ANDERS SAGEN - ANDERE ERREICHEN
Leberecht Gottlieb (93b)
... ein weiteres Sonderkapitel, das uns berichtet, warum Leberecht Gottlieb eines Tages um ein Haar keine Lust mehr hatte, sein Pfarramt zu versehen und fast vorzeitig den Ruhestand angetrat - in Sonderheit hören wir von dem Event: „Anders sagen - andre erreichen ...“
Leberecht riss also irgendwann doch einen dieser Briefe aus dem Kirchenamt auf. Es war jenes Schreiben, dass er wie die anderen der letzten drei Jahre alle auf den großen Stapel abgelegt und den Briefbeschwerer obenauf getan hatte. Wir erinnern uns - er pflegte des Mittagsschlafes, doch der Turm jener sich angesammelt habenden ungelesenen Briefe war umgestürzt und von dem Getöse und Gepolter des bronzenen Beschwerers auf den Holzdielen der Amtsstube war der Geistliche aus dem Schlafe gerissen worden. Und dieser Schreck hatte ihn irgendwie benommen gemacht, so dass er - entgegen seiner Gewohnheit - dieses letzte Schreiben nun doch öffnete.
Wir nun sehen ihn jetzt nach der Lektüre des Briefes. Sehen, wie Leberecht minutenlang den armen Kopf hin und her wiegt. Nein - er war es leid. Kurz vor der Pensionierung also noch das! Alle sollten bei diesem unseligen Projekt „Anders sagen - andre erreichen“ mittun. Und er selber also ebenfalls! Wie er solche Dinge hasste. Die Hüpfburgen, Kampagnen, Festchen und Events. Einer der Berater, die der Kirchenkreis - um „einen neuen Anfang zu wagen“ - für viele teure Euros dachte engagieren zu müssen, hatte während eines PeerGroupMeetings solche Sätze gesagt wie: „Wenn das Catering stimmt, wird ein Event daraus!“ Stimmt zwar, - Jesus hat mit ein paar Brocken eine Menge Leute satt gemacht, wovon heute noch erzählt wird. Aber das war eben Jesus - und nach ihm kam dann die Kirche, die spätestens heute in große Nöte geraten ist.
Leberecht wunderte sich aber bereits seit Langem über nichts mehr. Während der vielen Termine mit Lenkungsgruppen und Teams hatte er während der Vorbereitung des Lutherjubiläums im Jahre 2017 bereits schon viel auszuhalten gehabt und noch mehr erlebt. Vor allem - alle lachen da immer so laut und lange. Dieses alberne Kreischen und Gejohle, besondern bei den sich hyperintellektuell gebender Frauen … Leberecht denkt in solchen Augenblicken bei sich selbst: „So werden sie einmal brüllen, wenn der Höllenfürst sie zur letzen Fahrt einlädt.“ Und dann visualisiert er vor seinem geistigen Auge die linke Seite der Empore in der vor Kurzem erst herrlich restaurierten Barockkirche zu Plötnitz. Denn da reißen die zum Jüngsten Gericht Verdammten das verzweifelte Maul genauso weit auf und zeigen ihre Zähne wie die kribbelbunten Schwestern im Christmum-Magazin.
Also - was wurde in dem kirchenamtlichen Schreiben verlangt? Die Gemeinden sollen ein Projektpapier abgeben zum Thema ANDERS SAGEN - ANDERE ERREICHEN. Dieses würde dann von irgendwelchen quotierten Kommissionen evaluiert - und bei gelungener Durchführung als "best practice" später honoriert. „Vielleicht“, lacht Leberecht grimmig, „bekomme ich dann sogar den Wichern-Preis?" Dieser Wichern-Preis war kürzlich von den vereinigten Landeskirchen für besonders innovative Projekte ausgelobt worden. 5.000 Euro hingen dran. Mit dieser Summe konnte man schon eine kleinere Weltreise unternehmen, dachte der an der Schwelle zum Ruhestand stehende Geistliche. Oder gar den Athos besuchen! Denn nach dorthin wollte er doch schon immer!
