Zutaten für das Wachsen
Mission: Was machen wachsende Kirchengemeinden anders? Englische Wissenschaftler suchten nach Antworten. Und fanden auch Gründe fürs Schrumpfen.
Von Andreas Roth
Je mehr die Kirche über das Schrumpfen spricht, desto lauter wird die Frage nach dem Wachsen. Doch ist das mehr als ein frommer Wunsch? Viele verweisen da gern auf England: Seit Jahren schon experimentiert die anglikanische Kirche mit ganz neuen Formen von Kirche, »Fresh Expressions of Church« (deutsch: frische, neue Ausdrucksformen von Kirche), kurz: Fresh X.
Das sind neue Gemeinden, die ganz anders sind: in Läden etwa, in Cafés oder sozialen Brennpunkten und mit ganz anderen Gottesdiensten. In der Evangelischen Kirche in Mitteldeutsch-
land (EKM) gibt es mit den Erprobungsräumen etwas Ähnliches. Dabei ist auch das Konzept von Fresh X vertreten. Die Kirchengemeinde Gotha-
Siebleben probiert mit »STADTteil-
LEBEN« einen solchen Weg. Das Leben im Plattenbaugebiet Clara-Zetkin-
Straße soll mitgestaltet und positiv geprägt werden. Aber sind solche Experimente wirklich ein Weg für Wachstum in der Kirche? Und kann es auch in traditionellen Gemeinden gelingen? Das hat nun eine groß angelegte Studie der anglikanischen Kirche erstmals untersucht. Von den Ergebnissen lässt sich auch in Mitteldeutschland lernen.
Die Daten von 1 700 englischen Kirchengemeinden haben Wissenschaftler der Universität Essex dafür ausgewertet. Hinzu kamen Tiefeninterviews sowie weitere Studien von Theologen. Auch wenn unter Forschern die Verlässlichkeit der Daten und Folgerungen nicht unumstritten ist: Für den Greifswalder Professor Michael Herbst vom Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung liefern sie wichtige Hinweise.
»Es gibt kein bestimmtes Rezept für Wachstum und es gibt keine einfachen Lösungen angesichts des Rückgangs«, fasst Professor David Voas von der Universität Essex die Ergebnisse vorsichtig zusammen. Aber es gebe »Zutaten«, die mit einem Gemeindewachstum zusammenhingen. Zuallererst sei dies eine Leitung aus Haupt- und Ehrenamtlichen, die motivieren kann und Neues wage. Und ein klares Ziel der Gemeinde, auch wirklich andere Menschen erreichen zu wollen. Der jeweilige Stil der Gottesdienste und Traditionen sei »weniger wichtig als die Tatsache, dass er durchdacht und angenommen wurde, statt es dem Zufall zu überlassen«, so Professor Voas.
Weitere Faktoren, die die Wissenschaftler bei wachsenden Gemeinden entdeckt haben: eine herzliche Willkommens-Atmosphäre für Besucher, Glaubenskurse zur Befähigung von Mitgliedern als »christliche Zeugen im täglichen Leben« und soziales Engagement. Auch in traditionellen Stadtkirchen fanden die Forscher Wachstum. Und zwar dort, wo viel Wert auf die Qualität der Gottesdienste gelegt wurde ebenso wie auf eine Willkommens-Atmosphäre und wo man vielfältige neue Formen ausprobiert.
Auch für das Schrumpfen fanden die Forscher Gründe. Das Fehlen von Kindern und Angeboten für junge Menschen ist der erste. Der zweite: »Die Zusammenlegung von Gemeinden führt eher zu Schrumpfungen. Mehr noch, je größer die Zahl der zusammengelegten Gemeinden ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit des Rückgangs.« Für den Greifswalder Professor Michael Herbst ist das »Zündstoff« in den Debatten um Strukturreformen auch der deutschen Landeskirchen. »Die englischen Zahlen mahnen zur Vorsicht bei Prozessen der Regionalisierung.«
Sie ermutigen zugleich, neue Wege zu gehen, wie etwa bei den Erprobungsräumen in der EKM. Es ist der Versuch, sich auf Menschen und ihre Lebenswirklichkeit einzulassen, um ihnen das Evangelium von Gottes Liebe nahezubringen, die Christus allen zugänglich machen will, heißt es auf der Internetseite der Erprobungsräume.
Gemeint sind Beispiele wie die Evangelische Schulgemeinde Hettstedt oder Herzschlag – Junge Kirche in Nordhausen, die offene Industriestadtgemeinde Haldensleben oder Wir sind Nachbarn – Kirchengemeinde Nöbdenitz. Ob damit gemeindliches Wachstum verbunden ist und die Projekte aus der Erprobungsphase kommen, wird sich zeigen. Und in fast allen anderen Kirchengemeinden fragt man sich weiter: Wachsen klingt gut – aber wie?
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