Konzentration auf den Kern der Kirche
Gemeindeporträt: Bitterfeld hat sich gewandelt, das stellt auch die Kirche vor neue Herausforderungen
Von Katja Schmidtke
Bitterfeld – rauchende Schornsteine, Gestank, zerstörte Natur. Die Bilder halten sich hartnäckig, auch wenn der Chemiepark modernisiert ist und der Braunkohlentagebau sich in einen See verwandelt hat. Bleibend scheint auch die bittere Erfahrung der Bewohner ob des wirtschaftlichen Niedergangs ihrer Stadt nach der Wende: Fast die Hälfte seiner Einwohner und Tausende Arbeitsplätze hat Bitterfeld verloren. Inzwischen pendeln mehr Menschen zum Arbeiten ein als aus und die rund 300 Firmen im Chemiepark haben 12 000 Beschäftigte.
Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel prägt auch das Leben der evangelischen Christen. 1 000 Glieder zählt die Stadtgemeinde, deren Pfarrer seit fünf Jahren Johannes Toaspern ist. Sein Büro liegt im Lutherhaus, einem großen Ziegelbau an den Binnengärten. »Eigentlich ein Traumhaus«, sagt Pfarrer Toaspern. Denn es bietet Platz für ein reges Gemeindeleben mit Saal, Büro-, Sozial- und Gruppenräumen. In den oberen Etagen gibt es die Pfarr- und Mietwohnungen. Gebaut wurde das Lutherhaus auch damit die Gemeinde ihrer christlichen Verantwortung gerecht wird. Der Sozialbau wurde 1928 errichtet, um Kinder zu betreuen: Hier konnten sie essen, ausruhen, spielen und Hausausgaben erledigen.
All dies, das Gemeindeleben und die Verantwortung für Mitmenschen, gibt es auch heute noch, wenn auch in kleineren Umfang. Den Kindergarten der Gemeinde gibt es nicht mehr, die Wohnungen sind immer schwerer zu vermieten. »Wenn Gott die Stadt nicht erweckt, werden wir uns verschlanken«, sagt Johannes Toaspern. Langfristig soll daher die Idee von einer Gemeinde unter einem Dach umgesetzt werden.
Aktuell lebt die Gemeinde unter zwei Dächern: Neben dem Lutherhaus gibt es die 1910 eingeweihte, neogotische Kirche am Markt. Sie soll als Gemeindezentrum aus- und umgebaut werden. Dazu gibt es einen Beschluss des Gemeindekirchenrats.
Kleine Gemeindegruppen sollen ebenso ihren Platz finden wie hunderte Menschen zu Gottesdiensten an hohen Feiertagen. »Solange wir selbst gestalten können, sollten wir dies mit Verantwortung und Optimismus tun«, sagt der Pfarrer. Erfahrungen bringt Toaspern mit: Er war zuvor Pfarrer an der Leipziger Peterskirche, die auch als Gemeindekirche konzipiert ist.
Das Innere des gewaltigen Sakralbaus mit seinen ursprünglich 1 000 Plätzen wurde vor gut 60 Jahren letztmalig umfassend saniert. Dabei fiel die florale Ausmalung einem nüchternen Zeitgeist zum Opfer. Inzwischen tun sich viele Baustellen auf. Sie bieten die Chance, nicht nur zu reparieren, sondern neu zu gestalten. »Chöre und alle anderen Gruppen könnten sich spirituell verankern mit und in der Kirche, wir schaffen einen neuen Bezug zu diesem geistlichen Ort«, meint Toaspern.
Gemeinschaft und Kontemplation betrachtet der Theologe als das Kerngeschäft von Kirche. Wo sich der Glaube in Stille, Gesang und Bibelworten entfaltet, ist Raum für Begegnungen, etwa beim gemeinsamen Essen. Die Gemeinde zelebriert dies bei der Einführung von Prädikanten oder Taufen.
In den vergangenen beiden Jahren hat Toaspern auch immer wieder Flüchtlinge getauft. Sie stellen inzwischen ein Drittel bis die Hälfte der Gottesdienstbesucher.
Um unter den Bitterfeldern Hemmschwellen abzubauen und sich einzubringen in die Stadtgemeinschaft, hat die Kirchengemeinde im Advent 2017 erstmals zu einem Lebendigen Adventskalender aufgerufen und im September des Reformationsjahres zum Lutherfest eingeladen. »Das war ein unglaubliches Fest. Was wir tun, wird wahrgenommen«, blickt Toaspern froh zurück. Kantorin Konstanze Topfstedt verstand es, Kinder in das Musizieren einzubinden. Die Aufführung des Luther-Musicals verschaffte allen ein Erfolgserlebnis. Vor einem Jahr hat sich die Gemeinde weiterhin im öffentlichen Bewusstsein verankert: Am 15. Februar 2017 öffnete zum ersten Mal die Suppenküche für Kinder und Jugendliche. Sechs ehrenamtliche Köche bereiten jeden Mittwoch ein warmes Mittagessen für die Besucher des Kinder- und Jugendtreffs unter Leitung von Thomas Bork zu.
Das offene Angebot nutzen vor allem Kinder, die sonst nichts mit Kirche zu tun haben und setzen damit die Tradition des Lutherhauses fort, »Stunden echter Jugendfröhlichkeit (…) erleben zu können«, wie es in einem historischen Dokument heißt.
Bis zu 20 Portionen kochen die Helfer und stehen danach nicht allein in der Küche. Hilfe bekommen Gabi Köhler, Edith Reiche und Christel Schneider an diesem Mittwochmittag von vielen kleinen Händen, die Tische abwischen, die Küche aufräumen, dankbar und fröhlich sind. Das sei, sagen sie alle, viel besser als allein zu Hause
zu sein.
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