Leberecht Gottlieb ist fast 66 Jahre alt. Er setzt sich am Abend in den alten Ledersessel seines Urgroßvaters Johann George Gottlieb, der seinerzeit einen kleinen Band mit Feld-Predigten herausgegeben hatte, die samt und sonders im Kugelhagel der Jahre 1916-17 gehalten worden sein sollen. Die Schriftstellerei liegt der alten Pastorendynastie der Gottliebs im Blute. Leberecht öffnet den Füllfederhalter - er schrieb damals einer persönlichen Marotte wegen (Stichwort Maschinenstürmerei) wieder mit wirklicher Tinte - und beginnt. Dicht nebenbei kreist eine alte Schellakplatte mit Wagnerovertüren. Die vom Rheingold ist die beste. Alles beginnt mit diesem enorm tiefen "Es." Dann türmen sich Takt für Takt Quinten und Terzen aufeinander. Es ist eine wahre Lust. Das kann er immer wieder hören! Wie von selbst fliegen Leberecht die Gedanken zu. Und fast unheimlich fügt sich Zeile an Zeile - Seite für Seite. „Ein Projekt wollen die haben? Ein Drama werde ich Euch erschaffen!" denkt sich der alte Pastor. Und die Spielenden sollen zugleich die Gespielten sein. Niemand anderes ist gemeint als die Gemeinde der ungläubig Gläubigen bzw. gläubig Ungläubigen, deren Gemeinschaft zugleich lebt und erlebt, wie sie eigentlich gar nicht mehr oder nur noch halb am Leben ist. „Puppet-Service“ wird Leberecht es nennen: Puppengottesdienst. Folgendes schwebt ihm vor:
Es würde ganz normal zu einem Gottesdienstbesuch eingeladen werden. Aber - und das ist der Unterschied: Zu einem besonderen Gottesdienst. GOTTESDIENST ANDERS. Oder DER ANDERE GOTTESDIENST. Oder: SONNTAGSGLÜCK. Da muss er noch nachdenken, wie das heißen soll ... Jeder muss (das wird vorher ausreichend zu kommunizieren sein) irgendeine Puppe mitbringen. Meinetwegen auch nur Legomännchen, wenn nichts anderes zur Hand sein sollte. Am Portal des jeweiligen Kirchengebäudes (des Heiligtums - genius loci) würde dann das Püppchen abgegeben und von ernst aber zugleich auch aufmunternd und fröhlich ausschauenden Presbyter*Innen entgegen genommen. Dann wird man von Hostessen und Stewards feierlich zum Sitzplatz geleitet, indessen die Presbyter*Innen die abgegebenen Püppchen an einen besondern Platz tragen, wo sie ebenfalls hingesetzt werden, wie die, von welchen sie eben hierher gebracht worden sind. Auf diesen Platz (etwa ein Quergestühl im Nordschiff der Plötnitzer Kirche) ist eine Live-Cam fokussiert, welche die abgelegten Püppchen ständig im Auge behält und auf eine Videoleinwand, die direkt im Hochaltar untergebracht sein soll, projiziert. Püppchen für Püppchen erscheinen also nach und nach im Allerheiligsten - quasi als Präsenz der vergegenständlichten Suche nach dem Göttlichen. Die wirklichen Menschen werden langsam! (um Zeit zu gewinnen!!!) auf ihre Plätze geleitet. Die führenden Hostessen sind bekannte Personen. Etwa eine Eiskunstläuferin mit unverwechselbarem Sächsisch oder der Dalai Lama in feurigem Orange. Auch bereits Verstorbene sollten der Schar untergemischt sein. Zum Beispiel Mahatma Ghandi - aber auch problematische Gestalten wie z.B. Joseph Stalin. Die Hostessen und Stewards müssen sich dabei absolut cool geben (Leberecht benutzte tatsächlich das Wort cool) und sie dürfen die ganze Sache nicht dadurch vermasseln, dass sie diese ihre Rolle nicht ernst nähmen. Also - keinerlei Albernheit bei alledem! Auch zeitgenössische und noch unter uns weilende Bischöfe und Bischöfinnen sind natürlich mit dabei. Sogar mehrere Male, - Hammer! Freilich - das kostet natürlich - aber für Gott ist das Teuerste gerade gut genug. Im Kirchenraum - und das ist das Allerwichtigste - sitzen allerdings bereits schon lebensgroße Puppen. Als solche absolut erkennbar - jeder weiß, was Schaufensterpuppen sind. Tote Augen und bewegungslos. Es müsste neben jedem platzierten Gottesdienstbesucher eine solche tote Puppe lehnen.
