Geschicke in der Hand:
Rettung vor dem Zugriff der Verfolger (Psalm 31,16)
„Ich hatte beobachtet, dass die Sanduhr höchst behagliche Stimmung verursacht” schreibt Ernst Jünger in seinem Sanduhrbuch. Mechanische Chronometer mochte der Mann aus Heidelberg nicht leiden. Neben Gedanken über Zeit und Messinstrumente für Zeit hat er uns auch die Bücher „In Stahlgewittern“, „Auf den Marmorklippen“ und „Der Waldgang“ geschenkt bzw. zugemutet - auf jeden Fall hinterlassen. Nicht alle mögen deshalb Ernst Jünger, der bei vollem Verstand sehr, sehr alt geworden ist. Mechanische Uhren mochte Jünger auch deshalb nicht, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass man beim Ticken solcher Geräte nicht klar denken kann. Der Gedanke wird in die Unruhe der Uhren getaktet und erstirbt. Jünger musste zwar älter werden, aber blieb trotzdem immer Jünger des Staunens über das, was sich den Gedanken zeigt und so wurde er uralt. Nur ein paar Tage fehlten an der Einhundertunddrei. Vielleicht ist gar nicht alles, was er geschrieben hat, so abwegig, wie geistig Kurzatmige heute entrüstet schreien.
Wie schon bemerkt, es ging Ernst Jünger um das Phänomen der Zeit und mit dem Blick auf die Antike um Zeiten, Gelegenheiten, Schicksale und Chancen. Was aber ist Zeit? Der einunddreißigste Psalm gibt in seinem sechzehnten Vers einen Spruch her, der im Jahr 2023 unserem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg Highlight sein soll. Die Übersetzung Martin Luthers lautet: „Meine Zeit steht in deinen Händen!” Am nächsten Sonntag (13. Februar 2022) wird bereits probehalber die Gelegenheit geboten, dieses alttestamentliche Urwort auf unsere Gegenwart, jüngste Vergangenheit - wenn nicht sogar die kommende Zukunft zu beziehen. Hier zur Einstimmung ein paar Übersetzungen, die den kurzen hebräischen Vers ins Deutsche balancieren:
1. In deiner Hand s i n d meine Fristen (Martin Buber)
2. Die Chancen meines Lebens s i n d in deiner Hand (Basic English)
3. In deiner Hand s i n d meine Zeiten (Elberfelder & Schlachter)
Die Varianten 1-3 kommen dem Urtext am nächsten, auch wenn sie die 3. Person Singular Präsens von dem Verbum SEIN einfügen. Wenn man den Ursatz Wort für Wort von dem einen hebräischen Ufer zu dem anderen auf deutscher Seite übersetzen würde, käme Folgendes heraus: „In deiner Hand - meine Zeiten.” Es ist im Urtext nämlich nicht von ZEIT im Singular die Rede, sondern von der Zeit im Plural, also eher von Zeitformen bzw. Gelegenheiten und Chancen.
Die Übersetzungen 3 und 4 haben die Luzidität um das Phänomen Zeit geahnt und sogar an „Auslosungen“ im Sinne des Orakelwesens denken wollen. Haben dabei dann aber aus der einen Hand Gottes seine beiden Hände gemacht. Demnach würde die irgendwie geartete Pluralität von Zeit nur in beiden Händen gehalten oder bewegt werden können:
4. In deinen H ä n d e n sind meine Zeiten (Septuaginta)
5. In deinen H ä n d e n sind meine Lose! (Vulgata)
In den Varianten 6 und 7 kommt nun noch ein anderes Moment mit ins Spiel. Während wir die Zeit gewöhnlich eher als etwas Fließendes wahrnehmen, lassen die Übersetzungen 6 und 7 die Zeit stehen bleiben. Die Zeit verfließt nicht mehr - sondern sie steht:
6. Meine Zeit s t e h t in deinen Händen! (Luther 1912)
7. In deiner Hand s t e h t meine Zeit (Menge)
Auf noch ferneren Umlaufbahnen umkreisen die Übersetzungen 8 und 9 den Text des Psalms. Nun liegt die Zeit sogar, sie ruht oder schläft - wie ein Käfer in der Hand eines Kindes. Das Liegen der Zeit bedeutet, dass das, was die Zeit bringt, an Gott liegt. Nichts liegt an der Zeit, sondern an dem, in dessen Hand diese Zeit liegt:
8. Meine Zeit l i e g t in deiner Hand (Jörg Zink)
9. Was die Zeit auch bringen mag, es l i e g t in deiner Hand (Hoffnung für alle)
Eine Sonderstellung nimmt dann noch die Jerusalemer Bibel ein. Deren Übersetzung bringt erneut die eine Hand Gottes ins Spiel - nun aber mit der Mehrzahl der schicksalshaften Zeitereignisse in Verbindung. Beide ruhen in- oder aneinander. Eine schöne Vorstellung:
10. In deiner Hand liegt mein Geschick (Jerusalemer Bibel)
Und noch raffinierter die Gute Nachricht:
11. Was aus mir wird, liegt in deiner Hand (Gute Nachricht)
Wichtig ist also, dass es dem kurzen Kirchentags-Spruch nicht um die Länge der Lebens-Zeit geht. Nicht die bestimmte Tage-Menge etwa W.A.Mozarts (35) oder Ernst Jüngers (103) ist gemeint. Es geht dem Vers nicht um die Länge des Fadens, den die Schere der Parze dem jeweils Einzelnen zugesteht. Sondern es dreht sich um die einzelnen Gelegenheiten, die das Los dem Einzelnen zuwirft. Diese werden der einen Hand Gottes von seiner anderen entnommen - weil sie dort liegen oder stehen, bis sie in Bewegung kommen.
Bei den Griechen gab es für das Phänomen der Zeit zwei Gottheiten: Auf der einen Seite Kronos, der alle seine Kinder fraß - und deswegen von Zeus entmachtet und mit viel Mühe auf ewig in den Tartaros verstoßen wurde. Zum anderen Kairos, welcher die vorübereilenden flüchtigen Gelegenheiten verkörpert, welche man entweder feige verpasst oder mutig ergreift. Kommt dieser Kairos vorbei, fasse ihn am Schopfe! Diese besondere Stunde ist gemeint, der Augenblick und die Chance - nicht (nur) die Lebensdauer im Sinne von erreichbarem Alter.
Der Vers 16 geht übrigens noch viel weiter. Und darüber muss man reden! „Und errette mich aus der Hand zudringlicher Feinde, die mich verfolgen.“ Auch diesen zweiten Abschnitt wird jeder für sich selbst auslegen wollen. Nur als Beispiel: Impf-Skeptiker etwa bitten Gott darum, dass sie endlich in Ruhe gelassen werden und es nicht dazu kommen möge, dass irgendein Feldscher mit der Nadel zudringlich werden darf, weil er eine behördliche Erlaubnis für solche Übergriffe ausgehändigt bekommen hat. Anders herum - werden nicht vielleicht diejenigen, welche eines fernen Tages für die Covid-Impfboosterei verantwortlich gemacht werden könnten, Gott demütig darum bitten, mit heiler Haut und ohne Regressforderungen davon kommen zu dürfen? Ja - so ist das. Weil die Bibel eben Recht hat – auf beiden Seiten und sogar dazwischen.
Die Geschicke der Menschen werden von der Hand Gottes in der Schwebe gehalten. Der Vers 16 redet davon. Und er redet auch von der banalen Realität des Bösen und der Verfolgung. Mögen unsere Geschicke so zum Ziel gelangt sein, dass die Menschen danach nicht lange verfeindet bleiben müssen.
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