Ruf aus der Heimat
Leberecht Gottlieb (91)
91. Kapitel, in dem uns viel zugemutet wird und wir einiges über die sonderbarlichsten Dinge zwischen Himmel und Erde erfahren werden. Der Kirchvater Urban meldet sich über den Ozean bei dem Diakon Uschmann und berichtet unglaubliche Vorkommnisse. Man beschließt, in die Heimat zurückzukehren ...
Leberecht schaut in die Runde - und alle schauen Leberecht an. Man hört hier gern zu, wenn erzählt wird. Auch dann, wenn lange erzählt wird. Es ist ganz anders als im sächsischen Prätzschwitz, Mumplitz und Plötnitz. Die Leute hier zeigen Interesse - obwohl sie die deutsche Zunge gar nicht verstehen. Das ist bemerkenswert. Leberecht beschließ, besonders schön vorzulesen. Und er legt wirklich seine ganze Seele in jedes einzelne Wort:
"Zu jener Zeit aber, als ich in Tranquebar gewesen, um das verloren gegangene Büchlein Ponikaus aufzutreiben und zurück nach Sachsen zu führen, war also irgendein Inder, von dem ich nun zu erzählen gedenke, in dem Ackerbürgerstädtchen Zahna angelangt. Wie man mir später erzählte hieß es daselbst schon bald: „Unser junger seit Monaten absenter Herr Diakon, der allen hier als ein fröhlicher Sonderling gilt, hat einen dunkelhäutigen Menschen von jenseits des Ganges zu uns geschickt.“ Diese Meinung der Zahnaer muss ich aber zurückweisen, denn ich habe niemanden von Südindien aus nach Sachsen geschickt. Ich selber war allerdings als Geistlicher für vier Jahre tatsächlich in dem tropischen Subkontinente dienstlich unterwegs und, wie es auch überall offiziell vermeldet worden, auf den Spuren eines sehr, sehr teuren Palmblattbüchleins im Auftrage des Superintendenti D.Gottfried Jahn aus Zahna ein Weltreisender geworden, bevor ich dann selbst das Amt meines Vorgängers zu übernehmen hatte.
Der Inder, den man in Zahna gesehen, soll von sich selbst berichtet haben, dass er – als es für mich soweit war, von der Küste Tranquebars in die Berge zu reisen – eines Morgens in Gestalt eines weißhaarigen alten Brahmanen, beide Handflächen aneinander gelegt und vor das Gesicht gehalten, an der Tür unseres kleinen Kirchleins gestanden, sich leicht verbeugt und in ausgesuchtem und feinstem Sanskrit gesagt hätte: क्या एक पुरानी सफेद गाय को नए चराई के मैदान की तलाश में यात्रा पर नहीं जाना चाहिए।, was soviel heißt wie: „Ob eine fremde weiße Kuh nicht doch auch sollte das alte Europa einmal gesehen haben!“ Ich nun hätte ihn mir, so erzählte er überall herum, nach Europa vorausgeschickt. Der Brahmane war so alt, hätten die Zahnaer sich erzählt (teilt mir Valentin Urban mit), dass man ihn, ähnlich einer scharfgebügelten Tischdecke, an den Falten seines Gesichts zusammenlegen und einstecken könne, wie ein großes heiliges Buch. Er soll dazu auch ein rechter Schalk gewesen und jede seiner Erzählungen durch mehrere Nebenfäden sonderbarster Art durchzogen und interessant gemacht haben. Aber Unsinn hörte man in Zahna schon immer gern, – und nun noch dazu, dass aus dem fernen Indien einer zu ihnen gekommen – in die Gegenden des Flämings. Sozusagen als Ersatz für mich, der ich in dem indischen Kontinent wanderte und das Buch suchte, fand und übersetzte, um es mitbringen zu können, gab er nun einige Possen ab.
