UND WAS HAT DAS MIT DEM GLAUBEN ZU TUN? (TEIL 3)
Leberecht Gottlieb (89)
89. Kapitel, in dem man eine Vorstellung davon bekommt, wie schwer die Übersetzungstätigkeit Uschmanns gewesen sein mag. Und welche Qualität Seminararbeiten in den achtziger Jahren des vorigen Jahrtausends, als Leberecht noch Student war, gehabt haben ...
Leberecht sollte weiterlesen. Alle forderten es. Man war begierig nach seinem Worte. Besonders der chinesische Seidenhändler hörte gebannt zu - und hatte es seinem Chauffeur unterdessen erlaubt, nach Jerusalem zurückzukehren, was dieser auch prompt tat. Man war mit einem Mercedes-Maybach Allrad der G-Klasse hier in der Wüste eingetroffen. Leberecht seufzte, die Erinnerungen an seine Studienzeit übermannten ihn wohl - und hob dann wieder an, um von dem kleinen leuchtenden Bildschirm seines Telefons weiter vor- und abzulesen:
"Was die Suche nach dem verschollenen Büchlein „Ludus domos planetarum et signorum Dravidorum“ betrifft, gab uns der weise Mann Andraparvabath Vidurian im Gebirge trotz aller Unterschiedlichkeit der seinigen zu unserer Gesinnung dann doch noch einen wichtigen Hinweis. Wir sollten, empfahl er, den Brahmanen Ravi Subrahmanya in Madras aufsuchen. Wenn überhaupt jemand wisse, wo und wie nach dem Büchlein Ziegenbalgs bzw. Ponickaus zu forschen wäre, sei dieser Mann genau der Richtige. Ravi Subrahmanya in Madras sei einer der Klügsten aus der Schar der Jyothisi, so nennt man die sternenkundigen Lichtwissenschaftler bei den Malabaren - bei den Hindus überhaupt und in ganz Indien. Wir baten Andraparvabath Vidurian um ein Empfehlungsschreiben an diesen Ravi Subrahmanya, er aber lehnte ein solches uns auszustellen ab, versprach jedoch, sich bei dem Sternkundigen auf geeignete Weise im Geiste einzustellen und für uns ein gutes Wort einzulegen. Wir konnten nur darauf vertrauen, dass das auch geschähe - außerdem hatten wir ja aber auch unsere eigenen in Europa lange erprobten Gebete, die wir die gesamte Reise über bereits ausgiebigst nutzten, wie sich leicht denken lässt.
Über die Reise nach Madras ist nicht viel zu berichten, es ging immer bergab, denn diese überaus schöne Stadt liegt in der Ebene und wir konnten also ohne beschwerliche Steigungen unseres Wegs ziehen. Mit der Hilfe Gottes hofften wir, glücklich auf dem britischen Gebiete bei Madras anzulangen, denn zwischen den Niederländern, deren Territorium wir als Deutsche und Dänen von der Gegend um Tranquebar aus zu überqueren hatten, und den Engländern weiter nördlich, flammten hin und wieder gefährliche Scharmützel auf, von denen man leicht in Mitleidenschaft gezogen werden konnte. Das Gedenken des Sterbetags Ziegenbalgs nahte für den 23. Februar und wir hofften, auf diesen Tag bereits unser Ziel erreicht zu haben.
