AUFERSTEHUNGSPHANTASIEN (TEIL I)
SO WIRD DAS SEIN

Es war, als wäre der Wind aufgehoben worden – nicht aus Gründen meteorologischer Erfordernisse oder göttlicher Verbote wegen, sondern weil ein Wind überhaupt nicht mehr nötig war. Kein Rauschen mehr, kein Getriebensein, keine Richtung, keine Spanne zwischen Ursache und Wirkung. Die Zeit – sie war zum Stillstand gekommen und geöffnet worden. Aufgetan wie der Vorhang vor einem Saal, in dem die Ewigkeit nicht mehr als Abwesenheit des Werdens erscheinen musste, sondern als Fülle alles Gewordenen.

Sie kamen über die Hügel der Horizontlinie – nicht in geschlossener Formation, nicht im fliegenden Zug, nicht als marschierende Triumphatoren der Transzendenz, sondern einfach gehend. Wandelnd - wie man eben geht, wenn das Ziel kein Ort mehr ist, sondern der Schritt selbst. Ein jeder schritt, wie er war. Nicht im Sinne irdischer Idealität, also nicht verschönt, verjüngt, gestrafft, sondern in vollendetem Gemeintsein, als sei endlich eingelöst worden, was im Leben nur angedeutet, nur versucht, nur gewünscht hatte werden können.

Da stand auch sie. Tante Heike - eine Frau mit kariertem Kittel, Meisterin von Hefeteigen, die in früheren Zeiten der irdischen Küche angehört hatten, nun aber – so schien es – den Zustand reiner Duftwerdung erreicht haben mochten. Und dieser Duft, welcher von Heikes Händen ausging, füllte die Täler. Nein - erfüllte sie, wie das Echo der Schöpfungsworte Gottes, das sich im Geruch von Backwerk gern verfangen wollte.

Neben ihr stand auf einmal - Kurt. Der Onkel. Schweigsam zu Lebzeiten, nun aber ausgestattet mit einem Lächeln, das alle nie gesagten Sätze in sich barg, bündelte, verwandelte. Es war für beide Leute aber kein Wiedersehen in sentimentalem Sinne. Kein Umarmen, keine Tränen, keine eruptive Rührung, sondern reines Erkennen, ein Blick, in dem Jahrhunderte zu Sekunden wurden, und ein Wimpernschlag zum Äon, der durchsichtig machte, was zuvor verhüllt gewesen war.

„Du warst das also“, sagte jemand. Nicht anklagend, nicht enttäuscht, sondern staunend, als erkenne man endlich die Melodie, die man ein Leben lang summte, ohne sie je benennen zu können.

Es gab keine Gärten aus Gold, keine Throne, keine Reihen von "Halleluja" schnatternden Chören – statt dessen stand da ein einfacher Tisch. Lang, schlicht, von dunklem Holz, das im Licht silbrig wurde, als verhalte sich die Materie selbst wie ein Gleichnis. Auf dem Tisch: Ein Fisch. Nicht etwa der Leviathan. Kein Endzeitungeheuer. Einfach Fisch – gegrillt. Und ein Brot – dampfend, ohne zu verbrennen. Auch der Kelch – gefüllt mit etwas, das wie Wein war, aber Gedanken trug. Und keiner setzte sich, doch alle aßen – nicht mit dem Mund, sondern mit dem Wesen.

Es wurde nicht viel gesprochen. Denn Sprache war eigentlich überflüssig geworden - aber niemand vermisste sie. Denn statt ihrer gab es komplette Wahrnehmung. Jeder erkannte den anderen ohne viele Worte hören oder machen zu müssen – in seiner Geschichte, seiner Wahrheit, seinem Misslingen und seiner Möglichkeit.
Und aus beidem, aus dem, was gewesen und dem, was hätte sein können, formte sich das, was jetzt nun Gegenwart geworden war. Das endgültig Gemeinte.

Dann erschien eine Gestalt. Keine Lichtgestalt, kein Schattenträger. Einfach da. Als hätte man sie nie vergessen, obwohl man sie nimmer gekannt. Sie stieg über den Horizont  und durchschritt ihre Reihen und Muster. Sie fragte nicht. Sie stellte keine Bilanz auf. Sie sagte nur: „Jetzt seid ihr es. Nicht mehr nur die Versuche. Jetzt seid ihr gemeint.“

Und mit diesem Wort – das nicht Wort war, sondern Erkenntnis – zerfiel der große silbern schimmernde Tisch, nicht in Splitter, sondern in Licht. Und ein jeder nahm etwas davon mit – nicht in der Hand, sondern im Atem. Und dann – ganz am Ende – wandte sich Onkel Kurt an Tante Heike, lachte auf, und sprach: „Wenn das hier also Paradies ist, verstehe ich endlich, warum du nie mehr zurück wolltest.“ Und sie entgegnete: „Ich war nie weg. Ich war nur voraus.“

Nun aber begann das Singen. Nicht aus Kehlen. Nicht von Instrumenten. Sondern von Wesen. Und der erste Ton klang, als wache ein Kind auf, das vergessen hatte, dass es je geschlafen hatte. Und siehe – dieses Licht blieb nicht stehen. Es wuchs, ohne zu blenden, es atmete, ohne zu flackern. Die Landschaft wandelte sich nicht, und doch: alles wurde zu Stätte und Stadt. Keine Straßen. Keine Mauern. Stattdessen: Gewebe aus Blicken. Jeglicher Gedanke wurde Weg. Eine Geste wurde Architektur. Ein Mensch – der Kristall. Und alle Kristalle bildeten das neue Jerusalem. Nicht aus Stein, sondern aus Verstehen, Vergeben, Verwoben-Sein.

Ein Kind lief vorbei – auf dem Arm seinen Löwen, welcher an einem Feigenzweig kaute. Und das Kind sprach: „Siehst du, Onkel? Jetzt ist alles wie es immer gemeint war. Ich bin nicht tot. Ich war nur auf der Rückseite.“ Und jemand, der einst stumm gewesen, sang. Doch nicht mit übender Stimme, sondern mit allmächtiger Erinnerung Gottes. Ein Lied, das nicht nur Lied war, sondern Bewegung durch das Gedächtnis des Ewigen. Dann öffnete sich ein Siegel. Kein Buch. Ein Mensch. Und aus seiner Brust stieg die Farbe purpurnen Violetts, wie keiner jemals gemalt hatte. Und es sprach:

„Ich bin Kains Versöhnung mit Abel. Ich bin Esaus Träne. Ich bin Judas’ letzter Gedanke – bevor er sprang.“ Und alsbald trat die Gestalt vollends in ihrer aller Mitte. Und man sah: Sie trug ihre Wundmale wie Kleinodien und wertvollsten Schmuck. Nicht mehr als Schmerz. Sondern wie Fenster und Ikonen. Und durch diese Bildlein sah man nicht hinaus – sondern herein: In das Herz des Anfangs. In das Lächeln des Ewigen. In das Gesicht dessen, der gesagt hatte: „Ich habe dich gemeint.“ Und sie verstanden: Das Paradies ist nicht das Wiedersehen. Es ist das erste Mal, dass sich Sehen in wahre Anschauung verwandelt.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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