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Theologia adventorum
vom Abenteuer der Theologie

Don Quijote und Sancho Pansa

1.DAS ABENTEUER DER THEOLOGIE 

Der Auftrag lautete, nach fünfunddreißig Dienstjahren und sozusagen als fröhlichen Abgesang vor dem Pfarrstellenwechsel im Sommer 2022 noch einmal den Kollegen im Kirchenkreis Wittenberg mit einem Vortrag die Aufwartung zu machen. Dies ist heute geschehen - und hier ist der Vortrag.
Ein Vortrag an sich und im Allgemeinen ist so etwas wie ein „Stück Wirklichkeit im Zeitraffer”. An einigen Stellen gibt es Abgründe in’s Unermessliche, an anderen Stellen tun sich geheime Tapetentüren auf, durch die man sich in’s Imaginäre davon stehlen kann. Fünfunddreißig Jahre - diese Zahl springt in meinem Falle am 10.Juli 2022 auf die sechsunddreißig. Denn ich selber sprang am 10. Juli 1986 in Bülzig vor dem Pfarrhaus aus dem Möbelwagen - und bezog mit meiner Familie das notdürftig in Stand gesetzte Pfarrhaus, welches fünf Jahre lang leer gestanden hatte. Unserer Abenteuer zu gedenken, die im Laufe der Zeit sich ganz sachte ereignen, sind wir alle irgendwie mehr oder wenig angehalten - oder sogar verpflichtet. Im Gange der verstrichenen dreieinhalb Jahrzehnte haben mich Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich studierte bzw. später das Predigerseminar besuchte, bei Absolvententreffen öfter gefragt „ob ich immer noch auf der kleinen Klitsche in Bülzig säße.” Sie hatten ihrerseits zumeist respektablere Kirchen erobert, Dome in Mitteldeutschland - auch stille Arbeitszimmer  mit Schreibtisch im ehemaligen Konsistorium. Mit meiner immer wieder erneut vorgetragenen Darstellung des nicht vollzogenen Wechsels und der Bejahung meiner weiterdauernden Präsenz in der kleinen Landpfarrstelle zehn Kilometer östlich von Wittenberg ließen diese Fragen nach und nach nach - es vergaßen die Frager den langweilenden Beantworter zwar nicht - aber jeder musste sowieso weiter seinen eigenen Weg beschreiten. Jenen Weg, welcher uns vorgeschrieben zu sein scheint von einer seltsamen und deshalb genau sogenannten höheren Macht, der wir unsere kleine Kraft per Ordinationsgelübde zur Verfügung gestellt haben - ernstlich befragt von Bischof, Propst und Assistenten - in meinem Falle der 23. Oktober 1988 in der Allerheiligenkirche zu Wittenberg - die Gebeine Melanchthons und Luthers als verlässliche Grundlage zu Füßen. Was aber genau ist ein Abenteuer - und was hat es auf sich mit der Zahl Fünfunddreißig?

2. VON DEN WORTEN
ADVENIO, ADVENT, ADVENTOR
UND ADVENTURIA

Die Pfarrpersonen führen die Konfirmanden in die Geheimnisse des Christentums ein. Zumindest die unteren Grade der christlichen Geheimwissenschaft sind das Arbeitsfeld der Dorfgeistlichen. Ihre zwölf- bis vierzehnjährigen Adepten lernen - oder lernen eben nicht - aber es kommt der Tag, an dem auch der Begriff „Advent” zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden muss. Advent, das ist doch diese vierwöchige Zeit, in der die Mütter backen und der Vater den Baum aus dem Walde holt. Die Geschenke besorgt werden müssen? Ja - richtig. Aber … Advent ist noch viel, viel mehr. Dieses MEHR zu erklären ist die Aufgabe des Pfarrers. Er hat einmal das Latein lernen wollen oder müssen. Diese angeblich tote Sprache wird ihm nun sehr nützlich und man erläutert den Zusammenhang des lateinischen Verbums venio, veni, ventus mit der Präposition ad. Advenire heißt nicht nur kommen bzw. herkommen. Sondern dieser rätselhafte Begriff versucht, das wunderbare Mysterium der tatsächlichen Begegnung mit einer noch ausstehenden Begegnung zu thematisieren. Etwas ist noch nicht da, sondern im Modus seines unmittelbar bevorstehenden Ankommens nur fast vorhanden. Aber eben doch irgendwie noch nicht. Dieses „Ding” hat also noch nicht enttäuschen können. Und ist noch reine und unschuldige Erwartung. Ein Kirchenlied singt es so:

