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Wiesbadener Erinnerung
Keine Sicherheit

Foto: Bildquelle: Ohne Rüstung leben, Stuttgart
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Wiesbadener Erinnerung:

Es gibt keine Sicherheit mit nuklearen Massenvernichtungsmitteln.
Es mehren sich Stimmen, die eine mögliche atomare Bewaffnung Deutschlands oder unter Beteiligung Deutschlands in Betracht ziehen. Wir erinnern an einen bislang verborgenen Anfang der Atomdebatten, an erzielte Erkenntnisse und an erreichte Erfolge.
Wir benennen, welche Optionen Deutschland hat, seine Sicherheit zu erhöhen.
Wir fragen, braucht Deutschland eine dritte Welle in der Debatte um Atomwaffen?
Der verborgene Beginn – Begegnung Naturwissenschaft und Theologie
Vor 70 Jahren, am 9. Juni 1954, zwölf Wochen nach dem Zünden der größten amerikanischen Wasserstoffbombe im Bikini-Atoll, kommen in Wiesbaden drei Theologen und drei Atomphysiker zu einem vertraulichen Austausch zusammen: EKD-Ratsvorsitzender Otto Dibelius, Theologie-Professor Helmut Gollwitzer, EKHN-Kirchenpräsident Martin Niemöller und Otto Hahn, Chemienobelpreisträger, Werner Heisenberg, Physiknobelpreisträger, sowie der Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker.
Eingeladen hatte Martin Niemöller. Als die sechs auseinandergehen, hat Niemöller, der Pastor und ehemalige Offizier, die Erkenntnis gewonnen: Nukleare Waffen sind keine Waffe, sondern ein Massenvernichtungsmittel. Es gibt keinen Zweck, der damit noch erreichbar wäre. Diese Erkenntnis verstärkt sich auch bei den Wissenschaftlern, ihre Begegnung mit den Ethikern von der evangelischen Kirche hat richtungweisende Folgen.
Gar nicht erst anfangen – „Kampf dem Atomtod“ 1957-1959
Anfang April 1957 verlautbart Bundeskanzler Adenauer, die „taktischen Atomwaffen (seien) nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie". Dagegen wenden sich bereits eine Woche später, am 12. April 1957, 18 Atomphysiker mit dem „Göttinger Manifest“. Sie erklären u.a.: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“
Sie geben den Anstoß für die Kampagne „Kampf dem Atomtod“ mit 1,7 Millionen Menschen auf der Straße, mit Streiks in den Betrieben und hunderten Veranstaltungen landauf landab.
Kirchenpräsident Martin Niemöller ist einer der Erstunterzeichner der Erklärung, die am 10. März 1958 unter dem Titel „Kampf dem Atomtod“ veröffentlicht wird. Er erreicht, dass als letzter Satz aufgenommen wird: „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht.“
Die Bewegung, zu der sich neben DGB, SPD, FDP auch Vertreter der EKD und viele weitere bekennen, hat Erfolg: Die Bundesrepublik verzichtet auf eine atomare Bewaffnung. Deutschland ist damit jedoch nicht frei von Atomwaffen, denn hier lagern Atomsprengköpfe der USA. Das Thema bleibt also präsent, deshalb formiert sich eine zweite Friedensbewegung.
Abrüstung ist möglich - „Keine Atomraketen in Europa“ 1980-1983
1979 plant die NATO, im Rahmen eines „Doppelbeschlusses“ (Verhandeln und Aufrüsten), neue atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Darauf reagiert die Friedensbewegung am 16. November 1980 mit dem „Krefelder Appell“. Die Grundlage dafür legt erneut ein Physiker mit seinem Stab, Carl Friedrich von Weizäcker. In der Studie
„Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ äußert er sich auch militärstrategisch und politisch: „Wir haben keine hinreichende Aussicht, einen Krieg auszuhalten, ja nur zu überleben; wir sind darauf angewiesen, ihn zu verhindern… In einer solchen Lage hat die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle.“
