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»Man kann eine Sache auch 20 Jahre falsch machen«

Diese Aufnahme von Alexander Kobylinski machte die Staats­sicherheit 1984 während der Untersuchungshaft in der Erfurter Andreasstraße. | Foto: BStU, MfS, Außenstelle Erfurt
  • Diese Aufnahme von Alexander Kobylinski machte die Staats­sicherheit 1984 während der Untersuchungshaft in der Erfurter Andreasstraße.
  • Foto: BStU, MfS, Außenstelle Erfurt
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Erinnerung an provozierende Abiturrede vor 35 Jahren in Weimar

Von Michael von Hintzenstern

Zahlreiche Zeitzeugen kamen am vergangenen Freitag in die Erfurter Gedenk- und Begegnungsstätte Andreasstraße, als in einer Veranstaltung an den Journalisten und Autor Alexander Kobylinski (1964–2017) erinnert und sein Dokumentarfilm »Der Fall Wolfgang Schnur – ein unmögliches Leben« (2017) gezeigt wurde. Dabei standen sich zwei Biografien gegenüber, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite das Schicksal des mutigen und um Aufrichtigkeit bemühten Jugendlichen und auf der anderen Seite der Rechtsanwalt, der seit 1964 als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit die Kirchen hinters Licht geführt und seine Mandanten verraten hat.
»Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt, lieber Freund, das mache ich schon seit 20 Jahren so. Man kann eine Sache auch 20 Jahre falsch machen.« Mit diesem Zitat von Kurt Tucholsky hatte der 18-jährige Pfarrerssohn bei seiner Rede zur Abiturfeier am 1. Juli 1983 Lehrer und Schüler der EOS »Friedrich Schiller« in Weimar überrascht. Er belässt es nicht bei dem provozierenden Zitat, sondern führt weiter aus: »Ich will damit sagen: Seien wir als junge Generation zu Experimenten bereit, zu denen unsere Eltern und Lehrer nicht bereit waren oder nicht bereit sein konnten, weil es die Umstände nicht zuließen.«
Kaum hatte er das Mikrofon verlassen, verlangte der Schuldirektor lauthals: »Nehmen Sie dies zurück!« Doch Kobylinski antwortet: »Nein!« Auf die wiederholte Forderung antwortet er: »Ich habe nichts zurückzunehmen!« Die Luft brennt. Der Direktor ruft befreundete Stasi-Mitarbeiter herbei, doch die wissen nicht, was sie tun sollen.
Kobylinski bekommt zwar das Abiturzeugnis, darf aber nicht studieren. Um nicht als »asozial« eingestuft zu werden, jobbt er im Stadtmuseum. Als er 1984 mit Freunden ein Flugblatt zum Boykott der bevorstehenden DDR-Kommunalwahlen vorbereitet, kommt es zur Verhaftung und Verurteilung zu zweijähriger Haft. Durch die Bundesrepublik 1985 freigekauft, kann er Germanistik studieren und journalistisch arbeiten. Als Reporter des ARD-Fernsehmagazins »Kontraste« fasst er weiterhin heiße Eisen an.
An einem Westberliner Zeitungskiosk begegnet er zufällig seinem früheren »Verteidiger« und bringt diesen dazu, sich interviewen zu lassen. 2015 erscheint sein Buch »Der verratene Verräter« über den Stasi-Spitzel. Den dazugehörigen Film konnte er noch vor seinem Tod vollenden.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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