Magdeburg
Polizeiseelsorger: Zusammenstehen und Leid teilen
Michael Kleemann ist seit vielen Jahren Polizei- und Notfallseelsorger. Der Geistliche, der im Hauptberuf Superintendent im Kirchenkreis Stendal ist, war mit seinem Team nach dem Attentat auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt im Einsatz. Oliver Gierens hat mit ihm gesprochen.
Waren Sie mit Ihrem Team in Magdeburg dabei?
Michael Kleemann: Ja, das Team war intensiv dabei. Ich habe den Einsatz koordiniert. Sehr schnell wurde über die Rettungsleitstelle in Magdeburg deutlich, dass es einen hohen Bedarf an Betreuung gibt. Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um so viele Betreuungskräfte wie möglich nach Magdeburg zu bekommen. Die Feuerwehren aus Osterburg und Tangermünde haben unsere Notfallseelsorger zum Tatort gebracht. Dadurch kamen sie auch mit Blaulicht durch das Chaos relativ gut durch. Wir waren mit zwölf Personen im Einsatz, alles Ehrenamtliche.
Wie haben Sie den Einsatz am Freitagabend persönlich erlebt?
Der Stresspegel war sofort extrem hoch, weil die ersten Nachrichten ein noch viel schlimmeres Szenario im Blick hatten. Da war von deutlich mehr Toten und Verletzten die Rede. Ich war beeindruckt davon, wie schnell Hilfesysteme funktioniert haben. Es ist eine komplette Rettungsdienststaffel aus Stendal in den Einsatz gefahren. Die Kliniken haben sich allesamt sofort bereitgefunden, Patienten aufzunehmen. Auch die Betreuungssysteme der Notfallseelsorge haben sehr schnell und sehr gut funktioniert. Wir Polizeiseelsorger konnten uns unmittelbar schnell vernetzen. Das fand ich bei der erschreckenden Gesamtlage ein positives Erlebnis. Man kann sich auf so etwas nie perfekt vorbereiten. Aber die Hilfesysteme und die hohe Solidarität der Menschen, die sich auch zu spontanen Andachten zusammengefunden haben, hat mich schon sehr beeindruckt. Auf der anderen Seite steht das unermessliche Leid, dass dort völlig unschuldige Menschen, die sich einfach fröhlich in Weihnachtsstimmung bringen wollen, so eklatant missbraucht werden von jemandem, der scheinbar völlig jenseits der Zurechnungsfähigkeit ist.
Wie werden Notfallseelsorger auf einen solchen Einsatz vorbereitet?
Wir sind eingebunden in das Rettungssystem der Landkreise und werden in Übungen zu Großschadenslagen einbezogen. Dort versucht man zu simulieren, wie das funktioniert, solch einen Großeinsatz zu koordinieren. Da gibt es einen Unterabschnitt „Betreuung, psychosoziale Unterstützung“, zu dem wir als Notfallseelsorger gehören. Dann versucht man im Rahmen einer Großlagenübung, so ein Szenario zu trainieren. Das ist aber alles Trockenschwimmen. Einen Einsatz in dieser Dimension und Größe hatten wir in den letzten 20 Jahren nicht mehr. Die letzten Großeinsätze, an die ich mich erinnere, waren die Zugunglücke in Eschede oder Hordorf mit vielen Toten und Verletzten. Auch beim Tsunami 2004 waren wir gefragt, zurückkehrende Urlauber zu betreuen. Dazwischen sind wir in dem „ganz normalen Alltagswahnsinn“ unterwegs, zum Beispiel, wenn wir Todesnachrichten an Angehörige überbringen. Wir haben zwischen 70 und 100 Einsätze im Jahr. Das heißt, jeden dritten Tag ist einer aus unserem Team irgendwo im Einsatz.
Was macht das mit den Einsatzkräften und Seelsorger, wie kann man das bewältigen?
Wir haben ein relativ gut organisiertes Supervisionssystem. Das heißt, wir haben einmal im Monat einen Abend, an dem wir die Einsätze, die wir erlebt haben, nachbesprechen. Da ist die kollegiale Beratung der Teammitglieder ein wesentlicher Bestandteil zur Verarbeitung der eigenen Erlebnisse. Da besprechen wir Einsätze in hoher Vertraulichkeit und geschlossener Runde. Daneben haben wir vierteljährlich eine Supervisorin, die unser Team begleitet. Da besprechen wir spezielle Einsätze nach. Wir haben eine Klausurtagung, die einmal im Jahr sehr stark der Supervision gewidmet ist. Völlig klar ist, dass wir uns zeitnah treffen, um den Einsatz in Magdeburg nachzubereiten.