„Lass uns dich schau’n im ewigen Advent
Halleluja, Halleluja!” (EG 154,7)

Der Advent ist nomen actionis zu jener Form des vorweggenommenen Ankommens, welches zugleich wirkliches Ankommen ist. Innerhalb des Kirchenjahres als vierwöchige Phase vor die Christgeburt platziert, bereitet diese Zeit den Augenblick vor, der dann das Göttliche aus einer Frau sich gebären lässt. Wenn wir uns weiter mit dem Wort advenio beschäftigen, finden wir als nächsten Verwandten dieser Vokabel den Adventor. Als nomen agentis ist ein Adventor derjenige, der die verheißene Ankunft vorab schon vollzieht. Er ist der Ankommer.
Schließlich gelangen wir auch zum Abenteuer höchstselbst. Die Abenteuer oder der Abenteurer sind die deutschsprachigen Derivate des sprachlich verschliffenen lateinischen Adventuriums - oder der Adventuria. Abenteuer sind solche Sachen, deren Ankunft man nicht ausweichen konnte, bzw. deren Ereignis man mit einer gewissen Leichtsinnigkeit selber vielleicht provoziert und gesucht hat - oder denen man nicht ausweichen wollte oder gar nicht konnte. Mit Abenteuern ist die Ankunft von etwas gemeint, das man womöglich einigermaßen tatsächlich geahnt haben mochte - aber so! dann doch nicht. Und Abenteuer sind etwas, was einer glücklich überstanden und manche Lehre daraus gezogen hat. Nun kann man davon berichten. Die Leute hören zu, lesen davon gern - und dieses um so mehr, weil sie selber das Gefährliche und u.U. auch Erschreckende nur im abgetöteten Modus - einer ungefährlichen Impfung mit Worten und Bildern vergleichbar - genießen können. Ohne selbst in allzu große Gefahr zu geraten. Wie es denn auch heißt.

„Was im Leben uns verdrießt / Man im Bilde gern genießt!” (Goethe 1827 in Parabolisch) oder:
Man in Büchern gern genießt, was im Leben uns verdrießt!

3. VON DER ABENTEUERLICHKEIT DER ZAHL FÜNFUNDDREIßIG

Was ist fünfunddreißig? Robinson Crusoe - einer jener Abenteurer, deren Schicksal wir kurz streifen werden, kehrte nach fünfunddreißig Jahren von einer einsamen Insel im Pazifik in das heimatliche Britannien zurück. Und auch nach fünfunddreißig Dienstjahren im Sachsen-Anhaltinischen werde ich (so Gott will) heimkehren in die Thüringer Lande, in denen meine Wiege gestanden hat. Sachsen habe ich damit zwar nie ganz verlassen, denn zwischen Sachsen-Wittenberg und Sachsen-Coburg-Meiningen liegen im Vergleich zu echten robinsonesken Entfernungen nur wenige Kilometer. Auch meine Abenteuer haben sich im Vergleich zu denen Robinson und Freitags in bescheideneren Grenzen gehalten. Aber Abenteuer kann man ja ausschmücken. Dann wird es interessant. Und wir können und wollen es auch gar nicht anders, als dass wir unsere eigenen Geschichtchen in den Kristallspiegeln der großen Erzählungen und Narrativen der Abenteueromane und theologischen Heilsgeschichte sich strukturell abbilden sehen. So ist mir das Thema THEOLOGIA ADVENTORIS (die Theologie des Abenteurers) tatsächlich im Zusammenhang mit Robinsons fünfunddreißig Inseljahren eingefallen. Theologie ist die so oder auf andere Weise berichtende Erzählung über die Präsenz des Göttlichen und der Adventor ist jener Abenteurer, der diese Gottes-Präsenz sucht und gerade im Nie-Ganz-Finden findet, ähnlich wie Elia im schweigenden Rauschen die redende Gottheit.