Wieder ist Martin Niemöller einer der Mitinitiatoren und Erstunterzeichner. Über vier Millionen Menschen unterschreiben den Appell, Hunderttausende gehen auf die Straße und bilden Menschenketten. Die Hofgarten-Kundgebungen in Bonn sind die Höhepunkte. Die neuen Raketen werden dennoch aufgestellt. Die Bundesregierung setzt ihren ‚Doppelbeschluss‘ aus Dislozieren und Verhandeln um. Im Ergebnis werden ab 1987 2.692 Atomraketen in Ost und West abgezogen und komplett verschrottet, überwacht durch ca. tausend wechselseitige Vorort-Kontrollen, geregelt im INF-Vertrag zur Abrüstung aller Mittelstreckenraketen in Europa. Mehrere Verträge zur Begrenzung und zum Rückbau von Atomwaffen folgen.
Und heute…?
Der INF-Vertrag ist außer Kraft gesetzt, obwohl er 1987 auf unbeschränkte Dauer geschlossen wurde. Außer Kraft gesetzt sind auch der Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM), der Umfassende Atomteststoppvertrag (CTBT), der Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies), der New-START-Vertrag über die strategischen Atom-Potentiale. Die Rüstungskontrolle ist somit weithin ausgesetzt. Derzeit wachsen die politischen und militärischen Spannungen. Zeitgleich könnte die Verbindung zwischen Europa und den USA brüchiger werden.
Angesichts dieser Entwicklungen plädieren manche wieder für eine deutsch-europäische Atom-Aufrüstung, nun sogar mit Hyperschall-Trägersystemen, die die Vorwarn- und damit auch mögliche Deeskalationszeiträume minimieren. Diejenigen, die dies fordern sprechen, wie Adenauer seinerzeit, für eine deutsche Verfügung über Atomwaffen mithilfe neuester Waffentechnologie. Doch es gilt wie damals: Je ‚kleiner‘ die Atomwaffen, umso höher ist ihre Einsatz-Wahrscheinlichkeit, umso größer ist die Kriegsgefahr.
50 Jahre nach dem Wiesbadener Atomgespräch stellen wir deshalb fest:
Deutschland braucht eine dritte Welle in der Debatte um Atomwaffen!
Nukleare Massenvernichtungsmittel gefährden das Leben auf dieser Erde.
Was kann Deutschland konkret tun – statt atomar aufzurüsten?
1.
Deutschland kann die Atomwaffenstaaten nachdrücklich daran erinnern, ihre im gültigen Atomwaffensperrvertrag von 1970 eingegangene „Absicht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Beendigung des nuklearen Wettrüstens herbeizuführen und auf die nukleare Abrüstung gerichtete wirksame Maßnahmen zu ergreifen“ nun auch umzusetzen und die ausgesetzten atomaren Rüstungskontrollverträge in neuen Verhandlungen wieder aufzunehmen. (Offizielle Atomwaffenstaaten sind die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China. Inoffiziell gehören Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea dazu.)
2.
Deutschland kann mit den NATO-Verbündeten einen Fahrplan erarbeiten mit dem Ziel, die nukleare Teilhabe zu beenden.
3.
Deutschland kann dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beitreten. Damit würde Deutschland bestätigen, keine Nuklearwaffen zu besitzen und auf seinem Territorium zuzulassen.
4.
Deutschland kann sich für eine gesamteuropäische atomwaffenfreie Zone einsetzen, die Russland einbinden muss. (Deutschland hat hierfür bereits eine Vorleistung erbracht: Die neuen Bundesländer einschließlich Berlin sind durch den Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. September 1990 bereits eine völkerrechtsverbindliche Atomwaffen-freie Zone.)

Wir bitten die Bundesregierung, diese vier Initiativen zu ergreifen. Die Öffentlichkeit, Wissenschaft, Medien, Politik, Zivilgesellschaft, bitten wir, diese Initiativ-Möglichkeiten begleitend genau zu prüfen und breit zu erörtern.
Wiesbaden, 29. Mai 2024
gez. Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Pfarrer; Kirchenpräsident der Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
gez. Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Physiker; Club of Rome
gez. Dr. med. Angelika Claußen, Ärztin; Präsidentin der IPPNW Europa
gez. Michael Karg, Pfarrer; Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung
Martin-

Autor:

Johannes Haak

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