„Honecker und der Pastor”
Beobachtungen zu einem Film aus der Zeit des Coronainterims
Sie sind immer noch da
Wenn man stirbt - sagt der Volksmund - rolle einem das eigene Leben wie ein Film noch einmal vor den Augen ab. Blitzschnell und zugleich als zeitlose Ewigkeit. Der Film „Honecker und der Pastor” erschien 2022 gegen Ende des Coronainterims. Und ist noch lange nicht zu Ende. Wir wollen in die metamythische Dimension dieses Streifens hinabsteigen. Dabei werden wir aber dem klassischen Spruch „De mortuis nil nisi bonum dicendum est" nur begrenzt Folge leisten können. Denn es geht um Erich und Margot Honecker.
Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne und der Kommissar Thiel haben also im vergangenen Jahr einen Film über die beiden alten Leute aus Wandlitz gemacht - einen Film, den man als DDR-Sozialisierter einfach gesehen haben muss. Boerne und Thiel sind in Wirklichkeit natürlich Jan Josef Liefers und Axel Prahl. Die lassen am Ende des Films eine Bombe platzen: „Ich bin wieder zu Hause!” sagt Erich Honecker - wie nebenbei - als er wieder im ehrwürdigen Hausflur des Pfarrhauses zu Lobetal steht. Margot mag es anders gesehen haben - aber sie folgt ihrem Mann ins Unvermeidliche, wie es sich für gute Ehefrauen früher ja auch gehört hat. Nun sind beide längst tot oder sogar bereits im Himmel - oder dessen Gegenteil.
Aber eigentlich leben sie ja noch. Wildpflanzen vergehen nicht. Ja - „Sie sind wieder da“ möchte man in leichter Abwandlung eines bekannten Buchtitels von Timo Vermes rufen. Beziehungsweise - sie sind nie wirklich fort gewesen. Ihr „Geist” blieb lebendig. Und weht weiter durch die Republik - jenen magischen Schemen abgetaner Zauberer gleich, welche durch die Hallen von Hogwarts geistern.
So richtig böse Rollen gibt es in dem Film eigentlich nicht - außer vielleicht die einer hochspeziellen Spaziergängerin (Judith Steinhäuser), welche am Tor des Pfarrhofs gemeinsam mit dem Volk randalierend schreit: „Wia komm wieda - das sarichda“ (Wir kommen wieder, das sage ich Dir). Aber solche Demonstranten sind ja eigentlich gar nicht richtig böse? Wir können das Volk von 1989/90 je länger je mehr sehr gut verstehen. Ganz ohne Demos geht die Chose nicht, ganz ohne Dünger blüht die Rose nicht. Dass es übrigens ohne Weiber in Führungspositionen nicht geht, sagt (um die Ecke herum gedacht) Margot Honecker der leicht bieder wirkenden Pfarrfrau an der Seite Uwe Holmers selbst (Minute 57:22): „Eine Frau kann es sehr weit bringen. Weiter als ein Mann! Aber es hat natürlich seinen Preis.“ Wie Recht sie damit hat, können wir täglich beobachten: Die Frage ist nur, wohin es uns alle bringt, wenn solche Frauen allgemein bestimmend werden. Die Bildung in der DDR hat es jedenfalls damals nicht wenig getroffen. Und heute nicht anders. Damit aber betreten wir ein zu weites Feld. „Unser Gott hieß Margot(t)!“ lautet ein weithin unbekannt gebliebenes Büchlein, dessen Titel viel Richtiges in Richtung solcher und ähnlicher Themen aussagt. Besonders auch, dass das Führerpärchen der DDR zum Schluss in einem Heim für Menschen mit Behinderungen leben darf und hier (laut Honecker) eigentlich zu Hause ist, hat einen viel tieferen Sinn, als man zuerst glauben will.
