die Silberschnur
des Predigers
Herbstlich kühle Bilder beschatten seit einigen Tagen unsere Erinnerungen an die warme Sommerzeit. Jahr für Jahr müssen Geschehen und Ereignisse die enge Kurve plötzlicher Temperaturveränderungen nehmen. Von da ab scheint alles irgendwie plötzlich verharren zu müssen. Im Fallen des Laubs - und im Aufblicken zu den aus kosmischer Kälte funkelnden Sternen. Blätter, welche eben noch Knospen waren, taumeln zu Boden. Je älter wir werden, um so rascher scheint es zu geschehen … In ihrem hochbesonderen Büchlein KOHELET beschäftigt sich die Bibel mit solchen Zeit- und Ewigkeitserfahrungen: Ein gewisser „Prediger” beschreibt uns da unmissverständlich, wie jedes Ding seine Gelegenheit hat. In einer Art Gedankenexperiment lässt der unbekannte Autor auch den menschlichen Leib poetisch verfallen. Fast alle bekannten Körperteile werden uns nacheinander präsentiert: „Denke an den Schöpfer, bevor die Jahre herannahen, an denen du keinen Gefallen mehr hast! Wenn die Wächter zittern, die Müllerinnen müßig gehen, man sich vor der Anhöhe fürchtet - ehe die Silberschnur reißt. Denn der Mensch kehrt heim zur Erde als Staub. Doch der Geist wendet sich wieder zu Gott, der ihn gab.“
(Koh 12,6 - Text des kommenden 20. Trinitatisonntags)
Welche Wächter? Unsere beiden Arme sind gemeint. Müllerinnen? Unsere Zähne. Die Furcht vor der Anhöhe - das müde Herz. Und der Silberstrick? Im Urtext der Hebräer kommt dieser Begriff (חבל הכסף) mit dem Zahlenwert Sieben daher und lenkt uns direkt auf die Hochebenen urheiliger Grundbegriffe: Als Sieben verbindet jene sonderbare Schnur den Menschen (Sechs) mit der Acht des Gottesnamens יהוה.
Wie an einer Silberschnur (so die Vorstellung) träte demzufolge die Seele - wenn der Mensch schläft - aus dessen Körper hinaus und erforsche nun (gleichsam als temporäres Exzentum des Leibes) träumend jene Dimensionen, welche solange verborgen bleiben, bis der Körper nicht mehr wach auf der Lauer liegt und in Schlummer versinkt. Im Schlaftraum nun und von jenem seltsamen schimmerndem Bande geführt - aber zugleich von ihm auch am Entweichen gehindert - schaut sie im Geiste „das große Andere“. Reißt jedoch das Seil, kehrt die Seele nicht mehr zurück - und ist frei, was auch immer das dann bedeutet ...
Die Silberschnur verbände also den Körper mit ihm unbekannten Fernen? Kann schon sein … Anatomisch ist eine solche Schnur zwar von keinem Pathologen jemals seziert worden - aber was für ein kostbares Bild! Widmen wir ihm in Jesu Namen Aufmerksamkeit, bevor die Verbindung reißt! Nehmen wir uns Zeit für das Meta-Wirkliche. Ehe es zu spät ist. Das ist Warnung und Trost zugleich - gültig für Tag und Nacht. Schön auch, wie William Blake die über dem entseelten Körper schwebende Seele genau in dieselbe Lage bringt, wie die Silhouette jener Landschaft sie aufweist, welche der Maler uns durch das Fenster (bzw. als Gemälde an der Wand) betrachten lässt. Unser Leben ist vielleicht nicht mehr als ein Abbild der urfernen Gebirge und Wolkenströme am Himmel? Wenn ja - dann aber eben auch nicht weniger!
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