mit der seinerzeit bedenklich schwächelnden SPD. Dadurch waren nunmehr alle einzelnen Landeskirchen autonom geworden. Freilich - einige der dauergepamperten Kirchengebilde gingen finanziell sofort in die Knie - jedoch Leberechts Kirche schluckte sie alle. „Die Sachsen, die sind helle.“ Leberecht summte diese kleine Melodie vor sich hin, erschrak aber und verstummte sofort, denn die anwesenden Leute hoben die Köpfe und blickten suchend im Raum umher. Man konnte ihn also offenbar hören - aber nicht sehen. So wie Gott, der ja auch unsichtbar war - aber in seinem Wort präsent.

Der Emeritus schob den Vergangenheitshebel auf Null und die Zeit stand wieder ganz still. Nichts regte sich, er jedoch konnte hören, was die Damen und Herren so dachten. Denn die Gedanken unterliegen nicht der Zeit. Sie sind zeitlos. Daher kann man sie besonders dann aufspüren, wenn die Zeit still zu stehen scheint. Leberecht war hellwach. Mit seinen 80 Jahren war er noch enorm leistungsfähig. Seine Auffassungsgabe war noch nicht geschmälert, nur sein Körper war geschwächt, der Geist aber pulsierte wach, wie am ersten Tag. Er hatte stets gesund gelebt, sich nicht impfen lassen, kein Fernsehen geschaut, vorwiegend mediterran gekocht, hatte die Zeitungen abbestellt (außer Glaube & Heimat), agierte vorwiegend homöopathisch, wenn es galt, Medikamente einzunehmen, unterließ es tunlichst, sich auf theologische Streitgespräche mit Kollegen einzulassen. Während dieselben zu seiner Linken und Rechten durch heimtückische Streiche des Schicksals von Zeit zu Zeit so oder so niedersanken, hatte er im Thomas von Aquin gelesen, im Platon und im Homer. Nur die Augen und sein linker Ellbogen machten ihm etwas zu schaffen. Doch gebt acht! Jetzt gerade bemerkt der Emeritus, wie das Bischofskollegium - das Bischofsamt war offenbar seit 2030 zum Ehrenamt angehoben bzw. herabgestuft worden - intern darüber fabelte, wie der Raumzeitgleiter bzw. die Zeitmaschine, in dem er Platz genommen hatte, erfunden werden konnte. Es geschah in einer Garage nahe bei Riesa an der Elbe.  Leberecht Gottlieb erfuhr Folgendes:

Es war am Ende doch nicht so unmöglich gewesen, wie Stephen Hawking immer behauptet hatte. Der Prototyp seiner kleinen Zeitmaschine lief und lief nun schon seit einigen Tagen. Bisher drehten sich alle Teile ohne Komplikationen. Die Dinge verschwanden, wie er es erwartet hatte. Sie sanken langsam nach links - und versackten dort irgendwie sehr seltsam in dem, was die Zeit sein musste. Das Teuerste waren die beiden Ultrahochglanzspiegel gewesen. Dafür hatte er einen glatten Tausender hinlegen müssen. Sven hatte da einen Tip bekommen.  Der Army-Shop in der Mittelstraße. Das waren Teile aus irgendeinem Militärapparat, die auf abenteuerlichen Wegen aus den USA über Saudiarabien oder Syrien nach Europaland gekommen waren. Solche Spiegel hatte man vorher noch nie gesehen.
Noch einen Tausender hatte er hinblättern müssen für die beiden Bohrungen direkt in die Mitte der Spiegel. Ein Goldschmied hatte diese Löcher besorgt. Exakt ein Loch in der Mitte jedes Spiegelplättchens. "Schade um die Spiegel und meine Diamantbohrer!" hatte der Mann immer wieder gerufen. War dann aber doch ans Werk gegangen und dabei geblieben - bis alles fertig war. Der Mann hieß tatsächlich Goldschmied, war Goldschmied und Uhrmachermeister. Dann noch der Kasten aus satiniertem Glas, in dem Hochleistungsvakuum herrschen musste. Und die Kristallplatte in der Mitte mit dem eingelaserten Anagramm. Die beiden Milchschäumer, die sich gegenläufig drehten und ihre Schatten mit dem Licht aus den Stroboskopen über dem Anagramm vermischten, - die waren das Billigste gewesen. Sie würden auch als erste schlapp machen und ausgetauscht werden müssen. Sven hatte alle verfügbaren Milchschäumer von Fackelmann bei Amazon aufgekauft, das war der dritte Tausender.
Bisher lief alles rund, und die Dinge versanken nach links kippend im Schaum der Zeit. Es war also vergleichsweise zum unterirdischen CERN bei Genf recht einfach gewesen. Die Zeitmaschine in der Garage nahe der Stadt Riesa. Ein Traum. Nur der Schaum, der dabei immer entstand. Was war das? Wahrscheinlich Zeitblasen oder so was Ähnliches ...

In den nächsten Beiträgen (Feuilleton) erfahren wir, was der Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb auf seiner Reise an die Ecken des Seins, an die Enden des Nichts, an die Schwelle des Abgrunds zum Unbekannten noch alles erlebt hat. Und wie er auch zurückkehrt und alles gut wird.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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