in Lobetal
Es lohnt sich sehr, diesen Film noch einmal zu betrachten. Manches ist natürlich überzeichnet - oder auch einfach falsch. Die Pfarrerskinder etwa singen nicht sauber. Und die familiäre Hausmusik in Lobetal kommt recht simpel rüber. Aber das ist schon das Einzige, was in dieser Hinsicht zu bemängeln wäre. Ansonsten führt der Film tatsächlich in die Abgründe des Schicksalshaften. Etwa, wenn man bemerkt, wie Erich und Uwe - Brüdern relativ ähnlich - dargestellt worden sind: Alte Männer, deren Zeit sich phasenverschoben gerade eben zu vollenden scheint - dem einen so, dem anderen so. Auch der sogenannte VOLKSZORN sei erwähnt. Da hat sich nicht viel geändert! Es gibt ihn also tatsächlich noch, den Furor Teutonicus, von dem Heinrich Heine so Wichtiges schrieb. Und auch die wunderbare Seenlandschaft Brandenburgs ist noch immer da. Und die gekröpft aufgehängten Kirchenglocken. Sehr viele schöne Details. Sogar der Reden Erichs wird visuell Erwähnung getan: Anlässlich des Geburtstags von Pastor Uwe gehen sie als Präsent aus der Hand des abgetanen Staatslenkers in die des geistlichen über. In bibliophilem Zwergenformat steht der Schuber mit den roten Predigten des Staatsratsvorsitzenden vielleicht bald im Amtszimmer des Lobetaler Pastors - gleich neben der riesigen Lutherausgabe. Oder noch ganz anders - es gibt da draußen vor dem Pfarrhaus zwei richtig alte DDR-Mülltonnen aus Blech. Irgendwo wird jeder Pfarrer irgendwann ein Plätzchen finden müssen für die politischen Reden seiner Zeitgenossenschaft … Ebenfalls unübertroffen ist der Dialog (ab 28:35) zwischen einem ostdeutschen Heimbewohner und zwei Westjournalisten:
Herr Schimke: Hallo - na, Ihr zwei …
Journalist: Hallo
Herr Schimke: Ich heiße der Herr Schimke. Meine Lieblingssache ist am liebsten Rauchen. Ich rauche immer. Und Du?
Journalist: Ich bin der Conny
Herr Schimke: Ich bin der Herr Schimke. Ich heiß auch so.
Journalist: Kennst Du einen Erich Honecker? Sagt Dir der Name was?
Herr Schimke: Ja. Ja.
Journalist: Wer is’n das. Was is’n das für’n Mann?
Herr Schimke (überlegt): Der ist Präsident. Präsident ist der. Richtig?
Journalist: Richtig!
Herr Schimke: lacht
Journalist: Und wo ist der jetzt?
Herr Schimke: Der ist da. Na, - der ist hier. In Lobetal ist der. Aber manchmal ist der auch im Fernsehen. Aber da winkt er immer nur. Der raucht nicht da. Da hat er keine Freude dran. Und Du?
Journalist (reicht eine Schachtel ERNTE 23 rüber): Hier - kannst alle behalten. Na nimm!
Pfleger (taucht auf): Da sind Sie ja, Herr Schimke! Wir müssen frühstücken.
Herr Schimke umarmt den Journalisten und küsst ihn …
Der Behinderte küsst den Journalisten. Später wird auch Honecker den Pfarrer küssen. Das sind so Sachen. Es gibt im gesamten Film überhaupt sehr, sehr viele schöne und geniale Einfälle und Einstellungen. Zum Beispiel die Szene, in der Margot mit geneigtem Haupt - und darin gleicht sie magdalenenhaft einer mittelalterlichen Büßerfigur - neben dem Text eines inzwischen fast unbekannten Kirchenliedes in sich zu gehen scheint. Der Text (gesetzt in deutsche Fraktur und zu singen nach der Weise BEFIEL DU DEINE WEGE) ist an der Wand deutlich zu sehen:
Laß fahren deine Sorgen,
du änderst nicht dein Los;
das Heut ist dein, das Morgen
trägt Gott in seinem Schoß.
Und wie er's wird gestalten,
ergründen kannst du's nicht;
doch glaubst du an sein Walten,
so gehst du auch im Licht.
Und was er dir mag senden,
du trägst es still und gern;
kommt es doch aus den Händen
des besten aller Herrn.
Nie kann dein Morgen trübe,
dein Abend dunkel sein;
denn deines Gottes Liebe
gibt ihnen hellen Schein.
Margot(t)
Aber ansonsten war und ist die Margot wirklich schlimm. DDR-Kundige könnten beim Betrachten des Filmes von manch unangenehmem Flashback heimgesucht werden. Auch wenn die Hexe aus Wandlitz im Verlauf des Filmes immer weicher rüberkommt, bleibt sie doch eine böse Frau, der man hätte kein Amt geben dürfen. Und so ist Margot sicher nicht ganz im Himmel, sondern dient noch ein paar Jahrtausende auf den unendlichen Schleifen des Läuterungsberges ab, was die Insassen des Torgauer Jugendwerkhofs ihrer Untaten wegen sicherlich hoffen und dazu im Film einiges berichten. Wer für Margot beten will - hier sind die erprobten Worte: „Kürze ihre Wartezeit.“ Denn auch Margot hat ja einen Schutzengel, wenn wir denn die Frömmigkeit der Familie Holmer ernst nehmen, was wir unbedingt tun sollten. Erich dagegen hat vielleicht schon die goldene Harfe und den Palmzweig verliehen bekommen. Denn wenn er wirklich so war, wie der Film ihn zeigt, hat man fast Mitleid mit dem Dachdecker aus Neunkirchen. Jedoch sollte man sich vorsichtig klar machen, dass Mitleidstränen für die Honeckers auch bedenkliche Anzeichen jenes Symptoms sein könnten, welches Gedemütigte sich unbewusst immer wieder an ihre Peiniger ausliefern lässt (Stockholmsyndrom). Insofern gilt der lateinische Satz, mit dem wir ganz oben diesen kleinen Beitrag beginnen haben lasen, nur cum grano salis.
