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„Selig sind, die Frieden stiften"
FRIEDENSVOTUM DES REFORMIERTEN BUNDES

Friedensvotum des Reformierten Bundes

1. EINLEITUNG
Der furchtbare Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dauert nun schon länger als ein Jahr, und noch immer ist kein Frieden in Sicht. Das Sterben und Töten geht weiter. Es wird immer offensichtlicher, dass die Rede von einem „Sieg“ und „Kriegsgewinn“ zutiefst fragwürdig ist. Die Zahl der gefallenen Soldaten sowie der Opfer in der Zivilbevölkerung steigt unaufhörlich. Fast täglich erreichen uns Nachrichten von Kriegsverbrechen und Gräueltaten, insbesondere an Kriegsgefangenen, Frauen und Kindern. Von außen werden immer mehr, immer schwerere Waffen in immer kürzeren Abständen geliefert. Längst handelt es sich nicht mehr nur um einen territorial begrenzten Konflikt, sondern immer mehr Beteiligte und Unbeteiligte werden in die Kriegsdynamik hineingezogen. Zudem befeuert der Krieg die ohnehin dramatische internationale Ernährungs- und Klimakrise. Das erschüttert uns und lässt uns nicht schweigen.

Angesichts der schrecklichen Verluste an Menschenleben und der unabsehbaren Eskalationsdynamiken muss dieser Krieg sofort beendet werden. Unser Glauben an den „Gott des Friedens“ (1Kor 14,33), der ein Liebhaber des Lebens ist (Weish 11,26), gebietet es uns, dies auf das Nachdrücklichste auszusprechen.

Auch wir wissen aktuell nicht, wie eine konkrete Konfliktlösung aussehen kann, die dem Sicherheitsbedürfnis aller Beteiligten gerecht wird. Weder mit einem einseitigen „Keine Waffenlieferungen mehr!“ noch einem „Nur nicht ‚weich‘ werden gegenüber Putin!“ wird ein plausibler Weg zum Frieden angezeigt. Die sich zuspitzende Eskalationsdynamik wird uns dem Friedensziel keinen Millimeter näherbringen. Im Gegenteil! Vor solch einem Irrglauben sorgenvoll zu warnen, sehen wir uns in der Pflicht.

Das vorliegende Votum versucht einem Auftrag gerecht zu werden, den die Hauptversammlung des Reformierten Bundes im Mai 2022 in Halle (Saale) dem Moderamen des Reformierten Bundes erteilt hat. Unter dem schrecklichen Eindruck des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte sich die Hauptversammlung vorgenommen, selbstkritisch den bisherigen friedensethischen Kurs des Reformierten Bundes zu evaluieren, der in der Moderamenserklärung „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“ (1982) seinen Ausgang genommen und in den Leitsätzen eines Zwischenrufs zur Friedensverantwortung der Kirche (2017) eine Aktualisierung erfahren hatte.

In einem bedrängenden Maße hatte sich in der Zwischenzeit global eine bedrohliche Entwicklung hinsichtlich der Bereitschaft abgezeichnet, Konflikte zunehmend auch wieder mit Waffengewalt auszutragen. In Halle wollten wir überprüfen, ob diese Leitsätze angesichts des einseitig begonnenen russischen Angriffskrieges noch aussagekräftig sind, bzw. ob sie möglicherweise ergänzt oder in der aktuellen Situation neu justiert werden müssen. Da auf der Hauptversammlung die Diskussion nur begonnen werden konnte, wurde das Moderamen gebeten, sich weiter mit diesem komplexen Thema zu beschäftigen. Das vorliegende Votum ist keine neue „Friedenserklärung“, sondern eine aktuelle Betrachtung der heute zentralen Leitsätze des Zwischenrufes von 2017.

Wir wenden uns mit diesem Votum vor allem an unsere Mitglieder und an interessierte Gemeinden, die in der komplexen aktuellen Situation nach einer Orientierung suchen, die unserer besonderen Bekenntnistradition gerecht wird. Wir wünschen uns, dass wir mit diesem Text dazu beitragen, dass in der weithin polarisierten Situation jenseits von schwarz und weiß vermehrt auch Zwischentöne in die Wahrnehmungen und Diskussionen einfließen. Damit hoffen wir, wenigstens einen kleinen Teil der uns aktuell auferlegten theologischen und ethischen Verantwortung übernehmen zu können.

2. LEITSATZ I: DER FRIEDE GOTTES IST DIE ZENTRALE VERHEISSUNG UND BERUFUNG DER KIRCHE

Der Leitsatz erinnert daran, dass der Friede Gottes nicht als eine zeitlos gültige ferne abstrakte Voraussetzung verstanden werden will, sondern als die stets aktuelle Perspektive. Aus dieser Perspektive blicken wir auf das Handeln Gottes und die Bestimmung der Kirche. Dieser Friede charakterisiert sowohl die immer wieder neu zu vergegenwärtigende Fürsorge Gottes für seine Schöpfung als auch das Zentrum der besonderen Berufung der Kirche. Er gibt unserem Leben den notwendigen Halt, der uns dazu ermutigt und befähigt, uns an seiner Friedensmission zu beteiligen.

