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Altes und neues von Leberecht Gottlieb (12)

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Leberecht Gottheld, pensionierter Pfarrer von Prätzschwitz in Sachsen, hatte, nachdem er 84 Jahre alt geworden war und ihn niemand mehr für Vertretungsdienste engagieren wollte - auch nicht am Heiligen Abend! - scharfe Konsequenzen gezogen. Er studierte die Finanzen seines Kontos und nahm sich vor, eine große Schiffsreise zu buchen. „Wenn sie eben allein und ohne mich auskommen wollen - sollen sie doch.“

Das kleine Reisebüro dicht bei der Stiftskirche in Tübingen, wo er im gegenüberliegenden Pensionärsheim der Kirche schon seit dreißig Jahren sein Ruhegehalt verzehrte, schlug ihm eine 117 Tage währende Kombi-Reise vor. Da es in Tübingen vielen gebildeten Menschen ähnlich geht wie Leberecht Gottheld, hatte man Erfahrung gesammelt mit dem Reisebegehren aus kirchlichen Kreisen stammender älterer Herren, die weit über den Rand des garstigen Greisenalters hinaus gekommen waren. Leberecht Gottheld rechnete die Quersumme der Reisetage aus - und kam auf Neun, was ein gutes Zeichen war, denn er war auch zu einem Datum geboren worden, dessen Quersumme diese seltsamste aller Ziffern ergab: Neun. Ihr wollt seinen Geburtstag wissen? Es ist der 13.4.1927.

Während der ganzen Bucherei hatte Leberecht Gottheld wacker am Tresen stehen können, die gesamte Zeit der Beratung über wollte er sich auch nicht auf den ihm angebotenen Stuhl setzen, sondern verhandelte souverän und präzise mit der angenehm parfümierten jungen Dame, die in reizend osteuropäischem Akzent Leberecht die Fahrt schmackhaft machte - bis dieser die Kombi-Reise buchte. Mittelmeer, dann durch die Meerenge bei Gibraltar, Atlantischer Ozean und über den Panamakanal in den Stillen Ozean mitten hinein. Durch die Inselgebiete Mikronesiens in den Indischen Ozean, hinunter zum Südpol und in einer Schleife an Ceylon vorbei, Indien - und durch den Suezkanal zurück in das Mittelmeer. Sehr viele Landgänge und Vollpension, Einzelkabine mit Blick auf die schäumende Salzflut. Ja, es war eine beindruckende Route, sie würde sechs Wochen währen und etwa 15.000 Euro vom Konto des Pensionärs verzehren. Diese fünf und zehn Riesen hatte sich Leberecht Gottheld eigentlich für seine Beerdigungsfeier zurückgelegt. Aber - nicht schade drum. Nein, - da sowieso kein Hahn mehr nach ihm krähte, nur von Zeit zu Zeit der obligatorische Geburtstagsgruß aus dem Kirchenamt anlangte, war es jetzt eine abgemachte Sache. Navigare necesse est, wie der Lateiner sagt. Es sollte schon bald losgehen, so dass also noch einige Impfungen dem Leib ins Haus standen, Passerneuerung und die Lektüre umfangreichen Lesematerials jenes Reiseanbieters, welcher sich Sakro-Trip nannte. Sakro-Trip arbeitete mit einer großen Schiffsreederei zusammen und die wiederum mit einem der bekanntesten Reiseanbieter.

Es würde also so sein, dass Leberecht Gottheld zusammen mit etwa vier bis sechs anderen ähnlichen Interessenten in einem besonderen Bereich des Schiffes untergebracht sein und für sie alle sozusagen auch gewisse Extrawürste gebraten würden. Die meisten anderen Teilnehmer der 117 Tage andauernden Weltumseglung hatten nicht die Interessen wie pensionierte Studienräte, Pfarrer oder Kirchenbeamte. Wir wollen nicht im Detail weiter auf alle diese Umstände eingehen, auch nicht wie Leberecht Gottheld sich auf die Reise etwa ein halbes Jahr lang vorbereitete. Nur soviel, er las wie immer, aß wie immer, hielt die Impfungen alle ohne größere gesundheitliche Turbulenzen aus - und so kam der Tag, da er mit einem Rollkoffer mittlerer Größe in einem Taxi zum Flugplatz gefahren wurde und von dort aus nach Lissabon flog, wo er sich einschiffte, wie es seit Jahrhunderten so missverständlich heißt.