Wer also mit der Wünschelrute durch Liefers Film „Honecker und der Pastor” geht, wird gleich am Anfang deutliche Ausschläge bemerken. Die Vibrationen des magischen Weidenzweigs lassen auch bis zum Ende des Streifens nicht wirklich nach, denn wir wandeln neunzig Minuten lang über untergründiges Gebiet. Prof. Dr. Boernes und Kommissar Thiels Filmepos ist für uns ehemalige SBZ-ler ein einziges Déjà-vu. Kornelius - der jüngste Sohn des Pastors - kommt zusätzlich als angelus interpres daher, der den unsensibleren Betrachtern mit kleinen Denkhilfen auf die Sprünge hilft und zur Erklärung aus dem Off seine deutende Stimme ertönen lässt. Am Anfang und am Ende steht das Wort dieses Edelknaben (der Name Kornelius bedeutet übrigens: Hörnchen - Ho[r]neckerchen). Wie Laura Ingalls in der Serie „Unsere kleine Farm” alles Geschehene für diejenigen zusammenfasst, die es nicht alleine merken, erzählt uns Kornelius, was und wie man aus dem Honeckerbesuch in Lobetal lernen kann.
Was gibt es noch zu berichten? Von einer gewissen mystagogischen Unterströmung des Films (den zu sehen sich wirklich lohnt) ist weiter oben schon kurz Andeutung gemacht worden. Aber es fällt noch mehr auf. Kornelius bemerkt: „Die Meteorologen sagen, dass der Winter 89/90 der wärmste im ganzen Jahrhundert war. Wir konnten nicht einmal Schlitten fahren. Und an Weihnachten waren es über 15 Grad.” Damit ist die Honeckerepisode aus der Lobetaler Ortschronik für alle Zeit auch in die allgemeine Kirchengeschichte eingegangen, weil - ähnlich, wie schon die Geburt und der Tod des Heilands von den Evangelisten mit Sternphänomenen am bestirnten Himmel beschrieben ward, bleibt nun auch der Aufenthalt des DDR-Führerpärchens in einem Evangelischen Pfarrhaus auf immer durch die Zeichen an Wetter und Klima gebrandmarkt.
Urmusikalisches
Der Film beginnt mit dem Kirchenlied „Bleib bei mir, Herr!” (EG 488). Eine Orgel intoniert die absteigende Terz dieser in Moll gefassten Melodie, mit solcher Terz begann ebenfalls die alte DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen”. Ähnlich auch das Host-Wessel-Lied. In den beiden letztgenannten Titeln besteht ein Widerspruch zwischen gedichtetem Text und komponiertem Ton. Das Wort „AUFERSTANDEN” führt nämlich aufwärts. Aber Hans Eisler lässt die Melodie der Zonenhymne mit einer Terz abwärts gleiten. Ebenso bei dem unmöglichen Flaggenlied aus den dreißiger Jahren "DIE FAHNE HOCH!" Der Text will zwar aufwärts führen - aber die Melodie reißt die Fahne eine Terz tiefer nach unten. Das konnte nicht gut gehen … An ihren Liedern werdet ihr sie erkennen! Melos und Mythos eines Akkords sind immer stärker als der Logos, dem die Musik dienen soll. Bei der Internationale ist es übrigens anders: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde.” Der Text dieses Weckrufs wird von der Musik mit einer aufsteigenden Quarte nach oben gerissen. Jetzt aber schnell zum Text des Kirchenliedes aus EG 488. Denn der Text, den der kleine Kornelius anstimmt, ist die ältere Variante einer Nachdichtung von Franz-Josef-Rahe für das englische „Abide with me”: „Bleib bei uns, Herr, die Sonne gehet nieder, in dieser Nacht sei du uns Trost und Licht. / Bleib bei uns, Herr, du Hoffnung, Weg und Leben. Lass du uns nicht allein, Herr Jesu Christ.” Hier stimmt die Bewegungsrichtung von Text und Melodie überein - absteigende Terz für die untergehende Sonne. Gut gemacht.