Auf dem Schiff, dass den Mann nach Europa brachte, wollte sich der Inder mustergültig und ganz still verhalten haben, teilt Urban mit. Nur manchmal konnte man leise Mantras von irgendwo her aufsteigen hören, die der blinde Passagier wohl anstimmte, um sich die Langeweile zu vertreiben. Die Passagiere hätten sich gewundert, der Sänger aber hätte sich nicht zu erkennen gegeben. In unserer kleinen Stadt angekommen entfaltete der Jyotishi sich und nahm sofort wieder die Gestalt eines wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut an, sagten die Leute und nickten einander bedeutsam zu. Der Fremde brauchte nur wirklich sehr wenig zum Leben – ein paar Schlucke Wassers und das Licht der Sonne und des Mondes. Am liebsten ernährte er sich aber doch von der Strahlung, welche von den Sternen auszugehen pflegt- hätte er gesagt und dabei tiefsinnig gelächelt. Deshalb saß er nachts draußen unter dem bestirnten Himmel auf dem Kirchplatz zwischen den Grabmalen der hochwürdigen Personen Zahnas, die dort ihre Ruhestätte gefunden. Auf diese Weise lebte er mit den Leuten viele Monate lang, so erzählen sie sich – bis etwa drei Monate vor meiner Rückkehr im Jahre 1757 sich eines verhängnisvollen Tages jener sonderbare Zwischenfall ereignete. Und das, schreibt Urban, kam so:
„Der Superintendens Doctor Gottfried Jahn nämlich hatte offenbar selber damit begonnen, sich der Kunst der Sternenlichternährung zu widmen. Und wie jener indische Jyotishibrahmane ist er uns, den Einheimischen, darin auch eines Tages offenbar geworden. Er saß vor seinem Haus am ehrwürdigen Kirchhof im Garten, formte die Lippen seines Mundes zum OM und probierte den Schneidersitz vor dem Pfarramte, was seinen Knochen, die auch nicht mehr die jüngsten waren, Pein und Schmerz bereitete (aber das nur nebenbei). So ganz unbequem sitzend sann er nach. Über Muhurtas, Moksha und Purusha – und über das Leben im Allgemeinen und Besonderen. Über Gott und die Welt. Die Ergebnisse seines Nachdenkens kleidete er in schöne Worte, die er dann am Sonntag von der Kanzel aus vortrug. Es waren gute Worte – auch wenn sie von uns nicht immer verstanden werden konnten.
Seine eigentlichen von der Tradition vorgegebenen Dienstverpflichtungen nahm er dabei aber leider immer weniger ernst. Kamen etwa Kinder zu ihm und verlangten, in den herkömmlichen zehn Geboten unterwiesen zu werden, sagte er denen: „Ach, laufet lieber spielen!“ Kamen Menschen, um sich über ihre Mitmenschen zu beschweren, sagte er gar nichts – so dass diese Leute ratlos fortgehen mussten. Trachteten wieder andere danach, sich baldigst zu verehelichen und copuliert zu werden, riet er davon eher ab oder bestellte sie zu gänzlich ungelegenem Termin in seine Studierstube, die ganz absonderlich eingerichtet war und immer mehr mit seltenen Farben und Symbolen dekoriert die Besucher verwunderte.“
Bei alledem half ihm offensichtlich immer öfter der alte Jyotishi, dem nun von dem Herrn Superintendens sogar manche Aufgabe übertragen wurde. Etwa auch hier und da an einem Sonntag in Woltersdorf die Predigt abzuhalten oder eine Betbibelstunde mit den Bauern zu zelebrieren. Die Berichte, die mich über das Weltmeer erreichten lauten folgendermaßen:
„Es ging sehr lange recht gut und wir alle hatten das Paradies auf Erden. Nun trug es sich aber zu, dass eines Tages ganz unangemeldet der Herr Dekan zusammen mit dem Sprengelpropst in Zahna leibhaftig wurden und erschienen. Man hatte da in Vorbereitung eines bestimmten Jubiläums, das in der großen und hochberühmten Stadt Wittenberg stattfinden sollte, einen gemeinsamen Termin wahrnehmen müssen und bis zu einer weiteren Sitzung waren noch einige Stunden Zeit übrig geblieben, etwas anderes zu tun. Da sie beschlossen hatten, die Gelegenheit zum Spaziergange zu nutzen, ließen sie anspannen und waren hinaus ins Grüne gefahren, um an dem Zahnabache selbander zu lustwandeln.
