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Leberecht klärt über die Kraft der Bücher auf
Leberecht Gottlieb (93)

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93. Kapitel, in welchem wir zu ahnen beginnen, dass es die sogenannte Realität gar nicht dergestalt geben kann, wie wir es uns alltäglich bisher vorstellen. Sondern alles ganz anders ist - und die Bücher unser Leben lenken und leiten und es darauf ankommt, dass wir Gutes erfinden, schreiben und erinnern und das Schlechte nur beschreiben dürfen, um es vergessen zu wollen ...

Nun werdet ihr mich fragen, begann Leberecht Gottlieb, was die sechs langen Lesungen aus meiner alten Seminarsarbeit damit zu tun haben, dass ich von mir behaupte, in mir sei so etwas wie ein unerschütterliche Glaube vorhanden? Vielleicht habt ihr aber bereits selber bemerkt, und würdet es auf jeden Fall bemerken, wenn ich über ausreichend Zeit verfügte, Euch mein gesamtes bis dato verstrichenes Leben zu erzählen, dass ich in all den Dingen, die mir geschehen, immer wieder auf ganz bestimmte Muster verfallen bin, welche alle eine ähnliche Struktur aufzuweisen scheinen. Ihr merkt wie vorsichtig ich mich ausdrücke, denn ich weiß es selber nicht, jedoch ahne ich es.

Ich meine die Fußtapfen von Menschen, die vor uns waren, und welche Zeit ihres Lebens Büchern auf der Spur sind oder es waren. Und diese Bücher handeln allesamt von sehr sonderbaren Angelegenheiten, welche sich thematisch um Gott und seine unsichtbare Welt drehen. Ich selbst zum Beispiel suchte Jahrzehnte lang Dankreithers Buch „Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius”. Ich hatte als junger Mann nur wenige kopierte Seiten kennen lernen dürfen. Bei der Oasis Siwa jedoch im hause der damals noch lebenden Totenbeschwörerin fand ich scheinbar eines der wirklichen Originale, das viel mehr Inhalt enthielt, als ich bisher zu hoffen versucht hatte. Und hier bei Euch finde ich einen Brief jenes Uschmanns aus Zahna, über den ich bereits meine erste wichtigere wissenschaftliche Arbeit als junger Student geschrieben habe. Und er schreibt an Dankreither, dessen Buch ich nun besitze. Diese Männer alle beschäftigten sich mit den Sternen und Planeten - und auch ich begann sehr früh in meinem Leben denen zu folgen und bin Zeit meines Lebens von ihnen begleitet gewesen. Denn meine Mutter lehrte mich sehr früh das Lied von von dem spätbarocken evangelischen Pfarrer und Dichter Wilhelm Hey "Weißt du, wieviel Sternlein stehen?" In allen diesen Schriften waltet eine Kraft und enorme steuernde Intelligenz, die sich nicht beschreiben lässt - und wenn man sie beschreibt, dann verschwindet sie eher, um ihre Kraft zu verbergen. Aber stets und immer wieder, wenn man sie vergessen hat, zeigen sie eine leuchtende Spur, auf der man folgen könnte. Ihre Welt belohnt den, dem sie sich entzieht - und äfft den, dem sie sich zeigen sollen muss. Sie neckt uns, die wir ihr unser ganzes Leben schenken wollten - und lässt zugleich in allen möglichen Geschichten von sich dermaßen überzeugend erzählen, dass wir ihrer Wahrheit nimmermerh entrinnen können. Beweisen kann man die Existenz dieser Welt nicht - und dafür ist sie selbst der Beweis. Ich musste solange von ihr erzählen, damit ihr glaubt, dass ich glaube, dass es da weit drinnen - so dass es aussieht, als ob es weit draußen sei - etwas gibt, was solange wahr bleibt, solange es seine Wahrheit nicht in der Art und Weise gibt, wie es alles andere zu geben scheint. Versteht ihr das? Was ich allerdings wirklich glaube, das kann ich nicht erzählen. Es zeigt sich inmitten unter uns - in jedem anders, und dadurch entsteht das, was wir die Zeit nennen, die Dauer, den Raum und den Sinn.

