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in Konstantinopel
Altes und neues von Leberecht Gottlieb (Teil 3)

auf dem Weg nach Neotania ... in Konstantinopel

Nachdem er das nun alles hatte mit anhören müssen, wurde Leberecht Gottlieb, achtzigjährig und nunmehr Lenker eines Raumzeitschiffgleiters, den man auf den Namen „Purgatorio” getauft hatte, sehr zornig. Wieder stellte sich heraus - es gab keinen klaren Auftrag. Die einen wollten von ihm, dass er einen fernen neuen Heimatplaneten für die vom bösen, bösen Supervirus geschwächte Erde ausfindig mache. Die anderen sagten, er möge ferne vernunftbegabte Zivilisationen nach absolvierter Unterweisung im Glauben dem Sakrament der Taufe unterziehen, damit es in puncto Mitgliederzahlen der Landeskirche wieder aufwärts ginge. Andere suchten nur das Ihre und gierten nach klugen Argumenten gegen die auf Erden sich viral vermehrenden neuen Religionen von Verschwörungstheoretikern (und Theoretikerinnen). Und welche wollten einfach ergründet haben, ob Gott existiere oder ob nicht. Sicher gab es zudem auch solche, die nur ein weiteres Event gestartet wissen wollten - ganz egal, wie dieses dann ausgehen würde. Denn Events, Kampagnen und Projekte waren immer noch mächtige Zauberworte, mit denen man dies und das glaubte bewegen zu können.
Zornig riss der emeritierte Pfarrherr Leberecht Gottlieb am Steuerhebel, der das Schiff sofort aus der im Kirchenamt sich gerade vollziehenden sogenannten Gegenwart hinaus in ferne Zeiten katapultierte. Der betagte Mann hatte den Plastikknüppel aber dermaßen malträtiert - dass derselbe unterhalb der Konsolenabdeckung abbrach. Da war nun guter Rat teuer, denn zu allem Unglück hatte der Erzürnte nicht den Hebel in die verheißungsvolle Zukunft bedient, sondern den anderen, den mit dem warnenden Pflaster, auf welchem VERGANGENHEIT geschrieben stand. „Scheiße jetzt?” entfuhr es dem Geistlichen in fragendem Ton. Alexa kommentierte diesen Ausruf mit der Rezitation eines entsprechenden Wikipediaartikels. Und die Zeitanzeigeuhr schnurrte dermaßen geschwind, dass der zu Tode erschrockene Reisende die sich abspulenden Zahlen nicht mehr zu unterscheiden vermochte - rasend schnell drehte sich das Zifferblatt. Leberecht Gottlieb versuchte mit zitternden Fingern hinab in das Loch zu fühlen, ob er den Stumpf des Steuerhebels nicht fassen könne. Umsonst, seine Hände konnten den Rest der Vorrichtung nicht erreichen. Er blickte sich um, schnallte sich ab und untersuchte den Kabinenraum seines seltsamen Gefährts. Kein einziges Werkzeug gab es hier - aber auch nicht eines! Er langte nach seinem Rucksack und fand darin - die alte Zahnbürste. Da fuhr er mit deren Stiel in das gähnende Loch der Konsole hinab. Und, gelobt sei Gott - es gelang. Es gelang Gottlieb, den Galopp zurück in die Vergangenheit abzubremsen und schließlich ganz zu stoppen. Als er mit schweißbedeckter Stirn auf die Uhr schaute, erschauerte er am ganzen Körper. Er war im Jahr 553 nach unserer Zeitrechnung gelandet. Wie einst Noah die Arche, so öffnete Leberecht Gottlieb jetzt hoffnungsvoll die Luke von seinem Zeitgleiter. Und er staunte nicht schlecht …

Die Raumkapsel, die man im Dresdener Landeskirchenamt gestartet hatte, stand nun nämlich an einem ganz anderen Ort. Diesen Umstand bemerkte der Pfarrherr sofort- schon als er die Türe nur ein wenig geöffnet hatte. Eigentlich müsste er ja in einen Eichenwald hinaus und in dessen undurchdringliches Dickicht treten? Denn Sachsen war damals noch Urwüste und vergleichbar dem Tohuwabohu kurz vor der Schöpfung, die vom jetzigen neuen Zeitpunkt aus gerechnet nun doch noch reichlich 1.500 Jahre dauern würde - weil sie (nach kabbalistischer Zählung) erst etwa 4.300 ebensolche alt geworden war. Niemand hatte hier draußen östlich von Erfurt vom Christentum noch das Mindeste gehört, und die wenigen Menschenähnlichen, die es vielleicht wohl geben mochte, kannten den Heiland Jesus Christus nicht. Schnell hatte Leberecht das alles im Kopfe überschlagen. Dann trat er beherzt aus der von außen silbern glänzenden Kapsel geradewegs auf einen menschengefüllten Platz hinaus und wurde gewahr, wie sich bärtige Leute mit Knüppeln auf die Köpfe schlugen und in  einigermaßen barbarischem Griechisch gegenseitig heftig beschimpften. Ein Blick auf seine „apple-Watch 14. edition” belehrte unseren lutherischen Chronozyklisten darüber, dass er offenbar in Konstantinopel gelandet sein müsse, zumindest drangen in seinem Geiste Erinnerungen an ein dogmengeschichtliches Proseminar in Halle an der Saale  wieder auf, in welcher Lehrveranstaltung die Koordinaten 41° 0′ 33″ nördlicher Breite und 28° 58′ 33″ östlicher Länge - deren Werte das Zahlenwerk seiner wertvollen Uhr ihm jetzt genau anzeigte - als Lage dieser ehemals christlich bekennenden Stadt auf der nördlichen Erdhalbkugel genau bezeichnet hatten.