Ein kleines Fehlerchen hat sich in das Drehbuch dann doch eingeschlichen. Aber vielleicht ist es ja auch nur ein Test, ob's jemand merkt: Kornelius sagt: „An Weihnachten.” Es muss aber richtiger „Zu Weihnachten” heißen. Bei Feiertagen sind die beiden Präpositionen An bzw. Zu ein ernstes Schibboleth (Richter 12,5–6) zwischen Ossi und Wessi … Niemals hätte ein ostdeutscher Knabe im Jahre 1990 „an Weihnachten” gesagt. Man konnte in den ersten Jahren nach der Wende die Anpassungsfähigkeit bestimmter „Geister” sehr genau daran ablesen, wie schnell sie die beiden Präpositionen auszutauschen wussten - um die eigene Herkunft zu verschleiern. Aber das nur nebenbei.
Mythos
Jetzt aber kommt langsam das Wesentliche. Warum nehmen die Holmers ihre Honeckergäste eigentlich auf? Kornelius gibt mit kindlich triumphierendem Unterton die Ursache dafür bekannt: „Und - weil wir Christen sind und es Jesus nachtun wollen” (Minute 0:01:46). Jesus selbst kommt also in der Gestalt Bruder Honeckers ins Pfarrhaus. Kornelius: „ … dem Tag, als mein Vater sagte, dass wir Besuch bekommen (Minute 00:01:25 Hier wird ein Kruzifix eingeblendet.) Erich Honecker und seine Frau Margot würden bei uns einziehen.” Für die, die das Motiv der Pfarrfamilie nicht verstehen können oder wollen, gibt es auch eine einfache und säkularisierte Lesart: „Weil er sehr krank und frisch operiert ist und sie kein zu Hause mehr haben.” Der Film endet auch mit dieser allgemeinen und für alle akzeptablen Werbung: „Erich Honecker ... wurde nie verurteilt, denn er war schon viel zu krank!” (01:35:40) Ja - so sieht es die Unschuld der Kinder …
Zum Schluss - Die Visite der Honeckers ist nicht nur wie Falladas lustig-grausame Erzählung DER UNHEIMLICHE BESUCH zu lesen, sondern deutbar als hierophantisches Geschehen. Denn die Honeckers sind so etwas wie Holmers Hioerophanten - und Holmers sind Honeckers Hierophanten. Zur Erlärung: Der Hierophant war eine wichtige Person innerhalb des Ablaufs Eleusinischer Mysterien - deren Details von den Zelebranten übrigens bei Todesstrafe geheim gehalten werden mussten. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat dazu viel Interessantes aufgeschrieben. Es geht bei den eleusinischen Mysterien - an dieser Stelle nur ganz grob anzudeuten - um Verwandlung, um den kultischen Sieg über Tod und Zeitlichkeit und um die Erlangung von Zutrittsrechten zur anderen Welt, in der und aus der man wiederkehrt. An, mit und durch die Personen der Hierophanten (Hieros - der Priester/ das Heilige und phainomai - erscheinen/Epiphanie) zeigt sich etwas, was schwer zu beschreiben ist und "nur den Wiederkehrenden im Erleben deutlich wird" (Mircea Eliade). Hegel, der die Erklärung der Welt in ein einfaches System zwingen zu können glaubte, hat vor Eleusis kapituliert und griff deshalb zum Mittel des Gedichts, um doch noch das zu beschreiben, was eigentlich unbeschreiblich ist:
»Wer gar davon zu andern sprechen wollte,
Spräch’ er mit Engelszungen, fühlt der Worte Armuth -
ihm graut das Heilige so klein gedacht,
durch sie so klein gemacht zu haben,
daß die Red’ ihm Sünde deucht,
und daß er bebend sich den Mund verschließt.«
(Hegel „Eleusis” Hölderlin gewidmet)
Das alte Tarot-Kartenspiel - ich weiß, in manchen wissenschaftsfrommen Kreisen steht man ihm eher mit abergläubischer Scheu ablehnend gegenüber - zeigt mit seinem fünften Arkanum die Figur eines solchen Hierophanten (Figur im roten Ornat) im Setting der eben gerade stattfindenden Begegnung mit denen, die um Einweihung und Zutritt zum innersten Zirkel der Weisheit bitten (die beiden Kahlgeschorenen ganz unten links und rechts). Der Hierophant also in der Mitte - links und rechts die Eintritt Begehrenden Adepten. Bei der Betrachtung dieses Bildes und des Filmes fällt auf, wie beim Eintritt der Honeckers in das Pfarrhaus und beim Ausblick aus dem Pfarrhaus immer wieder die Konstellation dieses Motivs vollzogen wird: Die sich nicht vermeiden lassende Begegnung von Novizen mit denen, die schon in die höheren Grade eingeweiht sind. Diese Einstellungen haben etwas ungemein Wirksames. Norbert Bischof hat in seinem Buch "Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben" darüber gearbeitet, wie Kleinkinder die Welt zu sehen beginnen, wie sie diese dann malen und damit für den Forscher die physiologischen Grundzüge unserer wahrnehmenden und Wirklichkeit gestaltenden Hirnaktivitätsstruktur deutlich werden, welche sich sozusagen als archaische Minidramolette immerfort vollziehen, wenn wir etwas denken, sehen, malen und beschreiben.