Es war still geworden. Einige nickten, andere standen auf und verließen den Platz. Leberecht merkte, dass nur wenige ihn verstehen wollten und erinnerte sich an den heiligen Paulus auf dem Areopag, der nur die Herzen des Dionysios und der Damaris erreichen konnte. Da trat Ibn Jesus auf ihn zu und bat darum, dass Leberecht noch diesen einen Brief Uschmanns an Dankreither vorlesen möge. Er selber könne es nicht und hätte ihn noch nie gelesen, denn die Schrift sei schadhaft und wohl vom Regen hie und da verwaschen. Aber er und sein Volk - zumindest die Interessierten - wären im dankbar, wenn sie diesen Schatz auch einmal nicht nur mit fragenden Augen betrachten, sondern auch hören dürften. Er zog eine Papyrusrolle hervor und Leberecht setzte sich und las. Er versuchte es zumindest. Das, was er entziffern konnte, lest ihr in den folgenden Zeilen: 

Lieber Dankreither,
lange habe ich nichts von mir hören lassen, aber sei Dir gewiss, gearbeitet habe ich die vergangenen Monate wie ein Vieh. Ich sichte, ordne und lese, paginiere und bilde täglich neue Akten hier in der Rambertibibliothek. Dir jedoch sende ich nur das, was irgendwie (und sei es auf entfernteste Weise) mit den Sternen zu tun hat. Obwohl auch allerlei magische Schriften und alchimistischer Krimskrams hochinteressant wäre, ihn zu dir über die Alpen expedieren zu lassen, will ich nur das Ergötzlichste darbieten. Heute erreicht Dich Seidels Übersetzung eines Traktates von Pseudogregorius Thaumaturgos. Es geht dabei u.a. um Aktaion, den Waldhelden, aus dessen Erzählungsstoff später die Hubertuslegende gebildet worden zu sein scheint. Viel Freude mit diesem Kleinod wünscht Dir Dein getreuer Bruder im Licht
Uschmann.

Aktaion nun, Teuerste, ist nicht etwa nur irgendwer gewesen, sondern war ein Enkel des musenführenden Gottes Apollon und ein Vetter des großen Dionysos. Zuerst - wie wir alle noch ein unschuldiger Knabe - erleidet er am Ende seines Lebens trotzdem ein schlimmes Schicksal. Und dieses, ohne schuldig geworden zu sein. Denn welche Schuld lüde einer auf sich, der, um den Seinen Fleisch zu erjagen, mit Pfeil und Bogen oder der Armbrust durch die Wälder streift, wie Aktaion es eben tat. Keine Schuld trifft ihn seines Handwerks wegen, das die Jagd gewesen ist. Jedoch auf einen Umstand müssen wir doch unser Augenmerk legen: Denn Aktaion, der berühmte Jäger, jagte eigentlich nicht um der Erlegung des schmackhaften Wildbrets wegen, sondern um der Jagd selbst willen suchte er das Dickicht auf. So etwa, wie die Künstler der Götter halber ihre verschiedenen Tätigkeiten treiben, durch welche die selig Schreitenden dann dargestellt und vergegenwärtigt werden können, durch den Bildhauer etwa in hölzernen oder mehr noch steinernen Tempelstatuen, durch die Maler in trefflichen Ikonen, bei den Sängern mit unvergleichlichen Harmonien und im Reigen der Tänzerinnen vermittels deren überaus betrachtungswürdiger Anmut, – so also jagte Aktaion nach etwas, das sich vor dem Menschen, der die Wildnis verlassen musste, scheu verbirgt – das ist das Wild, jedes nach seiner Art. Er jagte um zu jagen. Und deshalb müssen wir sehen, wie Aktaion immer dann, wenn er jagte, in jenen tierhaften wilden Zustand zurückzufallen drohte, dem er als Mensch eigentlich doch bereits entronnen sein wollte. Dieser immer wieder geschehenden Rückkehr in etwas bereits Überwundenes wegen ist Aktaion dann selber zum Wild geworden. Auch hier wäre es falsch, von einem Fehler des Helden zu reden, – aber dass darüber geredet werden muss, ist den aufmerksam Lesenden sicherlich klar. Für solche gibt es eines Tages kein Halten mehr, – wie jeder von uns irgendwo und auf irgendeine Weise das verloren gegangene Paradies sucht, so auch unser unglücklicher Bruder Aktaion. Unglücklich deshalb, weil er zwar fand, was er in seinem dunklen Drang immer hatte finden wollen – nämlich die Göttin Artemis selbst, die bekanntlich dem Kreislauf von Zeugung, Geburt, Alter und Tod nicht unterworfen zu sein scheint, da sie doch, ewig jungfräulich bleibend, zusammen mit ihren Gespielinnen, hin und wieder auch in Gesellschaft treuer Hunde, durch die Fluren schweift, dabei mit Leoparden und Hindinnen spricht, mit Löwen und Hirschen Gemeinschaft hat – und sich beide, Gott und Tier, nicht im mindesten Schaden zufügen, sondern sich aneinander stets erfreuen und gegenseitig achten. Diese Frau fand der Held, – was sage ich denn – diese Göttin fand er, – aber brachte es ihm Glück oder Unglück? Hört deshalb, Teuerste und Gefährten, welche Geschichte sich zutrug.