Gelobt sei Gott - unsere Bitten gingen wirklich in Erfüllung. Ein mildes Wetter begleitete unseren Weg und wir trafen am Vorabend jenes besonderen Datums in Madras ein, fragten nach dem Sternenkundigen Ravi Subrahmanya - und weil jedes Kind hier denselben kannte, saßen wir schon bald mit dem Weisen gemeinsam am Boden bei einer Tasse duftenden Tees von der Insel Ceylon und befragten ihn nach guten Möglichkeiten, die Schrift „Ludus domos planetarum et signorum Dravidorum“ ausfindig zu machen, deren Titel in etwa gut zu übersetzen wäre mit: „Spiel in den Häusern von Planeten und Zeichen bei den Dravidiern“. Ravi Subrahmanya kannte das Buch natürlich und hatte selber eines, das er uns auch zeigte. Es war ein etwa zwei Zoll dickes Konvolut von ineinander gehefteten Palmblättern und besaß das Format, das bei uns Folio genannt wird - ein stattliches Exemplar. Auch jetzt wieder wurde von einem aus unserem Kreise törichterweise ein hoher Preis für den Verkauf an mich in Aussicht gestellt, aber Ravi Subrahmanya schüttelte den Kopf und wurde ganz ernst, als er sagte:
„Liebe Gäste, dieses Buch, sowie auch viele andere ihrer Art sind unverkäuflich gegen schnödes Geld und Gold. Ihr könnt es abschreiben - denn dabei ergibt es sich, dass ihr den Inhalt versteht und durch die Mühe des Lesens und Schreibens selbigen fremden Text in euer eigenes Wissen verwandelt und es deshalb besitzen dürft. So will es der Geist Vishnus, der in diesem Buche wohnt.“
Gleich am nächsten Tage beschlossen wir, das Buch abzuschreiben. Tinte und Griffel waren bald herbei und auch genügend Bogen von getrockneten Palmenblättern zur Hand. Es war nicht einfach, die tamilischen Charaktere auf den spröden Untergrund zu bringen und einige von uns gaben sofort auf, fluchten und schimpften und das ganze Unterfangen erwies sich als viel zu schwer für unsere ungeübten Hände. Ravi Subrahmanya gab uns den Rat, das Buch erst einmal zu lesen - und dann, wenn wir die Sprache verstünden, das Schreiben zu versuchen. Aber wir konnten es ja noch nicht einmal lesen, da wir uns immer nur in einem Mischmasch von Englisch, Niederländisch und Tamilisch verständigt hatten.
Ziegenbalg für seinen Teil, das war bekannt, hatte die Sprache der Heiden schon ganz am Anfang mit Mühe und Begeisterung gelernt und bereits auf dem Schiffe monatelang erprobt. Wir aber waren noch weit abgeschlagen in dieser Kunst. Und mussten wohl oder übel in Madras bleiben und erst einmal die Sprache erlernen. Das veränderte unsere Reisepläne in mancherlei Hinsicht. Aber es half nichts ...
Ich schrieb an meinen Superintendens in Zahna, dass ich erst in Jahren würde zurückfahren können. Wir hätten das Büchlein zwar gefunden, müssten es aber erst lesen und verstehen, um es abschreiben zu können. Dann erst dürften wir es mitnehmen als Werk eigener Hand und eigenen Geistes. Ich empfahl dieses mein Brieflein nach Sachsen dem Schutze aller guten Mächte, die der liebende Gott unseren guten Absichten stets beigesellt - wie wir nicht ohne Grund glauben dürfen - und brachte es hernach an den Hafen zu einem Schiffe, welches nach Norwegen abging. Mochte meine Epistel das Ackerbürgerstädtchen in einigen Monaten erreichen - ich selber machte mich aber noch am selbigen Tag an das erste Kapitel des gesuchten und hier in Madras aufgefundenen Buches. Es begann in der Übersetzung, die ich mit Hilfe von Ravi Subrahmanya anfertigte, folgendermaßen:
„DIE LEHRE VON DEN LICHTERN AM HIMMELSZELT
Wer jemals unter Euch auch nur um ein Weniges aufmerksam in den nächtlichen Himmel geschaut, wird sich fragen, ob die mächtige Schrift der unzähligen Sterne da droben einen Sinn ergibt, welcher weit noch über das hinaus führt, was wir in der dunklen Ferne sehen. Es gehört ja zur Eigenart des menschlichen Geistes, darnach zu forschen, wie einzelne Details unserer Wahrnehmung auf eine Weise thematisch zu verbinden wären, so dass sie am Ende kein zusammenhangsloses Stückwerk bleiben, sondern zu einem einzigen Ganzen zusammenrücken. Das Interesse des menschlichen Geistes an einem übermenschlichen Sinn ist groß - sogar sehr groß. So groß, dass wir armseligen Wesen am Ende nicht nur nach dem Sinn fragen, sondern zusätzlich sogar noch nach dem Sinn des Sinns forschen wollen.