Die großen Themen des individuellen und allgemein menschlichen Lebens sind im Grunde genommen immer die dieselben geblieben, wie der Prediger im gleichnamigen Buch bereits vor der mit Christus beginnenden modernen Zeitrechnung vermerkt:

„Ich sah, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist (Koh 3,14f)

Die Zeit ordnete sich seit jeher durch die in ihr stetig sich erneuernden Feste, die von glücklich überstandenen Abenteuern berichtet - seien es fabelhafte Geburt aus Gott und Frau, sei es der miese Verrat durch Freunde und Schüler, sei es das Leiden in Wüsten oder auf dem Wasser, sei es der Tod durch Folter und Fluch. Sei es die Auferstehung aus leeren Grabstätten, sei es die luftige Fahrt aus der irdischen in die himmlischen Sphären. Abenteuer sind es, die wir in der Kirche berichten und ihnen Glauben zu schenken mit Gesängen und in Gebeten verführen dürfen. Die Bibel als Abenteuerbuch zu verstehen - darauf käme es an.

4. VON ROBINSON

Als er auf der namenlosen Insel gestrandet war, richtete Robinson sehr bald zuerst ein Kreuz auf und schnitt dann jeden Tag eine Kerbe in dessen Stamm, so dass das Zentralsymbol des altehrwürdigen Christentums kein Folterinstrument mehr blieb, sondern zum Kalenderkerbholz des seinem mahnenden Vater untreu gewordenen Schiffbrüchigen geworden ist. (Die Mahnung des Robinsohnvaters lautete: „Wenn du dich auf’s Meer begibst, wirst du untergehen!” Der Vater hatte Recht behalten - aber nicht ganz. Das Schiff ging zwar unter - aber Robinson rettet aus der Konkursmasse des untergegangenen Schiffes - dessen Katastrophe er als Einziger überlebt hat - auch sich selbst und ein besonderes Buch. Lacht nicht, es ist die Bibel. Mit diesem Buch beginnt Robinson die chaotische ganz persönliche Ein-Mann-Gesellschaft auf der umstürmt fruchtbaren Insel zu ordnen. Und diese Insel verwandelt sich deshalb von einem reinen Naturparadies in ein stetig wachsendes Kulturparadies. Zuerst nur für Robinson selbst, dann auch für den vor den Zähnen der hungrigen Kannibalen geretteten und peu a peu zum Christentum bekehrten Freitag. Das war dem Dichter Daniel Defoe sehr wichtig, dass ein sogenannter Wilder die Vorzüge der christlichen Lehre kennenlerne und sich nach ihnen später auch richten würde. Es ist eine Art ganz persönlicher 1:1-Mission, die hier auf der Insel geschieht. Ein Lehrer hat einen Schüler. So ist der Lernerfolg garantiert. Im stetigen Nebenher- und Miteinanderleben unterschiedlichster Landsleute geschehen Wunder.
Vielleicht hat es auch in meiner fünfunddreißigjährigen Inselzeit auf den östlich von Wittenberg gelegenen Dörfern ein oder zwei Freitage bzw. Freitag*innen gegeben. Wer will das wissen? Viel bleibt im Verborgenen. Und das Verborgene mutet abenteuerlich an. Das ist der Charme des Pfarrberufs - man ist Verbündeter des unerkennbaren Schicksals anderer. Das ist auch die Schwierigkeit. Nicht alles will sich in die Scheinwerfer lauter Aufmerksamkeit wagen. Manches wandelt lieber nur im sanften Licht des Mondes und der kaum wahrnehmbaren Sterne. Und ist nicht abbildbar in Zahlenwerken der Statistik.

Daniel Defoe beschreibt mit seinem Robinsonbuch das Leben eines lernenden Mannes, der immer kurz vor dem Untergang steht. Er befindet sich zudem ein einer Gefängnissituation. Und es entstand im Gefolge dieses Buches, das viele Nachahmungen fand, eine ganz spezielle Gattung, welcher die Literaturwissenschaftler den schönen Namen „Robinsonade” gegeben haben. Diese literarischen Robinsonaden sind zugleich Robin-Sonaten. Vom Sohn Robin wird gesungen, der zuerst ganz allein ist, wie Adam im Paradies - aber nicht ganz allein. Tiere sind seine ersten Gefährten. Ein Papagei, der bald sprechen kann und zum gefiederten Gegenüber des Verbannten avanciert. Der Vogel deutet das Schicksal des Verbannten mit den krächzenden Worten: „Robins Sohn, armer Robinson!” Robinson liest zu diesem Vogelgerufe in der Bibel von Christus und zugleich von sich selbst. Das gerettete Buch wird zum rettenden Buch. Oft ist das Buch ein besserer Freund. Die Geschichten des Bibelbuches rücken den einen Schiffbrüchigen in die Nähe aller Schiffbrüchigen und jemals Gefangenen, Bestraften und Geretteten zugleich.
Im Verlauf des Romans kommt dann an einem Freitag der Gefährte Freitag ins Spiel. Laut jüdischer Vorstellung geschieht auch die Erschaffung des Menschen am späten Freitagnachmittag. Insofern kann man eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Schöpfungsgeschichte aus Genesis 1 und dem Ablauf der Defoeschen Robinsonade sehen. Wenn man will! Denn das Wichtigste mit bei den Abenteuern ist, dass wir sie auf uns beziehen und sie interpretieren (pretium - der Lohn). Es geht darum, in dem, was bei einem ankommt (Advent), irgendwie einen Lohn zu finden. Oder einen Lohn hinein zu interpretieren. Es geht also auch um die bewusste Hermeneutik zufällig erscheinenden Geschehens. Man sucht die Abenteuer, damit man was erlebt. Man sucht unbewusst Situationen, in denen man sich bewähren und zeigen kann, was in einem steckt. Ein großes und nicht gefahrloses Gefängnis ist diese Insel gewesen? Aber im Tohuwabohu der Abenteuer auf der Gefangeneninsel lernt Robinson sich selber kennen - und kehrt dann geläutert zurück.