Wer will, kann die verschiedenen Haus-Eintrittsbilder des Filmes und ihre wechselseitigen Situationen ja einfach mal länger auf sich wirken lassen (Film stoppen). Die Familie Holmer gleicht dabei dem Hierophanten auf der fünften Karte des Tarot-Spiels, wie man deutlich sehen kann. Aber auch in der umgekehrten Sichtweise nach draußen ist die Struktur erkennbar, nur - dass zwischen Margot und Erich dann das Kreuz ausfällt, welches in der Mitte der Familie Holmer erscheint. Diese Fehlstelle wird dafür durch eine imaginäre Lücke in der Baumlandschaft des Hintergrundes ersatzweise ausgefüllt.
Fazit: Das Heilige tritt bei den Holmers ein. Liefers vult - bzw. der Film will es so. Und ebenfalls für die Honeckers wird ihr Aufenthalt in dem Lobetaler Pastorat eine spirituelle Grenzerfahrung gewesen sein. Wenn auch bei Margot in Chile Reue und Einsicht ausgeblieben sein soll - den Erich hat der alte Hauch des Heiligen in Lobetal sicher rettend gestreift. Jenen Hauch, mit dem seine Schulkameraden im katholischen Neunkirchen als Ministranten Bekanntschaft geschlossen hatten, kannte Erich wohl leider nicht. An der Saar war man zwar katholisch. Aber nicht die Familie des späteren Staatsratsvorsitzenden. Jedoch gilt auch hier: Groß ist das Geheimnis des Glaubens ...
Alles ist eins
„Alles ist eins.” Ist dieses Rilkegedicht bekannt? Vorgetragen von der unvergleichlichen Stimme Iris Berbens machen die wenigen Worte den Zuhörer eins mit dem Gehörten: Mysterium coniunctionis. Der (hier mit Musik unterlegte) Text verwandelt Menschen in Landschaft und macht Landschaft noch lebendiger, als die Haine, Wege, Felder, Wiesen und Wälder es sowieso schon von Natur aus sind. Die beiden Herren Holmer/Honecker wandeln auf ein und demselben Weg - und in der Ferne kündigt sich der heilige Hain an. Keine Terebinthen - aber immerhin zwei alte Bäume. Die stehen still in der Landschaft und harren der Ankömmlinge. Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis, welche beide - jüdischer Überlieferung nach - ihre Wurzeln von ein und demselben Grundwasser laben und darinnen baden. Weil eben Alles Eins ist ...
"Einmal, am Rande des Hains,
Stehn wir einsam beisammen
Und sind festlich, wie Flammen
Fühlen: Alles ist Eins.
…
Unser Weg wird kein Weh sein,
Wird eine lange Allee sein
Aus dem vergangenen Tag.
Alles ist eins!”
Jan Joseph Liefers Streifen Honecker und der Pastor arbeitet mit mächtigen Symbolen, welche die unbewusste Ikonenwelt am Grunde der menschlichen Seele in Resonanz geraten lassen. Der in uns latent schlummernde innere Kosmos von Urbildern wird durch die Betrachtung der Filmsequenzen spürbar. Weinen mit Honeckers - Lachen mit Holmers.
Zum Beispiel die beiden Bäume am Anfang des Filmes. Da gehen die beiden Männer einen Weg - zu den Bäumen auf zwei Spuren. Und am Ende gehen der Pastor und die Frau Pfarrer denselben Weg. Und das ist beides zugleich - die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Schmalparadies DDR (Erich und Margot Honecker) - und zugleich ist es so etwas wie eine verfrühte Rückkehr von Eva und Adam (Sigrid und Uwe Holmer) in das ewige Friedensreich dessen, der für die betet, die ihn an das Kreuz schlugen. Denn der Weg aus dem vergangenen Tag (wie Rilke dichtet) ist noch lange nicht zu Ende. Er beginnt gerade erst - als Reise in die geheimnisvollen Labyrinthwelt der eigenen Erinnerung, Selbstbewertung und bilanzierenden Buße:
Wie formuliert es doch Frau Holmer so treffend ihrem Mann gegenüber : „Mich erschüttert, wie weit wir Menschen gesunken sind. Dass einer dem anderen nicht mehr glauben, nicht mehr trauen kann. Dieses Misstrauen vergiftet alles. Davon müssen wir wegkommen. Wenn wir das Vertrauen nicht wiederfinden, dann gehen wir alle zugrunde!”