Einzelne, zuerst einmal völlig unzusammenhängende, Beobachtungen können durch vereinheitlichende Themen (als man nennt Narrative) auf eine Art verbunden werden, welche dann einen übergeordneten Sinn erscheinen lassen. Es gibt viele solcher Themen - in unserer heimischen Literatur und auch bei den Christen, die sich seit Jahrzehnten aufmachen, unsere Heimat zu bereisen. Sie nennen es bei sich "Heilsgeschichte" oder klassische Dramen, Liebeserzählungen aus neuer Zeit und so fort. Als Menschen des alten römischen Reiches sprechen sie in der lateinischen Sprache und nennen diese Themen Narrative - von narrare, was bei Ihnen "erzählen" bedeutet, wie bei uns kahana कहना. Auch für die betont sachlich bleiben wollenden Geister bleibt als Mutter aller Narrative am Ende aber immer noch die große Erzählung von dem Kampfe der Ursachen mit ihren Wirkungen erklärungslos im leeren Raum stehen, etwa so:
Weil ein gewisser Quidam damals irgendetwas getan hat, geschieht jetzt dieses und jenes - und wird irgendetwas anderes gleich nachher dort oder hier Realität gewinnen müssen. Dieses narrativum causalitatis (Kausalitäts-Narrativ) hält jeder mit seinem eigenen und persönlichen Leben Tag für Tag am Laufen - und wir alle bestätigen es stetig und ständig. Weil Du, lieber Leser, dieses Buch erworben habe, liest Du es jetzt. Wenn Du es hernach wirst gelesen haben, weißt Du Bescheid.
Das was jene Einwanderer aus dem Westen Kausalitäts-Narrativ nennen und was bei uns Karanay Sambandh करणीय संबंध heißt, ist eines der mächtigsten Themen, mit Hilfe deren wir Sterblichen uns denkend Schneisen durch das Gestrüpp der unbarmherzigen Zeit schlagen, die sowohl gegen uns steht, als auch für uns ficht. Dieses Narrativ stiftet uns Ordnung - zählbare und erzählbare Ordnung. Auf der Suche nach ordnenden Prinzipien haben die Menschen bereits sehr früh damit angefangen, das Geschehen am Himmel zu beobachten. Es besteht sogar eine gewisse Notwendigkeit, den bestirnten Himmel über uns zu beobachten. Dieses drängt sich von selber und mit eigenem Antriebe auf. Wer sich nachts zur Ruhe legt, muss die Sterne sehen. Dann haben also die Einschlafenden, mehr aber noch die aus irgendwelchen Gründen Wachbleibenden bemerkt, dass es dort draußen eine sich verändernde Ordnung gibt. Diese Ordnung musste nun im Geiste mit den nächtlichen Befürchtungen und Hoffnungen verbunden werden, - wie jedes andere Detail der Erfahrung ebenfalls. Und besonders der Himmel machte da keine Ausnahme.
Ordnung stiften heißt, mit dem Leben zurecht kommen zu wollen. Wenn es eine beobachtete Ordnung am Himmel gibt und ich gleichzeitig eine Ordnung für mein Leben suche, so überlagern sich diese beiden Ordnungsebenen innerhalb der ständig im Sinne des Ordnens aktiv das Hirn durchbrausenden Gedanken. Auf diese Weise wird schließlich das eine in das andere eindringen - und aus zweien eine einzige Ebene daraus gebildet werden. Man beginnt unmerklich damit, das "Leben" der Sterne mit Geschichten zu beschreiben, die der täglichen Menschenwelt entlehnt sind - und fängt an, das eigene Leben mit den Schemata der Sterne und ihrer Bilder samt den Bewegungsparametern zu verbinden. Ein solches oder ähnliches Verfahren liegt deshalb nahe, weil die Ordnung deshalb Ordnung ist und nur deshalb bleibt, weil sie ihr Prinzip überall vertreten haben will und nur dann selber sein und bestehen kann, wenn sie sich selber überall sucht - und so tut, als ob sie sich selbst auch tatsächlich überall findet. Die Matrix aller Ordnungen aber entstammt dem geheimnisvollen Reiche der Zahl, welches Reich zugleich von dieser Welt und nicht von dieser Welt ist.“
