Vom Gericht
vorletzter Sonntag im Kirchenjahr
„Der Menschensohn wird einmal wiederkommen,
zu sprechen Urteil über Schlecht und Gut.
Zum Himmel führt er dann die wirklich Frommen,
die andern fahren ab zu roter Glut.“
So lehrt der Engel mich. Ich musste lachen -
doch ihn verdross mein kecker Übermut:
„Er wird die Völker sammeln aller Sprachen
und niedersitzen einst auf goldnem Thron.
Man wird die Bücher bringen, die den Rachen
weit spreiten, um zu künden letzten Lohn.
Die Taten jedes Menschen wird man lesen:
‚Das Reich euch Guten‘, ruft der Gottessohn,
‚denn hungrig und auch durstig bin gewesen
ich damals. Fremd, gefangen nackt und krank.
Ihr speistet, tränktet, kleidetet erlesen
mich ohne Furcht vor Zank und vor Gestank.
Ich sehe wohl, ihr könnt euch nicht erinnern?
Es war, als tief im Leben ich versank.
Denn meiner armen Brüder Schmerz und Wimmern
war Gottes Echo nur vor euern Zimmern‘".
Ich staunte ob der Rede. Vor dem Engel
verharr´ ich in Gedanken. Es gab da
in meinem eignen Leben schwere Mängel,
vor Augen ward mir schwarz, als ich sie sah.
Doch jener fuhr noch weiter fort zu reden:
„Die Sache ist so klar wie Nein und Ja:
Was immer ihr getan habt einem jeden,
genau das habt ihr Christus auch getan.
Schau jene, wie sie kehrten um vor Eden.“
Wie traurig sah ich kommen Frau und Mann,
was waren das für armselige Wesen:
Es wankt und kriecht verzweifelt zu uns an …
Der Engel rief: „Vom Durst geplagt gewesen
war Gott. Auch nackt, Gefangener und krank.
Ihr speistet, tränktet, kleidetet erlesen
nur euch - verschenktet weder Brot noch Trank.
Und könnt auch heut euch nicht darauf besinnen,
wie mancher nur für euch zu Schanden sank?“
Da eilte den Verfluchten ich entgegen,
um Gnade bittend Gott - auch meinetwegen.
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