5. VON DEM RITTER DON QUIJOTE DE LA MANCHA

Der Unort - bzw. Urort - des Gefängnisses ist es auch, in dem Miguel Cervantes 1597/98 seinen Don Quijote zu schreiben begonnen hat:

„An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Hidalgo, einer von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche [ein alter Schild], einen hageren Gaul und einen Windhund zum Jagen haben.“

Auch Cervantes musste ins Gefängnis. Und sein Buch handelt von allerlei Abenteuern, die ein Mensch erlebt, weil er sie provoziert und sich willentlich (bzw. im Wahn - wo ist der Unterschied …) in dieselben hinein begibt. Auch dem Ritter Don Quijote ist eine Art Gehilfe beigegeben worden - so wie Robinson sein Freitag zugeordnet wurde. Es handelt sich um den Bauern Sancho Pansa. Der reitet mit dem Ritter in die Welt der Abenteuer, weil es zu Hause so arg langweilig ist …

Als ich 1973 konfirmiert wurde, hat die Patentante aus dem Westen mir Manchettenknöpfe geschenkt. Auf den beiden Knöpfen sind der Ritter Don Quijote von la Mancha und sein dienender Begleiter Sancho Pansa abgebildet. Der eine reitet auf einem Pferd - der andere auf einem Maultier. Der eine trägt einen Speer, der andere einen Vorratssack voller Lebensmittel. Die Körper der beiden Gestalten ähneln demjenigen, was sie als Körper geistig beinhalten sollen - und äußerlich als Insignien mit sich herumtragen: Der eine ist dünn der andere ist dick. Der eine weilt mit seinen Gedanken im imaginär Geistig-Wahnhaften, dem anderen geht es hauptsächlich um Essen und Trinken. Die Unterschiedlichkeit der beiden Charaktere ist auch bei Cervantes literarisches Mittel und Thema, mit deren Hilfe die Abenteuer der beiden Reisenden vor dem Forum der Leserschaft dargestellt und dialogisch ausagiert werden. Robinson - Freitag / Don Quijote - Sancho Pansa. Karl May: Kara Ben Nemsi - Hadschi Halef Omar.

Don Quijote ist nun eigentlich ein ausreichend begüterter Mann, hat aber (bzw. gerade deshalb?) auch Interesse an etwas Rätselhaftem, an etwas Geistigem. In Form von Ritterbüchern bringt er sich die geistige Welt vergangener Zeiten nahe - bis er durch ständiges Lesen sich in dem Gelesenen auflöst und untergeht. Der Unterschied zwischen Literatur und realer Wirklichkeit ist nicht mehr ausfindig zu machen. Er liest nicht mehr von Rittern, sondern wird zu einem Ritter. Windmühlen werden zu Riesen, eine Stallmagd aus dem Nachbardorf Toboso zur angebeteten Königin des Herzens, ein altes Rasierbecken zu einem Ritterhelm. Ohne solche gelungene Imaginationen gibt es keine Abenteuer. Ohne Interpretation bleibt das, was uns begegnet, ohne bleibenden Wert. Ohne Imagination und Vorstellung bleibt das Erhabene des Leben aus. Erhebt die Seele sich nicht zum Flug über das Banale, ist es aus mit uns. Auch die Abenteuerin Mutter Teresa suchte sich einen Bereich, in den hinein sie aus dem behüteten Milieu britischer höherer Töchter entrinnen konnte. So ist sie eine Heilige geworden. Nicht alle werden Heilige. Manche werden zu Verbrechern (erklärt.) Das ist ein weites Feld, aus dessen Ackerkrume Bücher sprießen, Filme erwachsen, Musik entsteht und Theaterstücke keimen. Diese Früchte gibt es tatsächlich - unter den vielen Dornen und Disteln.