Dann beginnt der Gottesdienst. Als Vorspiel Prometheus von Richard Strauss. Als Lesungen Genesis 2, wo Gott aus Lehm das Menschenpüppchen formt und die Vision vom bewegten Knochenfeld aus Ezechiel 37 - quasi anstelle des Eingangspsalms. Evangeliumstext? Natürlich Johannes 11 - die Sache mit dem Mann Lazarus, der Wickelpuppe.
Beim Glaubensbekenntnis stehen alle wie gewohnt auf. Der Witz dabei ist aber, dass nun auch einige der Schaufensterpuppen aufstehen, denn in ihnen stecken wirkliche Schauspieler*Innen (Leberecht gendert grimmig seinen gesamten Text) Diese haben sich das aber vorher absolut nicht anmerken lassen, - denn es sind Profis. Ja, - es wird richtig teuer! Dann kommt die Predigt über die Idee der Gottebenbildlichkeit und die neuplatonische Weiterentwicklung des Höhlengleichnisses - und danach die Eucharistiefeier.
Hier stehen dann die restlichen Groß-Puppen plötzlich auch auf und schreiten in den Chorraum. Dort werden sie zu Ministrant*Innen! Diese Puppenmenschen reichen das Brot und kredenzen den im Kreise stehenden Kommunikanten den Wein (schweren Messwein!) - da sie aber keinen Mund in ihren Silikonmasken verstattet bekommen haben, kommunizieren sie selbst die Elemente Brot und Wein nicht. Aber - sie segnen nach gespendetem Mahl einander, wobei sie im inneren Ring des feiernden Kreises stehen und deshalb für alle im äußeren Zirkel (die wirklichen Menschen - vulgo: Gemeindeglieder) als Tremendum und Faszinosum sichtbar und erlebbar - ja geradezu erfahrbar werden - es lebe der Verfremdungseffekt. Denn es gibt sie doch - die Gotteserfahrung. Alle müssen dabei natürlich Tücher um den Hals tragen. Leuchtende Tücher in Neonfarben - am besten Regenbogen!
Inzwischen sind die am Portal eingesammelten von den Besuchern mitgebrachten Püppchen heimlich fortgetragen worden und verschwunden. Die Livecam wurde deshalb vorher anders positioniert und filmt/zeigt seit einiger Zeit schon die Gottesdienstbesucher selbst in ihren Bankreihen. Diese sind auf diese Weise nun in ihren Bildern selber als Puppen an den Hochaltar versetzt worden, da sie sich daselbst auf dem Screen sehen (müssen), wo vorher die mitgebrachten Puppen die ganze Zeit zu sehen waren. Die mitgebrachten kleinen Püppchen und Kuscheltiere dagegen haben das Amt der Menschen übernommen - ihre Realität wird dadurch zwingend erfahrbar, weil sie alle total verschwunden! sind. Sie sind nur noch im Modus der Abwesenheit anwesend würde der selige Karl Rahner es nicht besser formuliert haben. Hier zeigt sich das alte magische Prinzip: Wo etwas verschwunden ist, was vorher selbstverständlich da war, wird das, was vor kurzem vernachlässigbar erschien, zur Superrealität. Leberecht reibt sich die Hände und setzt die Nadel erneut über das tiefe "Es" des Rheingoldvorspiels.
Spätestens, wenn sie nach der Eucharistie alle wieder auf ihren Plätzen sitzen - und auf die Videoleinwand blicken, ist es soweit. Dann wird klar: Erschüttert müssen die Leute wahrnehmen, wie groß die Macht der verschwundenen Puppen ist - und sie selber aber (die allesplanenden Menschen) ohne deren Gegenwart zum Staube verdammt. Nach irgendeinem der Schlusszene der Götterdämmerung nachfantasierten Postludium geht man nachdenklich und tief berührt nach Hause.
Kollekte? Diesmal nicht. Kollekte würde den Eindruck des Erhabenen mindern. Eine reichliche Stunde wird das alles wohl brauchen? Es geht aber noch weiter - jedem Besucher schließt sich beim Nachhauseweg ungefragt eine dieser großen Ministrant*Innenpuppen an. Es wird also noch teurer. Katharina Witt - nur als Beispiel - begleitet dich nach Hause ... Dieselbe verfolgt den Nachhausegänger bis an das Haus, in das er geht, weil er da wohnt - und davor wird die Kathi-Puppe lange stehen bleiben. Wortlos! Die kleinen mitgebrachten Püppchen allerdings bleiben verschwunden, was natürlich hie und da Aufruhr erzeugen wird. Das ist von Leberecht Gottlieb so gewollt. Sollte die Kirchengemeinde verklagt werden, würden die Püppchen bei einem persönlichen Hausbesuch vorbei gebracht und diese Gelegenheit zur Mission und Ehrenamtlichengewinnung genutzt.
