DDR
Kindesmissbrauch wenig aufgearbeitet
Von Karin Wollschläger (KNA)
"Willkommen in der Tripperburg!" Das waren die ersten Worte, die damals die 15-jährige Angelika Börner hörte, als sie 1965 in die geschlossene Venerologischen Station der Poliklinik in Halle/Saale zwangseingewiesen wurde. "Ich wusste überhaupt nicht, warum ich da bin." Bei einer Fachtagung zu Kindesmissbrauch in der DDR berichtet sie in Magdeburg von ihrem Aufenthalt in der Abteilung für Geschlechtskranke. Achteinhalb Wochen voller Prügel, Demütigungen, Schlafentzug sowie sadistischer und sexueller Gewalt bis hin zu regelmäßigen Vergewaltigungen. "Ich dachte, ich komme da niemals lebend raus."
Börners Fall ist typisch für tausende Mädchen und Frauen, wie der Medizinhistoriker Florian Steger erklärt. Der Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm hat die Geschichte der sogenannten geschlossenen Venerologischen Stationen, die es bis zum Ende der DDR gab, erforscht. Die jüngsten Insassinnen waren ihm zufolge 12 Jahre alt, das Durchschnittsalter waren 20 Jahre. Meist wurden sie vier bis sechs Wochen auf den Stationen festgehalten.
Laut Steger ging es nicht um medizinische Heilung - nur 20 Prozent der eingewiesenen Frauen hätten tatsächlich eine Geschlechtskrankheit gehabt, sondern das Ziel war ein politisches: "Die Frauen sollten diszipliniert und wieder auf Linie gebracht werden - um dem Ideal einer sozialistischen Frau zu entsprechen", sagt Steger. So sei als offizieller Einweisungsgrund oftmals "Herumtreiberei" in den Akten eingetragen.
"Es ist ein besonders schreckliches Kapitel von DDR-Unrecht und sogar noch stärker auch ein tabuisiertes Thema, das es den Betroffenen besonders schwer macht, darüber zu sprechen", konstatiert die frühere Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann. Bis heute litten die Betroffenen an den körperlichen und psychischen Folgen, fühlten sich stigmatisiert. "Sie haben ein Recht auf Aufarbeitung. Sie haben ein Recht auf Anerkennung des Unrechts."
Bergmann ist Mitglied der 2016 gegründeten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, von der die Tagung organisiert wurde. Es ist das zweite Fachgespräch einer Reihe, die die Unabhängige Kommission in Kooperation mit den Landesbeauftragten zur Aufarbeitung von SED-Diktatur veranstaltet. Im April war in Schwerin das erste Gespräch mit dem Schwerpunkt DDR-Sport. Weitere zu Missbrauch in der Familie, an Menschen mit Beeinträchtigungen und in den Kirchen sollen folgen.
"Ich dachte, ich komme da niemals lebend raus."
Im Mittelpunkt diesmal steht Missbrauch in sogenannten totalen Institutionen wie den geschlossenen Venerologischen Stationen oder auch Spezialheimen und Jugendwerkhöfen. "Diese Spezialheime waren Ausdruck einer Erziehungsdiktatur, um Kinder mit allen Mitteln anzupassen", sagt Beate Mitzscherlich, Professorin für Pädagogische Psychologie und Ethik im Gesundheitswesen an der Hochschule Zwickau. Die strukturelle Gewalt, die dort vorherrschte, habe sexuellen Missbrauch begünstigt, etwa durch spezielle Hygienekontrollen. Mitzscherlich erarbeitete für die Aufarbeitungskommission eine Fallstudie über "Sexuellen Kindesmissbrauch in Institutionen".
Sie berichtet, dass einige Betroffene erst durch Einsicht in ihre Akten etwas über ihre Herkunft erfahren haben, teils Geschwister wiederfanden. "Es ist dabei sehr wichtig, dass solche Akteneinsichten professionell begleitet werden, denn für viele ist das psychisch sehr belastend", so Mitzscherlich. "Wir sagen ihnen dann immer: Diese Texte haben Täter geschrieben, es ist deren Perspektive."
Der Zugang zu Hilfen ist für Betroffene ist bis heute nicht immer einfach, wie die Psychologin Stefanie Knorr von der Beratungsstelle "Gegenwind" für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur einräumt: "Viele wissen gar nicht, was es alles gibt und wo." Hinzu komme, dass Psychotherapeuten zum einen überlaufen seien, zum anderen mitunter zu wenig über die speziellen DDR-Hintergründe wüssten. Darüber hinaus brauche es mehr Unterstützung für die Familien von Betroffenen.
Christine Bergmann, die sich seit Jahren für die Aufarbeitung von Kindesmissbrauch in der DDR und finanzielle Unterstützung für die Betroffenen engagiert, ist inzwischen 83 Jahre alt und weiterhin kämpferisch. Doch: "Meine große Sorge ist, dass es immer weniger Neigung in der Gesellschaft gibt, sich mit diesem dunklen Kapitel der DDR-Geschichte auseinanderzusetzen. Die Abwehr ist groß in der ostdeutschen Gesellschaft."
Autor:Katja Schmidtke |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.