Ob allerdings der Herr Ponickau zufrieden sein wird mit meiner Übertragung des alten dravidischen Textes in unser liebes Deutsch? Und muss ich das Buch unter Umständen nicht doch noch einmal in der tamilischen Ursprache abschreiben, damit unsere Rückreise und Übergabe der alten Blätter auskömmlich ans Ziel findet? Das allein weiß der gnädige Gott …
Wohl erst nach einigen Tagen war ich mit dem ersten kleineren Teil der Vorrede des gewaltigen Werkes „Ludus domos planetarum et signorum Dravidorum“ fertig geworden. Ich hatte damit begonnen diese seltsamen Schriftzeichen abzukonterfeien - sowohl mit den tamilischen Glyphen auf alte Palmblätter, als auch in meiner deutschen Muttersprache auf grobem Papier, das uns zur Verfügung gestellt worden war. Wie kompliziert aber sich diese Materia gestaltete, wird jedem deutlich sein, der die folgenden Zeilen einmal ernsthaft studieren wollte. Sie stellen die inhaltlich genaue Übersetzung des Urtextes von „Ludus etc." dar, allerdings sind meine eigenen Überlegungen und Deutungen mit untergemischt. Ravi Subrahmanya hat mir beigestanden - aber ich ließ mir nur helfen, wenn ich alleine wirklich nicht mehr weiter wusste. Allerdings war das oft der Fall … Hier das vorläufige Ergebnis:
"Jede Zahl ist eine durch treuen Glauben und beharrliches Wollen immer wieder erneut bestätigte Vermutung, dass da drinnen oder draußen (oder in beidem) eine sehr differenzierte jedoch ebenfalls universale Ordnung bestehen müsse, die jedes mit Allem und dieses Alles mit jedem Einzelnen verbinden könne. Diese Vermutung ward schließlich zum Gesetze erhoben, ist deshalb auch Gesetz geworden - und geblieben. Aus diesem Willen zur gedanklich nachvollziehbaren (weil wiederholbaren) Ordnung ergab sich etwas, was wir heute „Logos“ nennen, der den bis dato bestanden habenden Mythos nach langem Kampfe wohl oder übel gebändigt haben muss, indem der Logos den chaotisch und oft völlig widersprüchlichen Sinn aller mythischen Aussagen dadurch begrenzte, dass man deren vielfältige Aussagen vom Gesetz der Zahl reduzierte, - indem ihre Fülle entweder verneint oder aber bejaht wurden. Alles, was mit dem Reiche des geordneten Denkens zu tun haben will, bekommt durch diesen Willen zu 'Ja ODER Nein' unbemerkt die Ordnung der Zahl eingestiftet, wird zum Stift oder zum Schrein eines verliehenen Sinns, der mit den Einzeldingen von Haus aus erst einmal nichts zu tun hat - denn erst wir haben ihn dazu gegeben ...
Die gewaltige Menge der Sterne überhaupt und der Planeten am Himmelszelt im Besonderen stellen (in der Art und Weise natürlicher Wissenschaft gesehen) Massenschwerpunkte dar, die für lange und bestimmte Dauer einander stetig im Raume umkreisen. Daher ist es nicht falsch, diese Körper als gültig gewordene Eichung und Repräsentation von Zahlenverhältnissen zu betrachten. Weil Zahlen nicht nur dazu geeignet sind, Quantitäten zu bestimmen - sondern weil sie auch in ihrer Reihenfolge und Möglichkeit, sich eine aus der anderen hervor gehen zu heißen, für unser Denken zeugende und Qualitäts-Eigenschaften besitzen (größer, kleiner, gerade, ungerade), berühren die Zahlen ebenfalls den Bereich der starken Erzählungen über das Wesen der Dinge, wie dieselben z.B. in Geschichten von Göttern und deren Einfluss auf die Welt zu beschreiben versucht worden sind. Etwa so: Das Eine und das Andere vereinen sich in einem gemeinsamen Dritten und dieses kann nun, weil darin der Gegensatz aufgehoben, zur Matrix realer Wirklichkeit eines Vierten werden. Damit wäre die Geschichte der Zahlen 1,2,3 und 4 hier schon einmal kurz umrissen. Darin ähneln sich die Lehren der Pytagoräer mit denen der Draviden.