6. SEITENBLICKE AUF DEN KIRCHENVATER D.BONHOEFFER

Dietrich Bonhoeffer hat als Vikar in Barcelona von einer Konfirmandenmutter Cervantes’ „Don Quijote” im spanischen Urtext geschenkt bekommen - und er liest dieses Buch von vorn bis hinten. Im Wehruntersuchungsgefängnis Tegel wird Bonhoeffer an seinen Freund Bethge 1944 schreiben:

„Es sind die Besten, die so mit allem, was sie können und sind, untergehen. Die unvergängliche Gestalt des Don Quijote, des Ritters von der traurigen Gestalt, der ein Rasierbecken für einen Helm und einen elenden Klepper für ein Streitross nimmt, der für die erwählte Gebieterin seines Herzens, die gar nicht existiert, in unablässigen Kampf zieht, wird gegenwärtig. So sieht das abenteuerliche Unternehmen einer alten gegen eine neue Welt, einer vergangenen gegen die Übermacht des Gewöhnlichen aus. Nur der Gemeine kann die Schicksale des Don Quijote ohne Teilnahme und Rührung lesen …”

Bonhoeffer fragt sich in diesem Zusammenhang, ob das Christentum von seiner Wurzel her nicht geradezu aristokratisch am besten zu verstehen wäre. Denn die Gemeinen sind überall - und zerstören das Vornehme des Christentums. Für das Elitäre in seinen Überlegungen hat Bonhoeffer nicht nur Lob zugesprochen bekommen. Aber es sind die Erfahrungen der Haft, die Bonhoeffer im Gefängnis zu solchen Aussagen zwingt. Die Gemeinen verstehen die Würde des Ritters Don Quijote nicht, der sich ohne absehbaren Erfolg gegen das Böse auflehnt …

In der Welt der Literatur, in die unsere Bibel ja weit hinein reicht, trösten über Raum und Zeit hinaus Gefangene die Gefangenen. Inseln können dabei Gefängnisse oder Paradiese sein. Paradiese stellten sich u.U. als Gefängnisse heraus. Und Patmos, wo Johannes die apokalyptischen Visionen aufschrieb, war nicht weit vom Paradies entfernt. Auf jeden Fall sind es Gefängnisse und Arenen, Inseln und Studierstuben, Klosterzellen und Hinrichtungsorte, die als geheimnisumwitterte Lokalitäten die Spielorte des Schicksals werden. Thomas von Kempen schreibt über die Zelle, in die hinein der Mönch sich selbst verbannt und in Zukunft dort als ihr Gefangener lebt: „Halte Wacht über deine Zelle - und deine Zelle wird über dich wachen!” Und schreibt weiter: „In deiner Zelle erlangst du wieder, was du draußen häufig verlierst.” Auch diesen Satz zitiert sich Bonhoeffer immer wieder - um das Abenteuer, den Augenblick der Wahrheit auszuhalten und so oder zu zu bestehen. In Barcelona besuchte der Vikar die Stierkampfarenen und sah in dem blutigen Spiel zwischen animalischer Stärke des Stiers und der kluger Überlegung des kämpfenden Menschen eine Abbildung der Wirklichkeit, wie sie ist.
Zurück zu Don Quijote. Der literarische Stoff ist sowohl verfilmt als auch vertont worden. Als „Der Mann von La Mancha” hat Dale Wasserman 1959 ein Musical draus gemacht. Darin wird der wahnhafte Abenteurer und Möchte-Gern-Ritter Don Quijote sehr sympathisch einer Selbstbeschreibung unterzogen. Für Bonhoeffer ist dieser Ritter im Gefängnis so wichtig geworden, dass er das Buch seiner Braut und Dulcinea (Maria von Wedemeyer) dringend zur Lektüre empfahl. Die Selbstbeschreibung des Ritters im Musical ist unter diesem LINK  zu hören.

Er träumt den unmöglichen Traum,
bekämpft den unschlagbaren Feind,
erträgt den untragbaren Kummer,
stürmt vor, wo der Tapferste flieht.