Im Abspann des Filmes erscheint nach der Nennung aller Schauspieler (die ihre Sache wirklich gut gemacht haben) auch das Kürzel U.V.A. Damit sind wohl hauptsächlich alle namentlich ungenannten Statisten gemeint - also die heutigen Bewohner der ehemaligen Lobetaler Anstalten. Sie geben - sonderbaren Engeln gleich - dem Film ein freundliches Gepräge. Auch die große Jesusstatue im Thorwaldsenstil gehört zu ihrer Schar; weit draußen in der Landschaft steht das monumentale Bildwerk und segnet alle Spaziergänger, die sich auf einer einsam herumstehenden Bank niederlassen. Unter allen diesen Statisten fallen besonders zwei Personen auf (siehe Foto oben). Die lächeln staunend und zeigen nach oben in Richtung Pfarrhaus, wo am Fenster Margot und Erich sich gerade kurz unvorsichtigerweise eben hatten blicken lassen. Der deutende Finger der größeren Person erinnert ein wenig an den Zeigefinger von Matthias Grünewalds Johannes, der dem Isenheimer Altar das bekannte Alleinstellungsmerkmal gegeben hat. Die Fingergeste des Täufers will der Film zitieren als "Ecce Homo" ganz besonderen Art (28:15).
Details
Was war das für eine Hatz! Lobetal wimmelte ein paar Wochen lang nur so von Journalisten und Reportern. Denn dieses Dorf stellte die ganze Welt auf den Kopf. Jetzt war es endlich einmal auch umgekehrt: Nicht das Schaf ging in die Höhle des Löwen - sondern der Löwe musste in den Stall der Herde. Die Honeckers hatten in ihrem neuen Domizil alles das mitzumachen, worüber sie sonst nur mitleidig lächelten. Sie müssen z.B. an all den Kreuzen stündlich vorbei, von denen es in Holmers Pfarrhaus nicht wenige gibt. Sie müssen die Tischgebete anhören. Erich meint lakonisch: „Es stört uns nicht!” und findet spontan Kurzformeln nichtreligiöser Rede für ehemals hochtheologische Begriffe. Er nennt z.B. die Barmherzigkeit Pastor Holmers Solidarität. Nicht ganz falsch ...
Das alles und noch viel, viel mehr beobachten die zwei Asylanten - besser: Schützlinge, die der kleinen Christenschar in Lobetal anvertraut sind. Friedrich von Bodelschwingh hatte 1905/6 seine Anstalt dicht an das Dorf Lobetal gesetzt - mit dem großen Auftrag, keinen abzuweisen, der hier anklopfen wird - und sei es noch so ein armer Teufel. Dass der Teufel irgendwann selber! um Aufnahme bitten würde und sogar die üblichen 35 DDR-Mark Miete zahlen wollte, hätte sich damals keiner vorstellen können. Aber die Geschichte ist voller Kuriositäten. Zwar heißt es: „Natura non facit saltus“ (Die Natur macht keine Sprünge) jedoch mag es sein, dass wenigstens die Geschichte sich manchmal in großen Sprüngen fortbewegt.
Man hört nicht, was die beiden Menschenkinder ab 28:15 miteinander beratschlagen. Aber der Ausdruck ihrer Angesichter lässt keine andere Deutung zu als Freude, Staunen, Zustimmung und Einverständnis. Ähnlich mögen die Hirten auf den Feldern in der Nähe Bethlehems ausgeschaut haben, als die Menge der Himmlischen Heerscharen von der Geburt des Gottessohnes im Stall kündeten. Die Person mit der graublauen Jacke hebt dann auch noch die Rechte zum Pioniergruß (28:30). Lachenden Munds. Damit ist die Sache perfekt: „Seid bereit, immer bereit.” Jahrelang hörten wir allmorgendlich dieses törichte Mantra am Beginn des Schulunterrichts. Über den Lettern des J&P-Emblems loderte die dreiteilige Flamme. Wir haben es nicht vergessen. Nein - wir vergessen nicht, dass wir damals über das weinten, worüber wir heute mitleidig zu lachen versuchen. Dass das Emblem strukturell die Form eines lateinischen Kreuzes aufwies, sahen wir damals kaum - denn wir mochten diese Organisation nicht, die uns Hass auf die Verwandten jenseits des antifaschistischen Schutzwalls zu lehren erfunden worden war. Und merken erst heute, dass Margot Honecker genau an die Stelle der Pilatusinschrift INRI ihr „Seid bereit” montiert hatte. Damals hieß die erste Vorsitzende des kommunistischen Jugendbundes noch Feist. Umbenennungen und Symbolaustausch - sie pflastern nach wie vor den Weg der großen politischen Lügereien bis auf den heutigen Tag. Das Emblem der DDR- Pfadfinder deutete ohne es zu ahnen an, was später auch die Kugel des Berliner Fernsehturms aller Welt unübersehbar zeigte: Ein Kreuz. Denn der HERR "lässt seiner nicht spotten" (Galater 6,7) sondern "spottet ihrer" (Psalm 2,4) - und lässt die Wahrheit sogar mit Hilfe der Symbole Ihrer Feinde offenbaren - man muss es eben nur entdecken.