Als Aktaion auf der Suche nach der besonderen weißen Hirschin auf einer verschwiegenen Lichtung inmitten des Waldes anlangt, sieht er, wie dort unter einem gewaltigen Felsvorsprung sich im Laufe der Zeit ein Teich gebildet hat. Aber nicht nur das, sondern er sieht auch – “zufällig” wird man später einmal sagen, wir aber wissen, dass entweder ein missgünstiger Dämon oder aber der höhere Ratschluss der allesdurchwaltenden Moira unentrinnbar alles gefügt hat – sieht er also die im Teich sich badende Göttin Artemis, wie jene von ihm Verehrte ihren makellosen Leib im Schauer des über die Felsen wallenden Wasserfalls erfrischt. Da nun die Göttin ihrerseits den Jäger gewahrt, besprengt sie ihren unfreiwilligen Betrachter mit einigen Tropfen des Bergbaches und ruft ihm die geflügelten Worte zu: “Aktaion, lauf und erzähl den Gefährten, wen du gesehen. Wenn du es kannst!” Die weitere Geschichte ist allen bekannt, – noch im entsetzten Davonstürzen überzieht sich die Haut des Jünglings mit pelzigem Fell, aus der Stirn erwächst ihm das mächtige Geweih eines Waldbewohners, er sinkt auf die Hufe und eilt als jener Hirsch weiter, welchen er selber eben noch verfolgt hatte. Seine Hunde rufend, zwingt er den eigenen Untergang herbei, denn das bellende Rudel erkennt seinen Anführer schon nicht mehr, stürzt sich auf ihn, beißt und reißt. Und als der zum Tier Gewordene mit Hilfe der Sprache Einhalt gebieten und zur Ordnung rufen will, entrinnt sich der Kehle des Verwünschten kein einziges menschliches Wort mehr, nur das raue Brüllen eines Hirsches dringt daraus hervor und bringt die ehemaligen treuen vierpfotigen Begleiter nur noch mehr gegen sich auf. Aktaion stirbt.