Er bricht das unrichtige Recht,
er liebt, keusch und flammend von fern -
und reicht noch mit müdesten Armen
nach dir, unerreichbarer Stern.

Das ist mein Ruf, ich folge dem Stern,
wie glücklos auch immer, wie unfaßbar fern.
Und ich gehe den Weg, und frage nicht viel.
lieber will ich zur Hölle geh’n für ein himmlisches Ziel.

Denn ich weiß: Folg ich drunten dir treu
Meinem höheren Ruf,
dass ich dann tret getrost droben an
vor dem Herrn, der mich schuf.

Und der Welt wird ein helleres Licht,
Weil ein Mann oh so hoffnungslos gern
Aus der Nacht selber blind noch gereicht hat
nach dir, unerreichbarer Stern.

Mit Daniel Defoes Robinson und Cervantes Ritter ist das Thema längst nicht erschöpft. Wen wir unbedingt auch erwähnen müssen, das ist Homers Odysseus. Und wie viele andere wären noch hinzuzufügen - zum Schluss jeder von uns selbst. Fantasiegestalten, deren Existenzen sich irgendwelchen Schriftstellern geradezu aufgedrängt haben, weil ihnen so etwas wie das eigene Lebensmuster zu gefühlter Resonanz angestoßen worden ist, gibt es genug. Indem über sie etwas im Äußeren beschrieben wird, wird es in unserem lesenden Inneren entdeckt und zur Offenbarung des eigenen Selbst. Sei es - dass diese Figuren in dem oder jenem Gefängnis gesessen haben, oder im Zustand völliger Freiheit sich gefangen genommen fühlten, sei es, dass sie die Zauberschulen in Hogwarts besuchen müssen/dürfen oder einem goldenen Ringe auf die Spur gesetzt werden. Es ist das Vorrecht aller gehandicapter Personen, sich bei Vorhandensein entsprechender Phantasieressourcen in der weiten Welt des geistig Möglichen und gleichermaßen Unmöglichen virtuell anzusiedeln und es dort zu etwas zu bringen. Und weil wir Menschen Sterbliche sind, haben wir alle dieses Handicap. Es muss nur ein winziger Winkel innerhalb der Seele sein, der das Größere wahrnehmen will. Das reicht. In diesem Gefängnis der Seele entsteht jene sogenannte innere Freiheit, welche Flucht ins Imaginäre zu ermöglichen scheint - und wirklich ermöglicht. Lesen macht frei. Wirkliche oder imaginäre Abenteuer - die Grenze zwischen Beidem ist fließend - gaukeln im Raum der Literatur Schicksale vor, die erst zu Büchern führen, später irgendwelche Leser ergreifen und dann sogar die Massen in einem Maße beeinflussen, wie man es zuerst nicht für möglich gehalten hat. Darum auch gab es Zeiten, in denen das Lesen von Büchern der Menge nicht erlaubt gewesen ist. Denn die Bücher verändern den Leser - und der Leser die Welt im Sinne des Buches, das ihn fasziniert hat.

7. VON ODYSSEUS

Odysseus nun - der listenreiche Sohn des Laertes, Gatte der Penelope und Vater des kleinen Telemach musste ein anderes Gefängnis kennenlernen. Das Gefängnis des Odysseus ist das weite Meer. Hier setzt er alles ein - und hier verliert er auch fast alles. Seine Irrfahrt über die endlose Salzflut des Meeres hat Odysseus selber verschuldet. Denn er zog den Zorn der mächtigen Titanengottheit Poseidon auf sich. Odysseus gewann zwar durch List und Verrat den Sieg über die Stadt Troja. Aber eigentlich nur deshalb, weil ihm zu diesem Sieg der Gott Poseidon verholfen hatte. Dieser Sieg war also ein Geschenk aus der göttlichen Sphäre. Odysseus aber schätzt das anders ein - und er kommuniziert seinen Gefährten den Sieg als rein menschliches Verdienst. Zusätzlich und zu eigenem Unglück verwundet Odysseus auch den Sohn seines titanischen Helfers (den Poseidonsohn Polyphem). Zu den insgesamt zehn Jahren Schlacht vor Troja häuft Poseidon deshalb zehn weitere Jahre Irrfahrt auf dem Meer auf. Dann erst darf Odysseus zurückkehren und stirbt einen sanften Tod am Gestade des Meeres, wo ihn ein Sohn, den er mit Kirke gezeugt hat, im Streit unwissend tötet. Auch bei Homer ist das Abenteuerliche des Odysseus und seiner Reise auf das Engste mit einer Art heidnischer Proto-Theologie verbunden und ohne dieselbe gar nicht zu begreifen. Alles, was geschieht, kommt aus den Händen der ewig sorglos auf wolkigen Höhen schön daher schreitenden Göttinnen und Götter und ist als Ausfluss deren Einflusses auf uns Menschen zu verstehen. Abenteuer sind also bei Licht besehen der Ereignisraum und -ort der realen Gottesbegegnung.