Wie können Sie als Polizeiseelsorger den betroffenen Einsatzkräften helfen?
Ich gehöre als Polizeiseelsorger dem Kriseninterventionsteam der Landespolizei Sachsen-Anhalt an. Da sind ausgebildete Polizeikräfte, aber auch wir Polizeiseelsorger dabei. Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen zu einer Gruppensupervision, um Dinge zu verarbeiten. Wenn wir für Polizisten nach einem solchen Einsatz gefragt sind, dann gibt es sogenannte strukturierte Debriefings. Das ist eine besondere Form der Einsatznachbesprechung, wo man mit der gesamten Dienstgruppe das Erleben im Einsatz nachbespricht. Auch persönlich sind wir ansprechbar für Polizisten, die sich mit ihren Sorgen und Problemen nach einem solchen Einsatz nicht in der Gruppe offenbaren wollen, sondern das lieber im Vier-Augen-Gespräch tun. Wir haben ein Zeugnisverweigerungsrecht sogar vor Gericht, das gibt uns einen hohen Schutz und natürlich auch ein hohes Vertrauen, das wir innerhalb der Polizei genießen.
Viele Menschen sind Augenzeugen des Attentats geworden. Was können diese Betroffenen tun, um das Geschehene zu verarbeiten?
Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte all die hunderten Betroffenen in persönlichen Einzelgesprächen betreuen. Das wird glaube ich nicht funktionieren. Für Einzelne wird es Gesprächsangebote geben, wenn sie das selber für sich suchen. Oft melden sich nach schlimmen Ereignissen in den nächsten Tagen Augenzeugen, die Unterstützung suchen. Aber ich glaube, was ganz vielen Menschen unglaublich geholfen hat ist, dass sie sofort offene Kirchentüren gefunden haben. Da sind wir als Kirche stark. Es gab etwa Gottesdienstangebote, Mahn- und Trauerwachen vor den Kirchen. Menschen solidarisieren sich miteinander und stärken sich damit natürlich auch – und tun etwas für ihre Resilienz. Für uns Pfarrerinnen und Pfarrer ist jetzt die Notwendigkeit, unsere Weihnachtspredigten neu zu schreiben. Da kommen viele Menschen mit ihren Fragen in die Gottesdienste. Das ist auch so etwas wie ein kollektives Trauern. Ein Teil der Verarbeitung kann da passieren.
Das Beste, was Menschen passieren kann, ist, wenn sie sich in ihrem eigenen Familien- und Freundeskreis aufgehoben fühlen und da ernstgenommen werden mit dem, was sie belastet und besorgt. Gestern war ich beispielsweise bei einem „Lebendigen Adventskalender“ bei einer Feuerwehr im Landkreis Stendal. Das war sehr bewegend, wir haben für die Opfer des Anschlags Kerzen angezündet und eine Schweigeminute gehalten. Da kam ein Feuerwehrmann mit seiner kleinen Tochter, die die Geschehnisse in Magdeburg durch die Nachrichten mitbekommen hatte. Da habe ich mit dem zehnjährigen Mädchen geredet und gesagt, dass es toll ist, dass sie so viel Mitgefühl aufbringt. Das war offenbar in dem Moment das richtige. Das sind so Kleinigkeiten, da muss ich gar kein Seelsorger sein. Das ist ja die Erfahrung der Kriegsgeneration, am Ende zusammenzustehen und Trauer und Leid zu teilen. Das ist eine Möglichkeit der Verarbeitung.
Viele Menschen haben jetzt Angst, auf Massenveranstaltungen zu gehen. Was raten Sie diesen Menschen, was kann man gegen diese Angst tun?
Da bin ich ganz ehrlich, ich würde im Moment auf gar keinen Weihnachtsmarkt gehen. Das ging mir schon nach dem Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 so. Ich war damals überrascht, wie viele Menschen arglos weiter auf solche Großveranstaltungen gegangen sind. Da muss aber jeder für sich selber eine solche Entscheidung treffen. Wenn er ein flaues Gefühl hat, dann soll er da nicht hingehen. Man kann den Menschen aber auch ihre Lebensfreude nicht verbieten. Auch das hilft, so etwas Schweres zu verarbeiten. Das darf man nicht moralisch bewerten. Diese Entscheidung muss jeder für sich persönlich treffen. Wenn jemand das Gefühl hat, dass es ihm guttut, würde ich ihm sagen: „Dann mach‘ es.“
Autor:Oliver Gierens |
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