Bis hierher war Leberecht Gottlieb gekommen, er schaltete den Wagner mitten in Alberichs Ruf „So verfluch ich - die Liebe!” ab. Für heute ist Schluss - denn es ist bereits 23.45 Uhr - und der Geistliche geht mit grimmigem Lachen zu Bett. Und er vergisst sein Pamphlet.
Nach Wochen bekommt er einen Anruf aus der Superintendentur. Die freundliche Sekretärin seines Chefs weist ihn mit besorgter Stimme darauf hin, dass er unter den Schwestern und Brüdern der Einzige wäre, der noch nichts zu dem doch so spannenden Projekt „Anders sagen - andre erreichen“ abgegeben hätte. Ob er sich denn nicht auch ein bisschen schäme …
Leberecht Gottlieb erschrickt. Da hat er diesen Unsinn doch tatsächlich ganz vergessen. Hastig rafft er die geschriebenen Seiten zusammen, verbindet sie mit einer Büroklammer und sendet das unvollendete Werk an die Dienststelle. Dabei murmelt er: „Wenn das Catering stimmt, wird ein Event daraus!“
Monate vergehen, inzwischen naht bereits der Advent. Am Montag nach Totensonntag bekommt Leberecht wieder einen Anruf. Diesmal aus dem Kirchenamt der Großkirche. Man habe sein Projekt "Puppet-Service" bei „Anders sagen - andre erreichen“ gelesen - und bedauere, dass es bisher nur flüchtig mit der Hand hingeworfen sei. Aber man hätte nun eine Projektstelle eingerichtet, die das Unternehmen „Puppet-Service“ von Leberecht zum Generalevent des Kirchentages im kommenden Jahr realisieren würde. Er, Leberecht Gottlieb, hätte auch den kürzlich ausgelobten Wichernpreis gewonnen - und würde sicher die Summe von 5.000 Euro dem Projekt zufließen lassen wollen? Leberecht schweigt am Telefon und sagt, er würde sich das noch überlegen. Legt auf und murmelt immer wieder nur ein einziges Wort. Hier lesen wir dieses Wort. Es lautet „Tollhaus!”
Was nun begann, war unvorstellbar. Ein zwölfköpfiges Steuerungsteam der Großkirche begann damit, umfangreiche Planungen für den Puppen-Gottesdienst zu realisieren. Ein Fonds wurde aufgelegt und mit 250.000 Euro ausgestattet, dann noch einmal bis 350.000 Euro aufgestockt. Man sourcte die eigentliche Kreativitätsarbeit an ein linkes Theater in Norddeutschland aus - und ließ dieses Theater von einer renommierten Beratungsagentur im Blick auf politisch korrekte und antineokolonialistische Sprachregelung beraten. Flyer wurden gedruckt und verteilt. Pressekonferenzen wurden gegeben - wobei nicht bedacht wurde, dass der Überraschungseffekt der Puppenaktion damit voll und ganz verdorben wurde. Leberecht fasste sich an den Kopf und reiste nach dem Athosberg. Denn von seinem Preisgeld gab er nichts her.
Dann kam der Tag, der große Tag, der Tag des Projekts "Anders sagen - andere erreichen" und der Tag von "Puppet-Service". Der Zufall wollte, dass just zu diesem Datum ein Raumschiff mit Außerirdischen vom Planeten C7 aus der Galaxis Alpha Centauri auf der Erde landete. Das bemerkte natürlich keiner, denn diese Landung - es war nicht die allererste - ging von Seiten der Ankömmlinge gut getarnt vonstatten. Bis heute weiß niemand davon, außer dem treuen Leser dieses Kapitels!
Und - immer dann, wenn Leberecht von dieser Sache beim Konvent der Emeriti berichten wollte - was er hin und wieder versucht hatte - wichen alle scheu vor ihm zurück. Und schauten ihn bedauernd an. Die angekommenen Fremdlinge vom fernen Planeten C7 orientierten sich bei Ihren Visiten verlässlich immer an den höchsten Gebäuden des Planeten und weil sie in einer Größenordnung von etwa einer halben Milliarde den Erdball betraten, wurden die Heiligtümer der Kirchen, Moscheen und Banken sehr bald von sonderbar aussehenden Wesen bevölkert. Das Projekt "Puppet-Service" geriet dadurch aber nicht aus dem Lot - im Gegenteil.
