Martinas ...
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (31)
Martina war heute sechzig Jahre alt geworden. Als sie sich am Abend ihres „Ehrentages“ (genauso stand es wortwörtlich und in rührender Kinderschrift auf der hübschen Glückwunschkarte zu lesen, die ihr Sandra als ehemalige Brigadeleiterin im Namen des alten Erzieherinnenkollektivs zugesandt hatte – also, als sie sich am Abend des Geburtstages in ihre Kissen kuschelte (oder, wie man früher gesagt hätte, zu Bette gegangen war), griff eine sofortige Ohnmacht nach ihr. In diesem Zustande mehrere Stunden begriffen, begegnete Martina dem Bruder des sanften Todes, das ist der gütige Schlaf, welcher uns die Träume entsendet. Diesmal war es ein Traum vom Leben nach dem Tode und von dem Jüngsten Gericht.
Martina stieg dabei nicht, wie sonst in ihren Träumen üblich, ohne anzukommen endlose Stiegen und Treppen, Leitern und Rolltreppen hinauf, – sondern diesmal stieg sie hinab. Und je tiefer sie stieg, desto weiter breitete sich so etwas wie „ein Gefild“ um sie herum aus – bis sie schließlich auf einer dämmrigen Wiese angekommen war, auf welcher grüngoldene Lilien wuchsen und auf stille Art freundlich nickten. Beides, Frage und Antwort, bedeuteten die Blumen ihr aufs Lebendigste, dass sie nämlich eben jetzt vor einer Minute gestorben wäre, direkt am Ziel ihres sechzigsten Ehrentag. Und dass sie deshalb gleichermaßen hier unten angekommen sei, im Land der sogenannten „Unsichtbarerchen“, wie man sich auf sonderbare Weise ausdrückte. Sie sei an jenem Orte angelangt, welchem der italientische Dichter Dante vor langer Zeit allerlei Verse gewidmet habe.
Der Ort - war schön. So hatte sich Martina oft ihren niegehabten Garten im Geiste ausgemalt. Wenn sie damals nahe der Stadt Meißen in ihrem Schrebergarten saß und Schlagermusik aus dem Kofferradio hörte - nicht zu laut, denn man war mit den Nachbarn übereingekommen, die Geräte leise spielen zu lassen. Das war nun alles schon sehr lange her. Hier in diesem sonderbaren Garten standen zahllos die Lilien zwanglos umher - sie glichen lieblichen Elfenwesen. Martina selber hatte es nur bis zu einer respektablen Thujahecke gebracht, welche Ihre Parzelle in der Kleingartensparte “Volkswohl Meißen“ von den Stücken der anderen Privilegierten abtrennte. Diese Blumen hier waren wirklich wunderschön - Martina hatte Ähnliches in keinem Katalog jemals schon erblättern können …
„Ist hier der Himmel oder die Hölle?“ fragte das traumtote Geburtstagskind in Richtung der Blumen. Da fing es an zu schwingen und zu läuten, – was wohl hieß, dass die Blumen mit ihren kristallenen Kelchen lachten und aneinander zuklangen.
Martina direkt gegenüber war nun ein schöner Mann erschienen, der ein rotes T-Shirt trug, welches an der linken Seite ein durchbohrtes Herz aufgedruckt hatte, das Herz brannte in kleinen lüsternen Flämmchen. Es brannte etwa so, wie es auf dem Emblem der Jungen Pioniere in der alten DDR zu sehen gewesen war. Damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen und der Wessi, wie man sagte, noch nicht alles kaputt gemacht hatte. „Und das Herz schlägt doch links“ redete Martina im Traum.
Dann sah sie noch viele ebenso junge Männer, die dem Einen mit dem Herzens-T-Shirt nachfolgen. Diese aber liefen alle barfuß und hatten verwachsene Zehen mit Hühneraugen. Ihre Schädel waren samt und sonders glattrasiert und man trug nichts in den Händen, aber Tätowierungen auf allen möglichen Körperteilen. Jetzt knieten alle vor den Blumenkelchen nieder und nippten an dem Tau der Blütenbecherchen, wobei die Durstigsten mit ihren Händen versuchten, die Pflanzen behutsam nach unten zu biegen. Der Mann mit dem Herzen - wohl ihr Meister und deswegen auch sicherlich Führer durch diese sonderbare Welt - half ihnen nachsichtig, wenn es nicht glücken wollte. „Hier ist die Unterwelt“ sagte der Herz-Mann freundlich zu Martina und schritt mit seinen Kameraden in die Wiesen hinaus. Und sie folgten ihm mit großer Disziplin und sofort. Martina blickte den Männern nach. Die umherstehenden Blumen schienen die Gedanken Martinas erraten zu haben und sangen:
Diese sind es,
welche ihre braunen Kleider
in den Tau der Lichter
tauchen und wuschen.