Wir können hier wirklich nicht alles aufschreiben, was geschah. Vielleicht ein anderes Mal. Ein Roman würde daraus werden, denn Leberecht Gottheld erlebte viel. Sehr viel. Heute nur eine kleine Begebenheit. Es geschah also um den Silvestertag des Jahres 2022 zu 2023, es war schon etwa eine Woche Fahrt vergangen und man befand sich noch immer im Mittelmeer.

Der Kapitän hatte mit Ihnen zu Abend gegessen. Das war eine große Ehre für die Gäste der Offizierstafel. Der Mann trug vier Striche an den Ärmeln seiner Uniformjacke. Und an der Mütze, die er beim Essen ablegte, waren auch irgendwelche Zeichen, Winkel und Embleme zu sehen. Leberecht Gottheld saß dem Kapitän gegenüber. Der Kapitän kam aus Indien und war in Thiruvananthapuram geboren worden. Sein Name lautete Purva Ashadha Bhadrapada, - und er war Sohn eines Bramanen, wie sich später herausstellen sollte. Da sich niemand den Namen merken konnte, wurde er mit „Herr Kapitän” angesprochen. Purva Ashadha Bhadrapada kannte sich mit der deutschen Zunge aus, denn einer seiner sieben Söhne hatte es nach Europa geschafft und war dort in einem Unternehmen sogar Abteilungsleiter. Purva Ashadha Bhadrapada machte hin und wieder zusammen mit seiner Frau Urlaub dort - in Bayern. Der Umstand, dass er deutsch verstand, diese Sprache auch reden konnte und das sogar wollte, macht es uns als Indogermanen leicht, dem Gespräch zu folgen, das sich bald ergeben sollte. Als nämlich das Abendessen vorüber war, fügte es sich, dass der Kapitän Purva Ashadha Bhadrapada und der pensionierte Pfarrer aus Sachsen, Leberecht Gottheld, gemeinsam die Offiziersmesse verließen und beide hinaus unter den bestirnten Himmel traten.

Da standen sie nun. Man war etwa auf der Höhe zur Insel Malta, dort, wo der Heilige Paulus seinerzeit den erschreckenden Sturm erlebt und das Schiff gesunken, sie alle aber Dank himmlischen Eigreifens gerettet worden waren. Leberecht Gottheld sprach den Kapitän an und fragte, ob er etwas fragen dürfe. Nachdem der Kapitän das Ansinnen seines Fahrgastes bejahte, trug Leberecht Gottheld sich selbst umständlich einleitend einige Bedenken vor. Er hatte alle seine Erfahrungen, die zumeist aus der Lektüre von Büchern herrührten, in der vergangenen Woche vor dem geistigen Auge abrufen müssen, denn er schlief nach Art älterer Leute nur kurz und von vielen Nachtwachen unterbrochen. Die Werke von Homer waren es zuvörderst, welcher uns die Seereise des Odysseus beschrieben hat, dann auch Vergil, der den Äneas und die Seinen auf dem Meer begleitete, natürlich ebenfalls Marko Polos Abenteuer, Daniel Defoes Robinson, Karl Mays Schiffsreisen auf dem Mississippi, Frederick Marryats Sigismund Rüstig und Fontanes Ballade über den wackeren Kapitän John Maynard, der in den Flammen standhaft das Ruder nicht Preis gab. Dann noch die Schatzinsel Louis Stevensons mit Kapitän Silver, die Geschichte vom Fliegenden Holländer, der immerzu die Erlösung sucht und bei Senta auch findet, wenn auch diese dadurch den Tod, Filme aus der UFA-Zeit mit Hans Albers und Leni Riefenstahl - um nur einige zu nennen. Sie alle hatten die Gefahren der Seefahrt kennenlernen müssen.