8. KARL MAY
DER MANN AUS ERNSTTHAL
IN SACHSEN

Nachdem wir nun erstens Robinson, zweitens den Ritter aus la Mancha (samt Bonhoeffer als Abenteurer unter den neuzeitlichen Theologen) und drittens Homers Odysseus im Visier hatten, wollen wir uns zum Schluss jenem Carl Friedrich May zuwenden, der wie kein anderer das Abenteuern in fernen Welten zur eigenen Dauerexistenz- und Dauerreflexionsform seines persönlichen Alltags gemacht hat. Vorgestern war übrigens das 110. Jubiläum seiner Bestattung auf dem Radebeuler Friedhof. Die Kasualie der Bestattung ist so etwas wie die Legitimation einer Lebensgeschichte vor einem gedachten göttlichen Forum. Insofern sind sie auch eine Mischung aus Spiel und Notwendigkeit. Denn jede Biographie, die abgeschlossen vor uns liegt, wartet darauf, dass sie bei Gott in Ehren angenommen wird, wie es im Psalm 73,24 heißt. Die Bestattungsfeier stellt eine solche Ehren-Annahme in Aussicht - auch das ist ein Abenteuer. Wohl auch deshalb, weil diejenigen, welche unterwegs auf die größte Reise aller Reisen gegangen sind, das abenteuerlichste aller denkbaren Abenteuer unternommen haben. Das Abenteuerlichste ist die Höllenfahrt -hier wäre viel über Dantes Göttliche Komödie zu erzählen. Ein andermal ... Eines der ersten Gedichte Goethes übrigens ist die Beschreibung der Höllenfahrt Christi, als geglückte Höllenfahrt. Der spätere Weimarer Staatsminister ist gerade erst sieben Jahre alt - und lässt die Hölle erzittern und den Teufel sich schämen.

Welch ungewöhnliches Getümmel!
Ein Jauchzen tönet durch die Himmel.
Ein großes Heer zieht herrlich fort.
Gefolgt von tausend Millionen
Steigt Gottes Sohn von Seinen Thronen
Und eilt an jenen finstern Ort.
Er eilt, umgeben von Gewittern;
Als Richter kommt Er und als Held.
Er geht, und alle Sterne zittern.
Die Sonne bebt. Es bebt die Welt.

Ich seh Ihn auf dem Siegeswagen,
Von Feuerrädern fortgetragen,
Den, der für uns am Kreuze starb.
Er zeigt den Sieg auch jenen Fernen,
Weit von der Welt, weit von den Sternen,
Den Sieg, den Er für uns erwarb.
Er kommt, die Hölle zu zerstören,
Die schon Sein Tod darnieder schlug;
Sie soll von Ihm ihr Urteil hören.
Hört! Jetzt erfüllet sich der Fluch.

Karl May nun seinerseits macht die Zeit seines gesamtes Leben über nichts anderes, als sich aus dem Jahrzehnte währenden Höllen-Gefängnis seiner missglückten Kindheit und Jugendzeit durch schriftstellernde Tätigkeit zu befreien. Er gewinnt dieses Spiel und nimmt die Kurve vom Zuchthäusler zum reichen Manne in bewundernswerter Eleganz und wird zu einem der meistgelesenen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Die meisten kennen wohl nur seine Winnetou-Romane. Viel wichtiger aber ist das Alterswerk, in dem er die Verwandlung der von Krieg und Unglück zerrissenen Welt in eine paradiesische Ära verwandelt. Max Frisch schreibt dazuz (Tagebuch 1966-1971)

„Spiel gestattet, was das Leben nicht gestattet [...]: daß wir die Kontinuität der Zeit aufheben, [...] daß sich eine Handlung unterbrechen läßt [...] und erst weiterläuft, wenn wir ihre Ursache und ihre möglichen Folgen begriffen haben [...]. Leben ist geschichtlich, in jedem Augenblick definitiv, es duldet keine Variante. Das Spiel gestattet sie.“