Dabei gilt es, die Befreiung und Verpflichtung des ersten Gebots im Blick zu halten. Es öffnet Raum für eigene Entscheidungen und Bewegungen im Angesicht Gottes. Es verpflichtet zugleich, im Namen Gottes, in den Grenzen und mit den Maßstäben, die Gott setzt, unterwegs zu sein. Diese kann nur dann recht wahrgenommen werden, wenn wir uns weder vor anderen Göttern verbeugen noch uns von den Anmaßungen der Mächte des Todes beeindrucken lassen.

Dazu gehören insbesondere die Verlockungen von militärischer Stärke und Waffengewalt. Der Dreistigkeit solcher Mächte scheint gegenwärtig im Umgang mit allen geopolitischen Herausforderungen wieder ein fester Platz eingeräumt zu werden. Die Berufung der Kirche ist über den Einspruch gegen alle gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen hinaus auch auf die Überwindung der zahlreichen strukturellen Konfliktquellen in der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik ausgerichtet, die zu künftigen Gewaltakten und Kriegen beitragen. Wir vertrauen darauf, dass Gottes verheißener Schalom unter uns angebrochen ist und sich vollständig durchsetzen wird. Das bringen wir in der Bitte um die Heiligung des Namens Gottes immer wieder zum Ausdruck.

3. LEITSATZ II: DAS BEKENNTNIS DES GLAUBENS FORDERT STETS NEU DAZU HERAUS, FÜR DEN GERECHTEN FRIEDEN ZU BETEN, ZU DENKEN UND ZU ARBEITEN.

Christus ist unser und aller Welt Friede. Bei allem notwendigen Streit um die realistischen Wahrnehmungen und Einschätzungen politischer, gesellschaftlicher Situationen und Konflikte, ist und bleibt ER die Realität, die Christinnen und Christen zu jeder Zeit ins Gebet, zum Neu- und zum Weiterdenken und zur Tat ruft.

Das Gebet ist die erste Tat des Friedens, es begrenzt Fantasien der Macht und Gefühle der Ohnmacht, es hält Sehnsucht und Hoffnung lebendig, es öffnet Augen und Herz für neue Möglichkeiten Gottes und der Menschen.

Denken und Handeln müssen frei werden von den Logiken des Rigorismus und Pragmatismus. Denn beide nehmen bis auf Weiteres Sterben und Tod als unabänderlich hin. Die Anwendung von militärischer Gewalt und die Drohung mit ihr scheinen aus einer Ultima Ratio mehr und mehr zu einer vermeintlich vernünftigen Option der Konfliktbewältigung geworden zu sein. Ihre Gefahren werden kaum noch diskutiert, mitunter nicht einmal mehr benannt. Kritische Nachfrage und der Ruf nach weiteren Verhandlungen werden dagegen oft der Kollaboration mit dem Aggressor verdächtigt oder als weltfremd lächerlich gemacht.

Wer militärische Gewalt für gerechtfertigt hält, muss auch Auskunft geben, wo, wann und wie sie ihr Maß und ihre Grenze behalten und finden soll. Wer den gerechten Frieden sucht, ringt darum, im Gegner mehr als den Feind zu sehen, und ist zugleich denen besonders verpflichtet, die Unrecht leiden.

4. LEITSATZ III: DIE SICH AKTUELL VERSCHÄRFENDEN INTERNATIONALEN KONFLIKTE STEHEN IN SCHARFEM KONTRAST ZU DER IN JESUS CHRISTUS WIRKLICHKEIT GEWORDENEN VERSÖHNUNG.

Wir sehen, dass sich an vielen Orten der Welt Konflikte zuspitzen und Machtverhältnisse verschieben; der Wahrung des Friedens scheint im Horizont geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen nicht die oberste Priorität zugemessen zu werden. Neue technische Möglichkeiten schaffen die Voraussetzungen für neue Formen von Übergriffen auf die Infrastruktur von Staaten und entwickeln ein ungeheures Potenzial an aggressiver Provokation. Wo Misstrauen wächst, wächst auch die Bereitschaft zum Konflikt. Der politisch gedeutete Begriff der „Zeitenwende“ will am Beispiel des Ukrainekriegs diese neue Situation beschreiben und verweist auf eine radikale Abkehr von der Friedens- und Versöhnungspolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Gottes Friede ist höher als unsere Vernunft. Seine Zeitenwende ist die Versöhnungstat Jesu Christi, mit der er eine neue Wirklichkeit geschaffen hat, die allen Menschen gilt. Weil die ganze Schöpfung diesen Neuanfang feiern darf, ist das Denken in Freund-Feind Kategorien nicht mehr möglich und steht in scharfem Kontrast zu der in Jesus Christus Wirklichkeit gewordenen Versöhnung. Selbst dann, wenn alles dagegenspricht, halten wir daran fest, dass es für uns eine Perspektive über die Welt hinaus gibt, die Feindschaft nicht zulässt.