Ihre Wunden stehen groß
an wehen Füßen
und ohne Zahl.“
Martina ging weiter. Angesichts des Blumengesangs versuchte sie würdiger zu schreiten und richtete sich dementsprechend auf. Derart gelangte sie bald vor eine offene Grotte, in welcher steinerne Statuen standen, die sich von Zeit zu Zeit ein wenig bewegten, um das Standbein zu wechseln. Sie sahen aus wie Götter. Hinter der Grotte jedoch tat sich eine Halle auf, das war das Magazin der Unendlichkeit und darinnen standen kreisförmige Regale ohne Ende und Anfang.
Einer der Statuenmänner sprang jetzt von seinem Sockel herab und begrüßte Martina – sie fühlte die angenehm Kühle seiner Hand, die sich anfühlte wie Schlangenhaut – vertraut und doch nicht vertraut. „Grüß Gott“ sagte der Mann. Er sprach ganz ohne Akzent, weder unangenehm Hannoveranisch, noch irgendwie Sächsisch, Bayrisch oder sonst wie anders. „Du bist eine der Martinas, nicht wahr? – Klar bist du das!“ fügte er dann hinzu und lächelte ermutigend.
Martina verstummte. Eine von den Martinas und Grüß Gott? Sie war Martina Lehmann, Tochter des ehemaligen Direktors einer sozialistischen Lehranstalt zu Meißen, der Stadt am lieblichen Elbestrom - und religiös nicht gebunden. Eigentlich hieß sie Martina Katharina, wie eine ehemalige Eiskunstläuferin aus Chemnitz. Aber das Katharina ließ sie immer weg. Nur Martina! Katharina war nämlich eine Heilige aus der Christenwelt. Und Martinas Vater - der Direktor - hatte eines Tages gesagt, Heilige gäbe es gar nicht, höchstens komische Scheinheilige. Auf diese Weise war Martina ihr schöner Beiname Katharina verleidet worden. Zum Namen Katharina hatte die Linie der Mutter Martinas beigetragen. Die Mutter - “Gott hab' sie selig“ fügte Leberecht an dieser Stelle mit ein, obwohl das in sich eher widersprüchlich schien - kam aus bürgerlichem Hause und brachte in die sozialistische Familie des DDR-Lehrers Lehmann die Tradition der Rosenbaums mit ein. Die damit verbundene Kultur durfte aber nicht leben - und fand nur im Klavierspiel von Mutter und später auch Martina als Tochter ihr bescheidenes Domizil. Vom Urgroßvater aus Lemberg gab es noch einen Band des babylonischen Talmuds - den man aber nicht lesen konnte, denn er war in der Sprache der Engel geschrieben und deshalb in einer Kiste auf dem Dachboden verwahrt, deren Schlüssel der Direktorvater verwahrte.
Martina war am am 3. Mai 1957 nachts um 22.10 Uhr geboren worden und jetzt hier gelandet – nach irdischer Zeit im Jahr 2017. Sie kniete etwas unbeholfen vor dem Mann, der inzwischen auf das Postament gestiegen und wieder versteinert worden zu sein schien.
„Mein Gott“ rief sie und merkte, wie die Fliegenpilze, welche um sie herum so mir nichts dir nichts einfach in irrsinnigen Mengen aufwuchsen, große und kleine, ihr aufmerksam zu hörten. „Wo bin ich?“ schluchzte Martina. Der steinerne Mann regte sich nur soviel, um sagen zu können: „Ich bin nicht dein Gott, ich bin nur das Abbild von dem unsichtbaren Aides und das hier unten ist unser Reich, das ich zusammen mit den Fliegenpilzen verwalte. Wir verwahren alle Lebensgeschichten, die sich aus verschiedenen Gründen nicht haben ereignen können – wie du selber weißt!“
„O mein Gott!“ schrie Martina wieder, „Meines hat doch noch gar nicht richtig angefangen – und nun bin ich schon gestorben und deshalb hier?“ Aides blickte sie aus unbeweglichen Augenwinkeln an, und sagte jedes seiner Worte bedächtig abwägend: „Ja und Nein. Sei nicht entsetzt. Du bist bisher nur der Schatten eines Lebens, das noch gar nicht begonnen hat – und welches wir deshalb in unserem Garten aufbewahren. Dort hinten, im Magazin des 147. Regalmöbels mit der Signatur „MARTINAS“ steht dein nicht gelebtes Leben irgendwo in einem Einweckglas herum. Du kannst es betrachten, wenn du es dir getraust.“
Ein kleines blaues Hündlein, das mit seinen Augen immerfort zu lachen schien (“die haben hier alle irgendwie was mit den Augen“ schoss es Martina durch den Kopf), trug alsbald einen Zettel herbei, auf dem eine Zahl geschrieben stand, deren letzte Ziffern allerdings unleserlich geworden waren, weil der Speichel des Hündleins drauf getropft und die Tintenzeichen deshalb etwas verwaschen worden waren.