Da es nun zu Mittag eine arg dicke Metzelsuppe mit Bohnen und viel Kerbel gegeben, wie wir hernach in Erfahrung bringen konnten, spürte der Herr Sprengelpropst ein menschliches Rühren und musste schleunigst einen gewissen Ort aufsuchen. Da war guter Rat teuer, denn die Gegend war ohne Deckung, kein Baum und kein Strauch in der Nähe. Aber der Dekan wusste Rat zu schaffen. Man gedachte im nahegelegenen Städtchen einzukehren, um hieroselbst das pfarrherrliche Toilettenhäuschen in Anspruch zu nehmen. Diese Stadt war unser Zahna … Ja, der Teufel selber oder irgend ein anderer übelwollender Dämon hatte es prompt so gefügt, dass die Kleriker gerade bei uns Armen im Flecken vorbei kamen. Und nun geschah das Folgende.
Unser Pastor, der Herr Superintendens D. Jahn war gerade in den Wald fort, um das Kraut Purvavalghuni zu suchen (bei uns als Schafsminze bekannt), und der Jyotishi war in die Kirche gegangen, um Druhpas und mantrische Verehrungen für Ganesha abzusingen, denn es war damals gerade der Geburtstag des Vran Pa Tadam und deshalb ein hoher Feiertag bei allen Hindus auf dem gesamten Erdkreise. Der Ganesha ist etwa das, was bei den Papisten unserer chrisztlichen Religion der Heilige Thaddäus bedeutet. Da zusätzlich Schulferien gegeben wurden, spielten vor dem Pfarrhaus ein paar Kinder das Graha-Bhava-Rashi-Spiel mit farbigen Holzklötzchen, wie uns unser Hirte zusammen mit dem Jyotishi gelehrt hatte – und was wir heute noch spielen. Heimlich!
In diese friedliche Situation mitten hinein platzten die zwei geistlichen Herren. Niemand wußte ein noch aus, zumal bei dem Sprengelpropst höchste Eile geboten und er sich emsig auf dem Pfarrhof nach dem Herzhäuschen umsah – es nicht finden konnte, was daran lag, dass man es ästhetischer Gründe wegen versteckt hinter einer Hecke aufgestellt hatte. Deshalb wohl befahlen die zwei Herren dem Inder (dem Heiden, wie sie ihn bei sich selbst immerzu nannten) in sehr barschem Tonfall, ihnen zu entdecken, wo denn der Pastor Loci sich gegebenenfalls aufhalte.
Der Inder sah die zwei „Gäste“ nun derart scharf an, dass es mir selbst durch Mark und Bein gegangen, – mir, einem der dasig hiesigen Kirchväter, Valentin Urban aus Zahna, der ich dieses alles niederschreiben lasse, um es Euch, verehrter Diakonus, zu berichten, da Ihr in Indien weilt, woher der Herr Jyotishi zu uns gekommen! ‚Wenn die Herren sich fünf bis zehn Minuten gedulden wollen‘ -, sagte der Jyotishi, ‚dann werden wir alle bald wissen, was zu wissen Not tut‘. Was nun geschah, hat zu zahllosen Legenden geführt. Ich aber berichte hier, wie es sich w i r k l i c h zugetragen hat, – war ich doch selbst Zeuge der ganzen Angelegenheit vom Beginn bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem mein Bericht stehen geblieben.