Leberecht Gottheld war ins Reden gekommen und seine dringliche Frage betraf die Gefahr, die von Schiffsreisen ganz allgemein ausgeht. Er fragte den Kapitän, wobei er ihm in das freundliche Hindugesicht blickte: „Herr Bhadrapada, ist daran gedacht worden, dass die Geschichte vom Malström nie widerlegt werden konnte? Dass es also einen Strudel irgendwo, wenn auch nicht hier in der Ägäis, durchaus doch geben könnte und wir, führen wir unbedacht zu nahe an diesem unterirdischen Wasserwirbel vorbei, in die Tiefe gerissen würden? Und dann unweigerlich Opfer der Haie würden, die unser Schiff schon seit Tagen begleiten, wie ich entdecken konnte? Leberecht verwechselte hier die Delphine mit den Haien - aber wir wollen ihm diese nachlässigkeit verzeihen.) Oder jener sagenhafte Magnetberg, der alles, was aus Eisen ist, mit unwiderstehlichem Sog in seine Nähe zwingt, mehr und mehr - bis dass das Schiff an ihm zerschellen muss, weil es aus Eisen besteht - und die Besatzung mit allen Fahrgästen rettungslos verloren wären - von den Haifischen machte ich bereits Andeutung - aber auch die gefährlichen Walfische, von denen die Bibel bereits mit dem bekannten Leviathan einige Bemerkungen macht, sind nicht zu unterschätzen. Ist an all das gedacht worden? Jene Skorbut genannte Krankheit, die bei langen Seefahrten mit großer Sicherheit einen oder alle dahinrafft, - ist also genügend Vitamin-C an Bord, um dem Unheil begegnen zu können? Haben wir auch Rettungsboote genug und haben dieselben genügend Stabilität, um das Schicksal der Titanic sich nicht wiederholen lassen zu müssen? Weiter - der Pensionär Leberecht Gottheld kam in Fahrt - können wir den Stürmen überhaupt trotzen, ist das Schiff nicht viel zu groß und muss unweigerlich auseinander brechen, wenn die Wellen es bestürmen. Und überhaupt: Die Stürme, Orkane, Taifune und Hurrikane. Haben wir einen Funker, der Notsignale absetzen kann, Leuchtraketen, die die Position auf dem unendlichen Weltmeer bekannt machen werden? Sind wir auch gegen die alles umgürtenden Seeschlangen immun - lachen Sie nicht, Herr Kapitän - ich glaube schon, dass es diese Ungeheuer hier draußen gibt, gedenken Sie Moby Dicks und des Untiers im Schottischen See Loch Ness. Sind Eisberge und Riffe, Felsen und Untiefen wirklich zu jeder Zeit durch verantwortliche Offiziere im Blick, sind dieselben auch wach oder nehmen ihre Verantwortung manchmal nicht ganz ernst? Werden wir vielleicht das Bermudadreick doch lieber weiträumig umfahren um die dortigen Raum/Zeit-Anomalien nicht gegen uns zu erzürnen? Und den Felsen der Sirenen - jene beste Geschichte des göttlichen Homer: Sollte sie uns nicht Warnung sein? Schließlich Ruhr, Pest, Cholera und Pocken haben schone manches Geisterschiff erzeugt, dass verseucht durch die Meere treibt. Halten wir uns lieber davon fern. Verzeihen Sie, wenn ich in Sie dringe - aber haben Sie diese Gefahren alle genügend bedacht und können Sie für unsere Sicherheit ihre Hand ins Feuer legen?“

Der Kapitän Purva Ashadha Bhadrapada hatte aufmerksam zugehört und sagte dann in dem unnachahmlich schönen Idiom der Inder, in welchem die Grammatik der deutschen Sprache sehr einfach - aber zugleich so gut verständlich den Sinn der Rede herüber bringt: „Mein Herr, lieber Herr Gottheld. Ich habe die Bücher, von denen Sie mir sagten, nicht gelesen. Aber ich bin ein gläubiger Mann. Ich kenne die Bhagavadgita und die Vedische Literatur von Kind auf. Ich kenne Vishnu, Brahma, Shiva und Krishna. Sie sagen: Mensch darf nicht Mut verlieren. Soll kämpfen und leben und vertrauen. Mond (und er deutete auf den Mond, der jetzt in beeindruckender Größe aufgegangen war und wie eine Schale aussah, die darauf wartete, dass man sie mit irgendetwas fülle) - Mond kommt und geht und kommt wieder. So auch Zeit. Alles im Wechsel, aber eines bleibt - Wechsel des Wechsels. Sie haben von großen Gefahren gesprochen. Ich kann keine einzige ausschließen, außer vielleicht den Sirenenfelsen. Wer will uns scheiden von der Liebe Krishnas? (so ähnlich sagt es auch Euer Paulus, der in diesen Gewässern Schiffbruch erlitt und doch gerettet wurde) Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Wenn Gott für uns ist, wer könnte gegen uns sein? Wer will uns scheiden von seiner Liebe? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? So bin ich gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Krishna Jesus ist, unserm Herrn. Und wenn Sie sollten werden von einem Wal verschlungen, dann loben Sie Gott im Bauch dieses Fisches. Der Gesang wird dann sogar noch gedruckt werden, und Sie haben einen Platz bei Homer und Vergil. Und guten Abend.“ Damit wandte er sich um und ging die Treppe hinauf und verschwand im Steuerraum, während Leberecht Gottheld allein blieb, voller Ängste und doch getröstet durch das Wort des fremden Kapitäns.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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