Die Jyotisha-Lehre der Draviden als Lehre von den Sternen und der Bedeutung ihrer Stellung für das Leben der Sterblichen ist also eine ganz bestimmte Anwendung von „Anschauungen über Zahlen“ auf die unmittelbare „Lebenswelt des Menschen.“ Es gibt auch noch andere Systeme, mit Hilfe derer die Zahlenwerte einerseits und die Lebensstruktur einer Person andererseits untereinander verbunden werden. Wie manche zum Beispiel den numerischen Wert bestimmter Buchstaben (Vor- und Nachname) auf Charakter und Schicksal beziehen, als es die Hebräer gern praktizieren, oder Bildwerte aus kuriosen Kartenspielen mit Wesenseigenschaften tatsächlicher Menschen in Verbindung bringen, wie der schreckliche Aberglaube des fahrenden Volks auf dem Balkan bis heute bekanntlich nicht davon ablassen will.
Das Fragliche an solchen Systemata, zu denen auch das Jyotisha der Inder gehört, ist aber nicht die Welt der Zahl oder die des menschlichen Lebens - sondern die Art und Weise, wie zwischen beiden Welten eine Verbindung gestiftet wird. Diese Verbindung scheint nämlich recht willkürlich zu sein - denn sie besteht ja nur darin und dadurch, dass axiomatisch behauptet wird, jenes eine Ding hätte mit dem anderen Dinge etwas zu schaffen. Da taucht nun die Frage auf, was muss eigentlich geschehen, damit eins mit dem anderen zu tun hat? Bestimmt das Eine das Andere - oder unterliegt dieses Eine dem Einfluss des Anderen, so dass es aussieht, als ob es die Verbindung gäbe? Sind beide von sich aus darauf gerichtet, zu einem gemeinsamen Neuen zu werden? Oder dichtet der menschliche Geist die entsprechenden Zusammenhänge fabelnd dazu - und kann auch gar nicht anders, als dieses zu tun, weil er selber ebenfalls Zahl ist? Und erobert nicht erst durch den Zwang der menschlichen Interpretationslust die Welt aller an und für sich selbst nur toten Fakten jenen sonderbaren Rahmen, innerhalb dessen dann die Fakten für uns Menschen und wir selbst ebenfalls als lebendiges Bild erscheinen?
An dieser Stelle werden wir darauf aufmerksam, dass das, was wir menschlichen Geist nennen, jede Sekunde damit beschäftigt ist, Gleichheit herzustellen. Gleichheit zwischen den allerverschiedensten Dingen. Dieses Schöpfungs-Werk der Gleichheit gelingt nun dadurch, dass die einzelnen miteinander abzugleichenden Elemente z.B. nach Farbe, Geruch und Größe miteinander verglichen werden, um sie dadurch alle an einem gemeinsamen Dritten gleichermaßen teilhaben zu lassen. Dieses Dritte ist dasjenige, woraufhin verglichen wird - als man bei den atheistischen Philosophen „Kategorien“ genannt. Zu denen gehören auch Raum und Zeit. Es ist dem Geist zum Beispiel ein Leichtes, A mit B zu vergleichen (ver-gleichen heißt „gleich zu machen“), indem nämlich irgendeine Matrix einer sich in der Zeit vollziehenden Geschichte hergenommen wird, und in das Bett dieser Matrix nun A und B als einzelne Elemente eingegliedert werden. (A) ist z.B. ein armer Hirte, der in einer seiner nächsten Inkarnationen zum König (B) wird - allerdings müssen zunächst erst drei Aufgaben erledigt werden, ehe die Gleichheit zwischen (A) und (B) hergestellt ist. Diese verbindenden Geschichten sind vorerst im Geiste (oder im Kopf). Und den Hergang und Ablauf dieser Ereignisse erzählt die Jyotishalehre als Lehre vom Scheinen des Lichts. Du bezweifelst das Vorhandensein solcher Geschichten bei Dir selbst, lieber Leser? Nun - aus der langweiligen Kausalitätsgeschichte, von der oben die Rede gewesen, kannst Du nie entfliegen, es sei denn Du bist Brahman persönlich.