Der Friede, den wir suchen und dem wir nachjagen (Ps 34,15), beginnt da, wo der Wille zur Versöhnung nicht aufgegeben wird. Deshalb unterstützen wir die rechtserhaltenden Bemühungen der internationalen Friedensorganisationen und jedes Engagement, das einem gerechten Frieden dient. Wo wir können, wollen wir uns schon jetzt daran beteiligen, Perspektiven zu entwickeln, wie nach einer Beendigung des Krieges Wege zu einem friedlichen Zusammenleben und Schritte zu einer zukünftigen Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine aussehen könnten.

5. LEITSATZ V: „SCHWERTER ZU PFLUGSCHAREN!“ (JES 2,4) DIESE BIBLISCHE VISION VERLANGT SCHRITTE ZUR ÜBERWINDUNG DES TEUFELSKREISES VON ANGST UND GEWALT, DER DURCH WAFFENBESITZ UND WAFFENEXPORT ANGEHEIZT WIRD.
Die biblische Botschaft stellt unser Denken und Handeln auf der Suche danach, was dem Frieden dient, immer wieder infrage und durchbricht scheinbare Selbstverständlichkeiten und Automatismen. Diese heilsame Unterbrechung steht unter der Verheißung Jesu „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt 5,9)

Angesichts der fortschreitenden Eskalation und einer sich zuspitzenden Rhetorik, die auch vor einer Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen nicht Halt macht, gilt es nach Wegen zu suchen, diese Spirale zu durchbrechen, nach ernsthaften Alternativen zu fragen, mit denen dem Leiden und Sterben in diesem Krieg ein Ende bereitet werden kann.

Wir sind überzeugt: Den Weg von Diplomatie und Verhandlungen zu suchen und zu gehen ist nicht gleichbedeutend damit, die Annexion ukrainischer Gebiete zu akzeptieren. Waffenlieferungen unter einer Prämisse „Die Ukraine muss siegen“ lassen sich als die einzige Antwort nicht verantworten.

Angesichts des durch den Angriffskrieg auf die Ukraine sich erneut zuspitzenden Ost-West-Konflikts bleibt zudem eine klare Haltung gegen die „Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung von Massenvernichtungsmitteln“, wie sie die Friedenserklärung 1982 formuliert hat, höchst aktuell.

6. LEITSATZ VI: ANGESICHTS DES WEITGEHENDEN VERSAGENS INTERNATIONALER BEWAFFNETER FRIEDENSMISSIONEN GILT MEHR DENN JE DER VORRANG ZIVILER KONFLIKTLÖSUNGEN.
Die Erfahrungen vieler Organisationen (z.B. „Ziviler Friedensdienst“ oder „Zentrum für Internationale Friedenseinsätze“) und die Forschung zu ziviler Konfliktbearbeitung werden angesichts der Dreistigkeit des russischen Angriffs auf die Ukraine in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen. Die militärische Antwort präsentiert sich als alternativlos. Als Kirchen vertrauen und bezeugen wir Gottes Verheißung eines umfassenden Schalom und lehnen den Glauben an erlösende Gewalt ab. Unterbrechung und Minimierung von Gewalt und Mitarbeit an einem gerechten Frieden bleiben das Ziel aller friedensethischen Bemühungen.

Der „Vorrang des Zivilen, d. h. ziviler Konfliktlösungen“ und die „vorrangige Option für Gewaltfreiheit“ sind unbedingt festzuhalten. Es gilt als weithin anerkannt, dass sich dieser Konflikt nicht militärisch lösen lässt, aber bisher hat diese Einsicht noch keine Konsequenzen hervorgebracht. Sicherheitsstrategien müssen Forschungen und Erfahrungen integrieren, die gezeigt haben, dass in vielen Fällen gewaltfreie Bewegungen erfolgreicher sind als militärisch geführte Auseinandersetzungen. Es müssen Räume eröffnet werden, um friedensfördernde Initiativen zu entwickeln und umzusetzen, Zivilgesellschaft zu stärken, sowie vertrauensbildende Maßnahmen voranzubringen. Die Einübung ziviler Konfliktlösungen ist als ein stets zu pflegender Prozess zu verstehen. Mit Differenzen in den Debatten und im Engagement für Frieden müssen wir achtsam umgehen.

Reformierter Bund, Juni 2023

Autor:

Johannes Haak

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