Teuerste, warum wohl straft die Göttin ihren Verehrer dermaßen hart? Einige haben nun behauptet, das Aktaion die Göttin Diana gar nicht gesehen habe, sondern dass er, ermattet von der tagelangen rastlosen Jagd, wahnsinnig geworden und seinen Hunden befohlen habe, seinem rastlosen Treiben endlich, endlich ein Ende zu bereiten. Und jene vierbeinigen Freunde hätten ihrem Herrn gehorcht. Da dieser den Hirsch so überzeugend hatte nachahmen können, vermochten sie auch, ihn zu zerreißen. Viele ernstzunehmende Gelehrte der alten Zeit beachten diese Vermutung nun nicht sonderlich, sondern halten sie für Unfug. Trotzdem ist aber ein Fünkchen Wahrheit auch in jedem Unfug enthalten, wenn anders ja nichts existieren kann, ohne Anteil zu haben an der ewigen Wahrheit, am meisten aber der Unfug! Kann es nicht sein, so frage ich euch, Carissimi, dass unsere Leidenschaften, ohne die wir gar nicht sein können und auch nicht sein mögen, aus der Suche die Sucht werden lassen, und uns am Ende mehr oder weniger von der Erde fortnehmen heißen, indem sie den einen sanft entschweben lassen, den anderen grob dahinzufahren zwingen, wie Aktaion, wieder etliche einfach sich aus dem Gesichtskreis der Welt entfernen, ohne dass man sonderlich viel von ihnen noch erfährt? Aktaion jedenfalls ist nach seinem schauervollen Ende unter die Sterne entrückt worden, dafür sorgten seine göttlichen Verwandten. Von dort, dem Sternbild Canis Maioris, wo der helle Hundsstern Sirius erstrahlt, grüßt er alle diejenigen von uns, die ebenfalls wie er auf eine übermäßige Weise nach etwas suchen, forschen und jagen, indem er uns zuruft: “Seht zu, dass das, was ihr zu erjagen sucht, am Ende nicht euch selber überwindet!”
Einerlei, – lasst uns nunmehr, Teuerste, einen angenehmeren Schluss für die blutrote Szene dort draußen im wilden Walde ersinnen und sie in die Welt hinaus tragen. Ist doch die Antike von der freundlicheren Botschaft des Neuen Weges ihrerseits überwunden worden, aber nicht wie Aktaion von seinen Hunden, sondern wie der Tod von der Liebe Christi in seiner Auferstehung, die alles Mögliche zwar zulässt, nicht aber alles billigt, jedoch schließlich jedes auf ein Gutes zustreben lässt. Aktaion solle also, auf diese Weise würde sich alles ausgleichen, bei seiner rastlosen Suche nach dem weißen Hirsch denselben im Walde antreffen, so wie er plötzlich der Artemis gegenüberstand. Der Hirsch aber nähme dem Jäger nicht übel, von ihm betrachtet zu werden, er würde sich nämlich mit menschlicher Stimme gar bald an ihn wenden. Das Zusammentreffen zwischen dem rastlosen Jäger und dem göttlichen Tier wäre ein Anlass dafür, sich miteinander darüber zu verständigen, was angesichts der Tatsache, dass der eine noch wild ist (nämlich Aktaion), der andere aber nicht mehr nur wild zu sein braucht (der prächtige Hirsch), zu beginnen wäre. Etwa könnte eine Kapelle aus schimmerndem Marmorstein mitten im lichtgrünen Walde errichtet werden, in welchem Sakralbau die Suchenden Wichtigeres fänden als sie ursprünglich suchten, indem sie zu sich selbst geführt würden. Was Aktaion dann übrigens auch ins Werk gesetzt hat, mit der Hilfe des Bildes vom herrlichen Hirsch, der ihm bei der Verrichtung des Opus voran schwebte wie ein Kreuz, das man auf die Stirne gezeichnet bekommen hat, welches Zeichen man zwar nicht sieht, aber es um so mehr immer spürt. Mit seinen Jagdgenossen und Gefährten kam Aktaion dann oft hierher in den kleinen Tempel und den ihn umgebenden Park, – um sich dort jene Geschichten zu erzählen, die nicht vergessen werden dürfen, weil sie uns bei aller Jagd nach so vielen Dingen, die wir brauchen, noch mehr aber eigentlich nicht brauchen, friedvoll stimmen und zugleich zum überlegten Handeln anstiften.