In dieser kargen Geschichte von der mächtigen Göttin als man nennt Causalitas ist Dir ein Restchen des ewigen Narrativ übrig geblieben: Übrig geblieben ist die Annahme eines universalen Zusammenhangs aller denkbaren Einzelheiten mit dem, was wir zuerst einmal und recht unbeholfen „Alles" nennen wollen. Trotz ihrer scheinbaren Langweiligkeit entstammt diese Restgeschichte vom universalen Zusammenhang aller Details mit dem „Ein-und-Alles“ dem Herzen Brahmans. Und alle Kronen und Hermelinmäntel, Pfeil und Bogen, Tarnkappen, Schilde und helfende Blitzstrahlen der Oberen, von denen wir in Mythen und Geschichten lesen, kommen von hierher - alles zu seiner Zeit und wann diese ist, lässt sich durch Jyotisha ermitteln.”
Bis hierher war ich nach etwa drei Wochen schwerster Mühe und Übersetzungstätigkeit gelangt - und mir schwirrte der Kopf der vielen Gedanken wegen, die ich mir machte. Dieses Buch also hatte Bartholomäus Ziegenbalg genutzt, um die Sprache der Heiden zu erlernen, denen er dann für sechzehn lange Jahre die frohe Botschaft unseres HERRN Jesus Christus erzählte?
Ravi Subrahmanya betrat den Raum und machte mir Mitteilung darüber, dass meine Gefährten samt und sonders mit einem englischen Schiffe vor einigen Stunden in See gestochen. Ein Solches hatte sich bereits seit Tagen angekündigt. Wie missmutig waren diese Leute alle gewesen! Die Ernsthaftigkeit, das gesuchte und hier in Madras in einem anderen Exemplar aufgefundene Buch zu übersetzen, - sie war bei diesen zumeist noch recht jungen und groben Menschen, die wohl nur Geldabenteuer und Liebesamouren in den indischen Landen gesucht hatten, überhaupt nicht vorhanden gewesen. Sie hatten den ganzen Tag über nur herumgelungert oder waren mit den Soldaten der Militärstation auf Tigerjagd gewesen bzw. hatten sich noch weitaus schlimmeren Lastern hingegeben.
Ich war erfreut über die Nachricht ihrer Abwesenheit - hatte ich doch nun alle Zeit der Welt und Ruhe genug dazu, in die verborgenen Zirkel der Weisheit der indischen Lichtwissenschaft einzudringen, zumal mir Ravi Subrahmanya noch ein anderes Büchlein herreichte, das in Deutsch geschrieben und diesmal von Ziegenbalg selber stammte - im Titel lautete es: „Genealogie der malabarischen Götter“. Ziegenbalg hatte es 1713 als Manuskript vollendet - das umfangreiche Werk war aber in Deutschland nie gedruckt worden, denn man war der Meinung (auch A. H. Francke!!!), es käme nicht so sehr darauf an, dass der indische Götter-Unsinn in Deutschland verbreitet würde, sondern dafür galt es sich zu rüsten, die Europäische Denkungsart in Indien zu etablieren und jenes ferne Land zu einem zivilisierten christlichen zu verwandeln.
In diesem Buche Ziegenbalgs, von dem man seinerzeit in Halle und Wittenberg schon etwas gehört, fand ich viel Trost und Erkenntnis. Denn hier beschreibt der Autor selber sehr systematisch und verständlich dasjenige, was in dem Palmblattwerk, das ich mühsam zu übersetzen versuchte, immerfort nur mit Sternen und Planeten, Rashis, Bhavas, Grahas und Nakshatras zu schaffen hatte. Ich dankte Ravi Subrahmanya sehr für die neue Literatur und versank bei der Lektüre derselben in einer sonderbaren und faszinierenden Welt.
Leberecht endete hier und seine Zuhörerschaft nickte beifällig. Einigen war halblaut von Ibn Jesus übersetzt worden - andere waren inzwischen eingenickt. Klar wurde aber allen irgendwann, dass hier einer von etwas las, das sie alle betraf. Und dass die Lehre der Inder in vielem dem glich, was sie in Ägypten selber glaubten und daran seit Generationen festhielten - als Verehrer des Gebieter der Sterne und Wesen.
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