Das Hündlein wedelte zutraulich mit dem Schweif und übergab Martina den Zettel mit der nicht ganz eindeutigen Zahl, – es hätte wohl am Ende eine 6 oder 3 aber auch eine 5 oder 9 sein können. Eigentlich kamen nur 1 und 7 nicht in Betracht. Da war nun guter Rat teuer. „Was soll das werden?“ fragte sich Martina … Und etwas in ihr wusste die Antwort und ein Gedanke kam in ihren Sinn: „Das wird irgendwie dein neues Leben“. Wobei sie mit dein natürlich mein meinte - also das Ihrige. Denn Leberecht Gottlieb, der ihr diesen Traum schreibend erschuf, ließ sie ja die ganze Zeit über mit sich selber reden. Und das kleine blaue Hündlein nickte dazu – und das sah sehr gütig aus …
Martina trat mit ihrem Zettel vor Aides und zeigte das Blatt mit der verwischten Zahl. “Oupsi!“ Tatsächlich – Aides sagte “Oupsi“. Der Leser mag hier einen Stilbruch vermuten - oder eine Unseriosität seitens Leberecht Gottliebs. Wer jedoch das Griechische beherrscht - Martina gehört noch nicht zur Menge derer - weiß, dass das “OU“ die Verneinungspartikel der Griechen darstellt. Und das “Psi“ ist eine Art esoterische Abbreviatur für parapsychologische Angelegenheiten. Insofern bedeutet “OUPSI“ im Munde von Aides, der der Unsichtbare schlechthin ist, die doppelte Verneinung einer Verneinung per se. Oder so ähnlich. Also, – Ausruf höchsten und bemerkenswerten Erstaunens. Nach diesem Ausruf fuhr Aides fort: “Da hat das Hündlein Cerberus dir, Katharina Martina, den zukünftigen Heilsplan wohl etwas durcheinander gebracht, bzw. in denselben eingegriffen. Das haben wir manchmal, aber selten und auf deiner Namenstrecke eigentlich noch nie. Pfui Cerby!“
Das Hündlein Cerby zog den Schwanz ein und trat beiseite. Aides zog unter dem Fundament seines Sockels einen Topf hervor: “Wenn du nun deine Zahl nicht kennen kannst, dann müssen wir dir einen neuen Namen geben. Denn die Namen bestehen alle aus Zahlenkombinationen. Los, zieh ein Los aus dem Topf.“ Er schaute nun irgendwie recht ernst drein, der Herr der Schatten und Schemen. Martina griff in den Topf hinein, holte zuerst tief Luft, zögerte ein wenig – und griff dann ein Röllchen heraus. Sie streifte das Gummiband ab, von welchem das Röllchen zusammen gehalten wurde und entfaltete den kleinen Zettel. Schaute Aides an und danach Persephonai, die inzwischen aufgetaucht war und sich ihrem Gatten zugesellte. „Da steht ‚Gender‘ drauf“ sagt sie.
„Gender“ wiederholte Persephonai, „du bist das also. Willkommen, Gender. Wir warten schon lange auf dich. Ab heute stehst du unter meiner besonderen Fürsorge.“ Sie sagte das, lachte dabei aber nicht. Persephonai lacht fast nie. Aber sie kann weinen und die Menschen betrauern. Denn solches ist ihr Amt.
Leberecht Gottlieb lehnt sich zurück. Ob er das so lassen konnte? Er weiß er noch nicht. Aber auf jeden Fall hatte er nun einen Denkfaden gelegt, wie jene Putzfrau Gender, welche Globnichs NICHT am Morgen nach dessen Tode im Hospiz aufgewischt und in den Kreislauf kosmischer Bedeutungen eingefädelt hatte, endlich eine Beziehung zur realen Welt der Pottsitzer Leute bekommen könnte. Martina Lehmann, die Tochter des Schuldirektors, die Klavier spielen konnte - sehr gut Klavier spielen konnte - und aus der eine sozialistische Krippenerzieherin und nun in die Post-Nachwendezeit des Jahres 2022 gebeamt worden ist. Wie das Leben eben so spielt … Wo das Schicksal die echte Martina Lehmann wohl hingetrieben haben mag? Aber das ist eine ganz neue Frage, der an anderer Stelle vielleicht einmal ausführlicher nachgegangen werden soll.
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