Leberecht pausierte mit seiner Lektüre und schaute auf. Der Chinese war noch da, Ibn Jesus und der Knabe, der immer das Glaubensbekenntnis der Jildim Hakochabim rezitierte. Die anderen waren alle verschwunden. Wohl weil sie ihrer Arbeit nachzugehen hatten, oder weil sie inhaltlich längst ausgestiegen waren - was wir im Blick auf Dich, lieber Leser, natürlich ausschließen wollen

Lieber Dankreither,
denke Dir doch bitte Folgendes aus! Seidel hätte den ganzen Ovid in seinen Metamorphosen selber sozusagen noch einmal nachkomponiert, indem er den Sinn dieser vorzüglichen antiken Geschichten in den windstilleren Hafen der christlichen Dogmatik heimgesucht hätte? Oder sollte jener bis dato fast unbekannte Kirchenvater Gregorios Thaumaturgos bereits eine solche transformatio vollendet haben … denn Seidel will uns glauben machen, dass es sich so verhielte, und er selber nur der demütige und begnadete Übersetzer gewesen sei. Ich will fast nicht daran glauben und werde besser von Pseudogregorios sprechen, weil ich denke, kein anderer als unser hochverehrter Seidel ist der Verfasser gewesen! Ich komme hier in dieser damals jämmerlich abgebrannten Pfarr-Bibliothek aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, und sende Dir heute eine weitere sehr lehrreiche Geschichte. Dieses Mal wird es um Pygmalion gehen und um seine Braut Galataia. Du kennst jenen armen Bildhauer, der sich eine Puppe schnitzte, die eines Tages zu leben begonnen hatte, worauf der Künstler sich mit ihr vermählte und glücklich wird. Seidel also übersetzt Gregorios oder wird selber zum Pseudogregorius auf folgende genialische Weise:

Wer, Brüder, wäre nicht auf´s Äußerste angerührt von der Geschichte um Pygmalion, der, obwohl von königlicher Abstammung, ein armer und zurückgezogen lebender Bildhauer gewesen sein soll, welcher in Zypern seine Heimstatt hatte. Seine Abneigung Frauen gegenüber betreffend widersprechen sich die Berichte, manche überliefern, einige Frauen hätten ihn der Größe seines Geschlechts wegen verspottet, andere erzählen, er habe sich zuerst nur den Propoetiden entzogen, sei dann aber vollständig zum Misogyn geworden. Wie dem auch sei, der Künstler entwich in die Berge und kam nur ein oder zweimal im Jahr zum Markttag nach Kythreia, um seine Figuren zu verkaufen. Auch Werkzeuge fertigte er an, sei es aus Holz oder Stein, manches auch aus Bronze, wieder anderes aus Eisen. Die Bergeinsamkeit machte aus ihm mit der Zeit einen einsamen Mann und ohne dass er es recht bemerkte, entstand unter seinen begnadeten Händen im Laufe der verstreichenden Jahre die Statue eines Weibes, wie man ein solche schöner nie gesehen und welches der cyprischen Göttin wie ein Ei dem anderen glich; wenn dieses zu behaupten ich mich wohl fast scheue, denn oftmals schon folgte solchen Behauptungen der Neid der selig Schreitenden auf dem Fuße und nicht das Allerbeste ward denen zuteil, die sich mit denen auf wolkigen Höhne verglichen, oder durch andere, ohne dass sie es selber wollten, auch nichts dagegen tun konnten, mit den Vollendeten auf eine Stufe gesetzt wurden.
Pygmalion in seiner verzweifelten Einsamkeit bat an einem dieser erwähnten Markttage die Göttin der Insel Aphrodite, es möge sich doch irgendeine auch für ihn finden, welche genau so beschaffen sei, wie das figürliche Kunstwerk, an dem er nun bereits seit Jahren arbeite, das er aus Elfenbein gemacht hatte, dem er Blumen und Leckerbissen schenkte und auf seinem Lager dicht neben sich ruhen ließ. Die alte Göttin war darüber so entzückt, dass sie des Bildhauers Pygmalion sehnlichen Wunsch erfüllte. Als er nämlich nach Hause kam, wartete dort auf ihn nicht mehr ein totes Elfenbeingebilde, sondern eine wirkliche Frau, die ihm von Herzen zugetan war, ihm die Freuden des Bettes bescherte, eine Tochter gebar, die Wäsche wusch, das Essen bereitete, die Hütte in Ordnung hielt, – was sie aber am meisten tat, war dieses: Bei all dem, was sie tat oder ließ, war sie einfach immer nur schön!
Carissimi, – was hat uns, die wir als Spätere dem Weg des gekreuzigten und auferstandenen Gotte folgen möchten, diese uralte Erzählung zu sagen? Zuerst, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollen, unsere Wünsche würden eines Tages doch auf unglaubliche Weise erfüllt. Zum Zweiten, dass wir uns nicht fürchten sollen vor dieser kommenden Erfüllung. Denn es weht ja so oft ein ängstlicher Hauch durch die Welt der Alten, wo sie sagen: “Wen die Götter strafen wollen / erst Erfolg senden sie denen!” Ist das nicht wahrlich ein böser Satz, der in der Geschichte der Menschen viel Schlimmes angerichtet, und noch weit mehr Gutes verhindert hat? Zum Dritten aber lernen wir, wie lange es oft dauert, bis wir dasjenige, was wir lieben, zum wirklichen Leben erweckt sehen, und wir uns deshalb in Geduld üben sollen. Zum Vierten und Letzten wird uns gezeigt, dass auf dieser Welt nichts tot ist, sondern offenbar nur darauf wartet, durch unsere Bitten und auf das Worte eines Gottes hin lebendig werden zu dürfen – für uns, die wir solches demütig begehren. Teuerste, – schon auf den ersten Blick spüren wir doch überdeutlich, wie diese Erzählung von außerordentlicher Wichtigkeit für uns alle ist, denn Hoffnung, Furchtlosigkeit zum Wunsche, Geduld und die Freude daran, um Lebendiges zu bitten, das sind bedeutsame Tugenden, auf deren Erlernung es tatsächlich ankommt. Um wieviel wichtiger ist dann aber noch zusätzlich das, was wir anderes noch lernen können von Pygmalion und Galataia, denn so lautet der Name des herrlichen Weibes, welches nun aus Fleisch und Seele durch das Haus Pygmalions wandelte, vorher aber nur von