Der Inder breitete nämlich eine Palmblattdecke auf dem geharkten Kirchenvorplatz aus, entrollte ein langes Seil, das er in einem orangenen Beutel aufbewahrt hatte und versank in Stille und Betrachtung von etwas, das man nicht sah. Als die zwei Herren sich darauf ratlos anblickten, dann aber doch wieder nach dem Seil schauten, hatte dieses sich inzwischen kerzengerade aufgerichtet und ging direkt in den blauen Sommerhimmel hinein – mitten in die sogenannte Unendlichkeit hinaus. Jyotishi meinte nun, er wolle nachsehen und gleich mit der gesuchten Person des Superintendenti Jahn zurückkehren. Und er begann tatsächlich an dem Seil hinaufzuklettern – keiner von uns hätte das dem Alten zugetraut. Die zwei beleibten Herren sprangen entsetzt zur Seite, schnauften und grunzten vor Staunen und Anerkennung. Als aber der Jyotishi in der Unsichtbarkeit des flirrenden Sommerhimmels verschwunden war, meinte der Sprengelprobst: 'Das gibt’s ja gar nicht!' Er riß heftigst an dem Seil, zerrte grob daran herum und stieß dabei unappetitliche Laute hervor. Da, genau da! – gab es einen Ruck und das Seil stürzte zu uns in das Städtchen Zahna zurück. 'Na also', sagte der Dekan, 'so was ist doch immer alles nur großer Schwindel!'
Die Herren warteten noch ein Weilchen, benützten nacheinander unser Toilettenhäuschen ausgiebigst – und fuhren in jener Kutsche davon, die sie hergebracht hatte und welche von zwei Pferden gezogen wurde, die die ganze Zeit über sehr bedeutsam ausschauten. So, als ob sie dieses alles mit höherem Sinn verstanden und schon einmal erlebt hätten.
Die Sache hatte dann noch ein schlimmes Nachspiel: Das Kirchenamt gedachte nämlich, unseren lieben Superintendens Jahn nun seines Amtes zu entheben, er sollte nicht mehr in die Kirche gehen, um dort zu predigen und auch nicht mehr die Aufsicht führen über die Herren Geistlichen in den umliegenden Dörfern. Da aber der Delinquent bei deren Universität in Wittenberg als gar gelehrter Mann gilt, hoffen wir auf ein gutes Ausgehen dieser Sache, welche sich hier in Zahna zugetragen – hoffen auch auf Eure baldige Rückkehr, lieber Herr Diakonus Uschmann, aus Indien, denn wir entbehren Eurer in mancherlei Weise und auf der ganzen Linie.“
Soweit der Bericht Valentin Urbans an mich. Der Jyotishi freilich blieb verschwunden. Ich nehme an, dass das Ganze mit dem seltsamen Phänomen der Ringeinholung durch den weisen Guru Andraparvabath Vidurian, wovon ich in meinem Tagebuch weiter vorn bereits Bericht gegeben, zu schaffen hat. Denn Urban fügt seinem Brief an mich ein postscriptum bei, das folgendermaßen lautet:
„PS: Aber auch der besondere Ring aus Großmonra fehlt seit dieser Zeit, lieber Herr Diakonus Uschmann! Wir wissen nicht, wer ihn vom Kamine genommen. Ist er bei Euch in Indien? Habt Ihr das Kleinod entgegen Eurer sonstigen Gewohnheit doch mitführen wollen? Gebt doch Antwort, wie zu verfahren ist. Sollen wir den Stadtbüttel auf die Suche bei denen vorwitzigen Landstreichern und unliebsamen persones allhier, von denen es nach wie vor viele gibt und die immer mehr werden, in Bewegung setzen?
In tiefer und Eurer Rückkehr harrender
Ehrerbietung
bin ich
t r e s h u m b l e s
Valentin Urban
Kirchvater zu Zahna an der Zahne
gegeben am 24. Juno 1755”
Als Leberecht endet, sieht er Tränen in den Augen seiner Zuhörerschaft. Vielleicht hätte er diese Geschichte gar nicht vorlesen sollen? Aber er dachte doch, gerade mit dem Bericht aus der Heimat Uschmanns die Jildim Hakichabin zu fesseln. Nun saßen sie verstört im Wüstensand und diesmal gab es auch keinen Applaus. Sonderbar. Leberecht beschloss, bei günstiger Gelegenheit Ibn Jesus in dieser Sache zu befragen. Eine einzige Vorlesung galt es morgen noch zu bestehen - dann wollte Leberecht zur Konklusion schreiten und den Grund seines Glaubens unwiderlegbar erklären.
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