In der Hauptkirche des Projekts am Markt zu Hannover fanden sich die sonderbaren Gäste natürlich ebenfalls ein, wurden von den Evantmanagern aber nicht erkannt. Man nahm an, dass das irgendwie eine Überraschung innerhalb der Überraschung sei - und ließ alles so laufen, wie ursprünglich geplant. Die Kirche füllte sich bis auf den letzten Platz und einige kleinere Aliens wurden von mutigen Besuchern, die ihre Püppchen mitzubringen vergessen hatten, einfach als solche annektiert - und bei den Presbytern abgegeben, so dass sie dann umgehend auf dem im Hochaltar der Kirche eingebastelten Bildschirm erschienen. Das Besondere war, dass die Ankömmlinge aus der weit entlegenen Welt von der daselbst ebenfalls waltenden Evolution mit der besonderen Gabe ausgerüstet worden waren, nicht nur die Farbe, sondern auch Gestalt und Form, Größe und Aussehen nach Belieben verändern zu können. Dabei hatte es sich auf ihrem Planeten als sinnvoll und überlebensfördernd herausgestellt, dass die jeweilig gewählte Gestalt immer genau dem glich, was gerade eben im Modus der Kommunikation sich bereits vollzog. Beneidenswert ...
Als nun während der liturgischen Lesungen die Rede von den Bewegungen der Knochen auf dem Totenfeld ging, wie Ezechiel sie uns berichtet, sah man flächendeckende Gebeinregungsaktionen auf dem Steinfußboden des aus dem 14. Jahrhundert stammenden hanseatischen Kirchengebäudes. Und als dann gar von Lazarus erzählt wurde, lagen bald Tonnen von abgewickelten isabellfarbenen Binden auf dem Fußboden. Bei den Besuchern, die zahlenmäßig sich im Vergleich zu den Puppen und Fremden etwa die Waage hielten, gab es sonderbarerweise kein Chaos oder irgendwelche Bedenken - als ob man auf der Erde eben an Wunder längst gewöhnt sei . Alles vollzog sich nach Plan, was als Beweis der Wahrheit des Christentums fungieren könnte, wenn man es so formulieren will - und die Qualität des Leberechtschen Projekts dem Leser noch deutlicher macht. Sein Preisgeld jedenfalls hat er nicht zu Unrecht erhalten
Am Ende begleitete jeweils ein Alien den heimgehenden Gottesdienstbesucher zur wohnlichen Hütte. Das ergab sich irgendwie wie von selbst. Eigentlich sollten ja die Puppen mit den darin steckenden Top-Schauspieler*Innen die Nachhausebegleitung realisieren, aber man war darin dann doch nicht Leberechts ursprünglichen Konzept gefolgt, denn man wollte die Besucher nicht verschrecken, welche sich nach Rückkehr von dem besonderen Event innerlich hochberührt in ihre Behausungen verziehen wollten. Unten standen dann also die wartenden Bewohner der außerirdischen Welt vor den Häusern der Erdlinge noch einige Zeit herum. Da sie aber sich selbst überlassen blieben, scannten sie den Planeten wie geplant in ihre Datenspeicher ein und machten sich alsbald wieder zum nächsten Planeten auf und davon.
Leberecht Gottlieb bekam von alledem fast nichts mit. Er erlebte stattdessen drei fabelhafte Wochen auf dem Athosberg mit den klugen Mönchen, wurde dort endlich fündig - denn „Die Schrift des violetten Engels mit dem goldenen Siegel“, die es nur in einem einzigen Exemplar geben soll, lag unter der Signatur MoAt2357 tatsächlich in der Bibliothek des Klosters Moni Dionysiou und hatte bereits lange Jahre des sächsischen Pastors aus Prätzschwitz, Mumplitz und Plötnitz geharrt.
Nachdem er vom Athosberg zurückgekehrt war, überlegte Leberecht, ob er nicht jetzt endlich die Papiere für seine Versetzung in den Ruhestand einreichen sollte, denn mit dem Besuch des Athosberges hatte sich ein neues Kapitel in seinem langen Dienstleben aufgeschlagen. Ein sehr wesentliches Kapitel. Das Kapitel vom Violetten Engel mit dem goldenen Siegel. Dann tat er es aber doch nicht ...
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