Elfenbein ein stehendes Bild gewesen war. Denn wir fragen uns natürlich, wie die Seele in das lebend gewordene Bildwerk von Elfenbein hineingekommen sein könne … Ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass dieselbe Seele in dem leblosen Elfenbein nur geschlummert habe? Nein, sie ist auf einem besonderen Wege in das Elfenbein gefahren, wovon nunmehr die Rede sein soll. Vorher aber noch dieses: Einige der Alten meinen, die Seele der Galaitea sei auf Befehl der Göttin Aphrodite in das Bild geschlüpft und dirigiere von Innen das äußerliche Kunstwerk genauso etwa, wie ein böser Dämon seinen von ihm Besessenen, – in diesem besondern Fall aber nun eben als guter Geist ein überaus angenehmes Bild. Es möchte doch aber eher so scheinen, dass unter der Kunstfertigkeit Pygmalions das Material aus dem Zahn des Elefanten selber eine Seele ausgebildet hat, weil dasjenige, was so aussieht wie ein Mensch in gewisser Hinsicht tatsächlich auch einen Menschen vorzustellen erlaubt und damit realiter Mensch wird, – dann nämlich, wenn ein Gott seine Zustimmung dazu geben will, wie es hier in unserem Falle durch das Ja der schaumgeborenen Cypris unzweifelhaft geschehen ist. Und noch etwas kommt hinzu! Freunde, – das Elfenbein spielt eine nicht geringe, weil alles erst ermöglichende Rolle. Hat doch der Zahn des Elefanten viele Jahrzehnte das kräftigste Tier gleichsam als Richtungspfeil und Wegweiser alle seine Pfade gelenkt, – und es ist so gewiss geworden, dass dorthin, wohin der Zahn weist, das mächtige Tier auch seinen nächsten Schritt lenken würde. Deshalb ist es sehr bedeutsam, wenn Pygmalion nicht das Holz einer Linde oder Eiche, nicht verflüssigtes Erz, noch weniger den spröden Marmor wählte, als er seinen Gedanken Form verlieh, auch nicht den willenlosen und schlüpfrigen Ton sich erkor, sondern nur dieses besondere und edle Material aus den schneeigen Zähnen jener Tiere, welche bereits die Königin Saba tragen durften, als dieselbe zu dem weisesten aller weisen Könige wallfahrtend reiste – nämlich zu dem Sohn des Königs David Salomon, dessen faire Urteile überall auf dem Erdkreis bekannt geworden sind.
Nun wird von Pygmalion berichtet, dass er niemals Elfenbein für andere Werkstücke verwendet habe, nur für seine Galataia wählte er die schimmernde Pracht. Er war sich nämlich sicher, dass im Holz eines gefällten Baumes, im erstarrten Erz einer gegossenen Statue oder im gebrochenen Kalkstein die menschliche Seele weit weniger gern hause als eben im Elfenbein. Wie nun das, wird man fragen müssen? Was ist ein toter Zahn eines toten Dickhäuters denn viel anderes als ein toter Ast vom abgehauenen Baum? Ja, da zeigt sich gleich der Tor in seiner Unterscheidung vom sinnenden Weisen! Einige gehen sogar soweit zu behaupten, das Wunder der Verwandlung sei gar kein Wunder. Die Herzen derer, welche so etwas behaupten, sind missgünstig und drehen die ganze Sache um, – sie behaupten, Pygmalion sei im Laufe seiner einsamen Jahre selber immer mehr erstarrt, so dass es ihm am Ende gar nicht schwer fiel, ein totes Bildwerk für lebendig zu halten, weil er selbst dem Tode gleich geworden und völlig erstarrt war, wie das Elfembein seiner Phantomgeliebten. Solche cynische Behauptung ist natürlich vollkommener Unfug und wir sehen an dieser Stelle wieder einmal, wie so gänzlich ohne Freude die verderblichen Spötter sind. Und noch dazu ganz ohne Lust, das Vorteilhaftere und Schönste zu denken.