Das Honigopfer
"Komm, wir machen uns was vor!" Die Hand, die wir da an einem Honigglas sehen, ist Margots. Das Langnese-Glas ist von Langnese (aus dem Westen). Und von oben wird gerade etwas in dieses leere Glas eingefüllt: Honigbärchenhonig (aus dem Osten). Von der lockigen Verkäuferin (Anna Loos) in der praktischen KONSUMVERKAUFSSTELLE Lobetals vor wenigen Minuten erst erworben. Der kleine brave Pfarrerssohn Kornelius lief im Auftrag der Frau Honecker.
Während Erich Freude an Zitronensaft hatte, aß Margot gerne Honig. Es durfte aber nicht der einfach ehrliche Zonenhonig, sondern musste „richtiger” Honig aus den Waben des Westens sein. Ein Topf mit Langneseetikett, gefüllt mit dem süßen Honig der SBZ lässt den Selbstbetrug schnell vergessen. „Komm, wir machen uns was vor!” (34:08)
Das geht auch heute noch. Was draußen drauf steht, muss innen nicht immer drin sein. Zum Beispiel „Deutsche Demokratische Republik.“ Der erste Buchstabe in dem Kürzel DDR war wahrscheinlich noch der authentischste - das merken wir heute. Denn Demokratie? Und Republik? Was war denn mit dem Volk? Und wer bestimmte denn über die res publica? Viele, die heute diese beiden Worte wie Monstranzen vor sich her tragen und für sie mit heilig gespitzten Mündern dies und das lobhudeln, haben ja überhaupt gar nicht begriffen, was im Inneren dieser Worte steckt! Denen allen könnte Margot als Schutzheilige gelten. Sich selber etwas vormachen und dabei zu vergessen, dass man sich selbst eben gerade betrügt. Wahnsinn!
Margot füllt Osthonig in das Westglas. Ohne die Schwerkraft Gottes könnte sie das nicht schaffen. Die Frau sieht sich bei diesem Opus Magnum ängstlich um. Das Werk der Honigumlügung geschieht zudem im Badezimmer, wo auch der Schminkspiegel hängt und unter der Klobrille der Orkus für alles das, was nicht mehr gebraucht wird, sich aufsperrt. Gut gemacht!
Aus der liebevoll designten Honigbärchenform (Plaste und Elaste aus Schkopau!) rinnt der goldene Seim behäbig in die eher nichtssagende Form des altbundesdeutschen Behälters. Margot geht heimlich vor. Sonst merkt der Gatte den Fake. Auf dem Klo - der stille Ort. Der heilige Bezirk. Erich wird in diesem Film eher als wissend Ahnender dargestellt. Sie selber - Margot - merkt den Betrug nur in dem Moment, in welchem er sich durch ihre eigene schmale Hand eben vollzieht. Sie scheint sich die Selbstbelügung aber nicht lange merken zu müssen: Denn das Glas mit dem bundesdeutschen Etikett gaukelt ihr vor, was sie gern glauben machen will. Wie im Film, so oft im Leben und der großen Politik …
Ein makabres Spiel, das die ehemalige DDR-Königin mit dem Nektar der Bienen treibt. Lasst euch nichts vormachen! Wehe allen kleinen und großen Königinnen, die ihr Volk schlecht regieren. Wehe allen, die die Völker betrügen. Wehe denen, die den Honig stehlen. Und wehe den falschen Imkern. (Ich persönlich hätte den Honig aus dem Westglas in das Ost-Bärchen gegeben. Denn Bären essen Honig gern - und sind schwerer zu betrügen als leere Behälter.)