Wie war das möglich? Was war geschehen? Wir machen es kurz: Leberecht Gottlieb würde nur wenig später im Begleitheftchen des Raketenmotors seines Raumzeitgleiter lesen, dass es einen sogenannten Zeit-Raum-Schlupf als Missweisung gäbe. Diese Sigularitäten würden sich bei der Zeitreiserei unweigerlich einstellen - besonders beim Zurücklegen großer Entfernungen innerhalb der Zeit. Demnach könne man nie genau sagen, wo man ankäme und zugleich auch wann genau! Denn gemäß der Heisenbergschen Unbestimmbarkeitsrelation, bzw. über diese noch weit hinaus, war es nur möglich, entweder den genauen Zeitpunkt oder den genauen Raumpunkt der Reiseankunft festzulegen. Beides zugleich ginge zwar auch, aber nur um den großen Preis, dass derjenige, der abgereist war, nicht mehr als derselbe am Ziel ankam, sondern sich bei der Reise selber in etwas anderes hinaein metamorphisiere. Mutige Probereisende hatten bereits enorme Opfer bringen müssen. Sie waren beispielsweise guter Dinge als fröhliche Menschen losgereist - mit dem Ziel, am 31.12.2999 um 23 Uhr auf der Avenue des Champs-Élysées zusammen mit irgendwelchen Zukunftsfranzösinnen Silvester zu feiern. Sie kamen in Paris tatsächlich auch an, aber als Feuerwerkskörper. Und wurden als solche auch genutzt und eingesetzt. Die Rückkehr sah entsprechend aus ... R.I.P. Dieser besondere Fall wurde von einem Professor namens Agatognoseos von der Universität in Bukarest untersucht. Der geniale Mann konnte theoretisch aufzeigen, dass man in dem Ereignis-Dreieck von 1.Raum, 2.Zeit und 3.inhaltlicher Thematik des Reisenden die sogenannte Topo-Chrono-Struktur nur stabil halten konnte, wenn man davon absah, Ort und Zeit beide zugleich definiert haben zu wollen. Legte man den Ort und die reisende Person als Konstantenfest, dann - so hatte sich unweigerlich herausgestellt - unterlag die Zeit einem nicht unbeträchlichen Schlupf von teilweise mehreren Jahrhunderten. Sven, der Erfinder des Gleiters aus Riesa in Sachsen, wollte z.B. während einer kurzen Zeitreise unbedingt in seiner heimischen Garage selber als Sven geblieben sein. Er bezahlte die gewünschte Konstanz des Ortes und Identität mit sich selbst innerhalb eines Kurzaufenthalts von 5 Minuten mit eiszeitlichen Temperaturen - denn der Proberaumgleiter war im  Pleistozän gelandet. Da Sven leichtfertig im Sommer die Reise begann und nur mit einem T -Shirt bekleidet gewesen war, hatte er sich einen jämmerlichen Schnupfen eingefangen, der ihm 14-tägige Quarantäne in einem von der Landeswehr hermetisch bewachten Zelt eintrug. Seitdem hielt man im Gleiter eher nur die reisende Person und die Zeit konstant, musste dafür aber eine gewisse Ortsdilatation hinnehmen.

Deshalb war Pfarrherr i.R. Leberecht Gottlieb nicht mehr im Dresdner Kirchenamt, sondern genau in Konstantinopel gelandet, wo eben das bekannte fünfte ökumenische Konzil abging. Des Glanzes seines Raumgleiters wegen wurde der Zeitpilot für einen von Gott abgesandten Engel gehalten und sofort zur Gattin des Kaisers Justinian - also zu der berühmt/berüchtigten Kaiserin Theodora - beordert. Diese war ihm vom Studium her noch gut bekannt. Als Tochter des Bärenführers Akakios hatte sich die ehemalige Prostituierte, die sich gern Schauspielerin nannte zur Kaiserin hochgedient und förderte nunmehr eine der Zirkuspartei - und zwar die Grüne. Das gekrönte Weib befahl Leberechten nunmehr, mit seinem glänzenden Gefährt in der Zirkusarena auf und ab zu schweben und Figuckchen zu veranstalten. Die Kaiserin meinte in sehr schlechtem Latein: "Wir müssen die Leute niedrigschwellig von dort, abholen wo sie sind!" (Populus Habemus ad humilis limine colligunt ex qua sunt. Schauderhaft!) Das Weib des Kaisers wollte mit dem kleinen Event die zumeist zur Unterschicht angehörigen Massen der Grünen auf ihren Kurs bringen, der darin bestand, die Lehren des Kryptognostikers  Origenes endlich auf der Synode verdammen zu lassen. Dabei handelte es sich in Sonderheit um die Lehren von der Apokatastasis Panton, um die Reinkarnationsspekulationen des gelehrten ägyptischen Denkers und um die Angelegenheiten einer Präexistenz der Seele im Allgemeinen.

Nun, Leberecht Gottlieb galt als Origenesverehrer. Und er lehnte das unsinnige Ansinnen der Theodora natürlich rundweg ab. Als er deshalb in das Stadion zu den Raubtieren geführt werden sollte, tat er so, als ob er dann doch willfährig geworden sei. Er stieg in sein Raumschiff, steckte seine  Zahnbürste in die Öffnung des abgebrochenen Hebelchens und trieb den Raketenmotor weiter in Richtung Vergangenheit. Und lachte sich eins. Ja, mit einem klugen Emeritus aus Sachsen ist nicht zu spaßen.

In den nächsten Beiträgen (siehe Feuilleton) erfahren wir, was der Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb auf seiner Reise an die Ecken des Seins, an die Enden des Nichts, an die Schwelle des Abgrunds zum Unbekannten noch alles erlebt hat. Und wie er auch zurückkehrt und alles gut wird.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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