Wie schaffte es Karl May, mit einem Nichts an persönlicher Erfahrung einen authentisch wirkenden literarischen Kosmos aus fernen Ländern zu kreieren? Er hat selber gesagt: „Es sind die Boten Gottes, die mir die Worte bringen.“ (Karl May, Freuden und Leiden eines Vielgelesenen - 1896). Und dieser sonderbare Sachse scheint die Engel innerlich tatsächlich empfangen zu haben. Er hat im Rausch dieser Begegnungen geschrieben. Und allen Abenteurern unter uns bis zum letzten Tag Wertvollstes hinterlassen:

Die griechische Götterlehre erzählt uns eine tiefernste Sage: Prometheus stieg hinauf zu dem Sitze der Götter, entwendete ihnen einen Funken des himmlischen Feuers und brachte die belebende und alle Finsterniß verscheuchende Flamme den Bewohnern der Erde. Die Götter bestraften diese verwegene That. Angeschmiedet an einen Felsen des Kaukasus, wurde er ein Raub der furchtbarsten Schmerzen, denn ein Adler mußte ihm die beständig nachwachsende Leber immer wieder von Neuem aushacken. Diese Sage birgt einen tiefen Sinn. Es hat zu allen Zeiten solche Prometheusnaturen gegeben, welche von einem innern Drange nach Erkenntniß getrieben wurden, die kühne Hand nach dem Lichte der Wissenschaft auszustrecken, um die Räthsel des Seins zu beleuchten und zu ergründen. Aber mit jedem Schritte, den sie vorwärts thaten, wuchs der Zweifel und der Durst nach neuem und größerem Wissen; von den Finsterlingen mit dem Anathema belegt, sahen sie sich von dem Spötter verlacht, von dem unverständigen Haufen verketzert und mußten in ewiger Kerkerhaft oder gar auf dem Scheiterhaufen ihr Heldenthum büßen. Doch ist der göttliche Funke, einmal in Brand gesteckt, nimmer wieder auszulöschen; mag der Denker unter dem Bannfluche seufzen und zum Märtyrer seiner Ueberzeugung werden, so ist es doch unmöglich, die Errungenschaften seines Geistes mit dem Interdicte zu belegen und die Idee, die ihn erleuchtete, lebt fort und geht auf andere Geister über, um unter Sturm und Drang immer weiter entwickelt und ausgebildet zu werden. Jetzt sind jene Zeiten vorüber, die Fesseln gefallen und die Scheiterhaufen verkohlt, und unbesorgt dürfen wir uns in die Schöpfungen der Männer versenken, welche nach dem Glanze der Wahrheit strebten und Antwort suchten auf die Frage nach Ursprung, Wesen und Zusammenhang des Bestehenden.” (Geographische Predigten)

9. ZUM SCHLUSS

Fast alle Charaktere, die in den Büchern Mays beschrieben werden, sind Abenteurer, die irgendwo weit draußen ankommen wollten bzw. sollten. Sie wurden auf die Suche geschickt - und stehen für den inneren Dialog der Seele Karl Mays, die sich immer wieder neu aus dem dumpfen Ardistan der Kind-und Jugendzeit in das helle und lichte Dschinnistan des Geisterreiches zu retten versucht hat.

Oftmals wussten Abenteurer gar nicht, ob es das, was sie suchten, überhaupt gibt. Aber indem sie es suchten, entstand es … Man muss in der Welt so leben, als ob es Gott gäbe (Hans Vaihinger: Philosophie des Als Ob). Genau das ist das versteckte Abenteuer innerhalb der Theologie. Sie ist wohl jenes Abenteuer, welches das, was sie beschreibt, dadurch, dass sie es beschreibt, entstehen lässt. Gott wollte es so - denn er gestattet sich selbst, ihn zwischen allem Unsinn im Sinn der richtigen Worte auffindbar zu machen. Deshalb sind Worte nie nur Worte, sondern - wenn sie richtig gesetzt werden - Wohnungen Gottes. Mit und in ihnen lassen sich unüberwindbar scheinende Mauern durch die Kraft der Seele bzw. die Ausdauer des Geistes mit Gottes Hilfe überwinden, man kann den Gefängnissen der Realität tatsächlich entrinnen. Auch wenn man immer irgendwie auf der Insel gefangen bleibt - so halten die gelesenen Abenteuer anderer Menschen sich willig dazu bereit, als Erfahrungsort für die Gegenwart des allgemeinen göttlichen Rätsels zu dienen …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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