das Elixier
Erich - ja, Du bist's. Dich hab ich vernommen! Von "Vernehmung" redeten seine Büttel und Schergen sehr oft. Auch von "Zuführung" und "Klärung eines Sachverhalts." Erich Honecker soll hier jetzt selber ein wenig vernommen werden - Gott hab ihn selig und sei uns allen gnädig! Gerade nimmt er das allmorgendliche Elixier zu sich. Die Tinktur, Wasser des Lebens, Pharmakon Athanasias: Reiner Zitronensaft aus dem nichtkapitalistischen Ausland. Ein ganzes Schnapsglas voll. Respekt. Auf nüchternen Magen. Das knallt! Aber - jeder darf - zumindest galt das bis vor Kurzem - nach eigener Façon selig werden. Im Zeitalter des drohenden Impfzwangs - als der Film erschien - nein, wir vergessen auch das nicht!, wird die Wahrheit dieses aus dem Munde des Alten Fritzen stammenden Satzes sich jeder wieder neu erkämpfen müssen.
König Ludwig XIV. hat getanzt - der Staatsratsvorsitzende trinkt. Manch Politiker hat was anderes getrunken als Erich, mancher hat sogar was geraucht bzw. geschnieft. Honecker aber war der Säure aus den gelbgoldenen Früchten nicht abhold. Margot hat sie alle ausgepresst - wie wir in dem hier diskutierten Streifen von Boerne und Kommissar Thiel beobachten können.
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?
Dahin möcht’ ich mit euch, Geliebte, ziehn!
...
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!"
Mignons Lied (J.W.v.Goethe)
"Unser täglich Brot gib uns heute!" beten wir im Vaterunser. Gib ihm Saures, Erich - dem Magen, damit Du den Tag durchstehst. Jesus hat man am Ende der Lebensbahn als Kreuzweg auch Saures gegeben - Essig. In den Evangelien ist darüber berichtet worden. Wenigstens in diesem einen Detail gleichen sich Dachdecker und Zimmermannssohn. Aber man darf heute nicht mehr einfach alles miteinander vergleichen. Sonst verhöhne man mindestens das Opfer auf der einen Seite des Vergleichs. Diese - inzwischen von allen möglichen Flachdenkern als Totschlagargument gebrauchte - Denkfigur der Frankfurter Schule wird jetzt auch mich treffen? Aber ist es nicht so? Der Honecker kommt in dem Film HONECKER UND DER PASTOR tatsächlich so ein bisschen als Opfer rüber. Als kluger und weiser Mann zurechtgemacht, der in den Fängen seiner wilden Frau nicht so gut sein konnte, wie er es eigentlich wollte - denn die Verhältnisse, die sind nicht so.
Wer in das hohe Auge sieht, und ahnt, wie dasselbe - in's Unendliche schweifend - den Säurestoß unten im Magen erwartet, ist an Nietzsches Zarathustra erinnert: "Dein Auge nur, Unendlichkeit - unheimlich blickt's mich an. / So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugrosses Glück sehen kann! / Segne den Becher, welcher überfliessen will, dass das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage! / Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden. / - Also begann Zarathustra's Untergang."
In gestreiftem Bademantel - in gewisser Weise also einem Sträfling gleich - schluckt Honecker seine Vitamine. Die Säure nimmt er dabei in Kauf, wie der Covid-Impfling die Nebenwirkungen. Jeder Politiker zahlt einen hohen Preis für das Amt, das ihn dafür meistens nur sehr überschaubar mit Erfolg, Zustimmung und Anerkennung belohnt. Man muss das wirklich wollen - oder lassen. Aber vor allem: Man muss es können. Wenn man es nicht kann, dann hilft auch kein Zitronensaft. Auch nicht biologisch und fair gehandelter. Das als kleiner Nachruf auf das Staatslenkerduo von damals und als Warnung für die Anführer von heute.
Was dem Zitronenfreund Erich aber geholfen hat, das war der Pfarrer mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Und die Nähe zu den vielen Heimbewohnern. Und das Gebet aus dem Evangelischen Gesangbuch, mit dessen süßer Untergangsmelodie (EG 488:5) der Film von Jan Josef Liefers beginnt:
"Halt mir dein Kreuz vor, wenn mein Auge bricht; im Todesdunkel bleibe du mein Licht. Es tagt, die Schatten flieh’n, ich geh zu dir. Im Leben und im Tod, Herr, bleib bei mir!" Auch dieses Lied soll als eins der Letzten auf der Titanic gespielt worden sein. Aber erst als die Kapelle Charleston und FoxTrott dann wohl doch nicht mehr für ganz angemessen gehalten hatte. Man sollte Text und Melodie des Liedes für alle Fälle kennen ...
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