Wir wenden ums voller Schaudern von ihnen ab und wollen uns mit unserem Nichtwissen einstweilen zufrieden geben und Vermutungen wagen. Es sind diese Zähne den Tieren, welche sie zu tragen aufgebürdet bekommen haben, wirklich zu nichts nutze. Das Gewicht der beiden Zähne vorne im Gesicht der Dickhäuter ist beträchtlich und zwingt die Tiere immerfort dazu, das Haupt eher gesenkt zu halten. Pygmalion, der als Königssohn selber erfahren hatte, was ein vor Scham gesenktes Haupt bedeutet, nahm sich wohl ganz bewusst dieser abgetanen schweren Lasten an und gestaltete daraus eine auf Belebung ausschauende Gestalt, nämlich die eines liebenswürdigen Weibes. Was er damit tat war, durch Kunstfertigkeit und erlernte Fähigkeit wandelte, was die makabre Nachlässigkeit der kreaturenbildenden demiurgischen Naturkraft gedankenlos erschaffen hatte, in etwas Erhabenes um. Als er sein Werk vollendet hatte, vollendete er es vollkommen, als er die Göttin des Ortes bat, ihm ein Weib wie diese Figur zuzugesellen. Er bat ausdrücklich nicht darum, dass die Elfenbeinfigur in ein Weib verwandelt würde. Nein, er bat darum, dass er in höherem Grade etwas fände, was er aus dem niederen Elfenbein angefertigt hatte. Und die Göttin der Insel wählte prompt den ihr offenbar einfachsten Weg sich selbst zu beweisen und erweckte die bereits vorhandene Elfenbeinfigur kurzerhand zu einer wirklichen Person aus Fleisch, Blut und Seelenkraft.
Carissimi, – ist das nicht ein Fingerzeig darauf, was auch wir als Befürworter des Neuen Weges gerne glauben möchten? Ja, – dass Mensch und Gott zusammenwirken können, ohne dass der Mensch dem Gott bestimmend zuvorkäme – oder der Gott dem Menschen die Freiheit zum eigenen Wollen im Voraus genommen hätte!
Lasst uns nun aber von dem Königssohn Pygmalion unsere Blicke hin zu dem Gott lenken, der als Sohn eines jüdischen Handwerkers über die Erde gegangen ist. Gleicht dessen irdisches Lebenswerk nicht demjenigen Pygmalions, welcher das wahrhaft liebenswerte Frauenbild erschuf, und sich dann auch der Belebung seines Werkes freuen durfte, wenn er seine mit ihm wandernden Schüler vermittels seines Wortes wie mit einem Werkzeug formt und ihrem Geist eine neue Gestalt gibt? Mehr noch, – bildet nicht Christus in sich selbst einen neuen Menschen aus, jenen Typos, der von einem an Wahnsinn grenzenden Vertrauen geleitet wird, von dessen Kraft vorher noch nie etwas vernommen worden ist? Und bat dieser Gott Vater nicht ebenso wie jener die Cypris, indem er sich selbst für das Experiment und Exempel der Wiederauferweckung eines Menschen nach scheußlichsten Qualen – wie hätte da ein Vater widerstehen können? Was macht man mit einem der sich redend in Elfenbein verwandelt hatte … Wie hätte denn Gott mit eigener hinter der Tat seiner Dienerin Aphrodite zurück bleiben können, welche den Zahn eines Tieres in ein Prachtweib verwandelte, so wie er seinerzeit die Rippe eines Weibes zum Manne formte? Und ist nicht, wie die Schrift selber sagt, der Jünger, wenn er vollkommen ward, zwar nicht größer als sein Meister, aber so wie der Meister? Muss also der Meister nicht mindestens genauso vollkommen sein, wie seine beste Schülerin?
So lasst also auch uns allezeit nach dem köstlichen Elfenbein streben, nicht als nach toten Zähnen, sondern nach einer Substance, die belebt werden kann, wenn wir unser Bestes gegeben haben und ein Gott es will. Lasst unsere Wünsche und unser Können darauf gerichtet sein, ob der HERR nicht selbst unsere zuerst immer meist leblos stehenden Werke gnädig anschaue und ihnen das noch dazu gebe, was sie lebendig macht.

Soweit, lieber Dankreither, Seidels Übersetzung des Traktates von Thaumaturgos. Du fragst nun sicherlich und berechtigt, was das alles mit den Sternen zu tun habe, denn ich versprach, Dir nur das zum Lesen zu senden, was im Entferntesten mit der Lichterwissenschaft zu tun habe. Eigentlich hat dieser Text von Pygmalion nicht mit den Sternen zu tun. Da hast Du wohl recht. Aber die Sache ist natürlich anwendbar auf jede unserer Lieblingsleidenschaften. Indem wir zum Beispiel Horoskope berechnen und deuten, schnitzen wir da nicht aus Totenbein ganz neue lebendige Bilder? Lass sie uns nur recht gut zubereiten, so dass, würde ein Gott vorbeigehen, er sie gern zum Heile für möglichst Viele beleben möchte und unsere Bilder gute Werke schaffen heißt.

In großer Nachdenklichkeit schreibt Dir das Dein alter Freund vom Berge – Uschmann

--

mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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