Heilige Nacht - noch nicht in Workuta
Leberecht Gottlieb (Teil 116)
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- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
116. Kapitel - in welchem Leberecht Gottlieb froh darüber ist, zu Weihnachten nicht im Bleibergwerk auf Workuta sein zu müssen. Wir lernen noch einiges von Ludmilla Tainawitschkowa und treffen erstmalig auf den Raketenwissenschaftler Gendrich Novascholov ...
Leberecht Gottlieb klappte nachdenklich den Deckel eines der Leitzordner zu, die ihm im Laufe der letzten Monate von November bis heute zum Lesen gereicht worden waren - und lehnte sich vorsichtig auf dem ihm von der russischen Offizierskaja zur Verfügung gestellten Stuhl zurück. Der Stuhl knarzte zwar bedenklich, hielt aber Stand. Leberecht hatte seine alten Texte natürlich sofort wiedererkannt. Heute war der Heilige Abend - 24. 12.2024. Und er war, wenn ihn nicht alles trog, noch in Jerusalem. Ja - das Gelesene! Das waren tatsächlich alle seine verrückten Spinnereien bis zum Jahre 2015. Er hatte dieselben Jahr für Jahr mit immer größer werdender Begeisterung verfasst und irgendwann dann auch im Internet pseudonym veröffentlicht. „Weiß der Geier” sagte er halblaut bei sich selbst „auf welchen Wegen diese Sachen in die Hände des KGB gelangt sind!” Dann bedachte er sich aber und schwieg still - er war es selbst gewesen, der in seinem Mitteilungswahn für dieses alles Verantwortung trug. Und - das war bekannt - der KGB (welcher jetzt allerdings sicher anders hieß) würde ihn auch hier in der Zelle mit großer Sicherheit abhören, belauschen und so weiter. Das weiß man doch - solche Filme, wie die über den Agenten 007 mit der Lizenz zum Töten, Mord mit Aussicht und Pater Brown, hatte Leberecht früher genug angeschaut, als er noch im sächsischen Mumplitz wohnte und die langen Sonntagnachmittage nach den Gottesdiensten sich filmisch berieseln lies, Zigarre rauchte und Schluck um Schluck vom Pastis genoss.
Und tatsächlich schien man beobachtet worden zu sein, denn die Tür ging auf und die Offizierska Ludmilla Tainawitschkowa trat ein und fragte erneut mit ihrem unnachahmlich militärischem osteuropäischem Akzent: „Nu - was meinen! Herr Gottlieb Leberecht. Können etwas sagen dazu? Zu solche Bericht? Wer ist diese Archivar von anderes Planet? Was ist Rakete und Zeitgleitermaschinist, wo hingen ein Kruzifix an Steuerknüppel?”
Leberecht beschloss, der Frau entgegenzukommen - und damit sich selbst ebenfalls. Es galt wieder einmal, ein komisches Spiel mitzuspielen, dessen Regeln die anderen bestimmt hatten. Aus der Zeit seiner exzessiven Karl-May-Lektüre wusste Leberecht noch zu gut, was einen interessanten Text ausmacht, wie man ihn zuerst konzipiert und danach geschickt platziert, so dass die Leser daran unweigerlich kleben bleiben müssen. Deshalb meinte er, indem er sich sehr zerknirscht stellte: „In Ordnung, Frau …” und er suchte nach dem Namen des grüngewandet uniformierten Weibes. „Sagen Sie Frau Ludmilla zu mir - aber bitteschön immer mit Sie. Nutzen Höflichkeitsform auf jede Fall!” half ihm die Offizierskaja auf die Sprünge. „Frau Ludmilla - ich will gerne gestehen, denn in ihrem Bleibergwerk möchte ich mit meinen fast 86 Jahren nicht landen.” Nach einer Pause fragte Ludmilla Offizierskaja: „Also wollen uns verraten ganze Geheimnis von Zeitreise und Raumgeleiter?” Leberecht nickte und begann gleich darauf, eine wüste Story zu extemporieren, die von der Russin emsig aufgezeichnet wurde. Wahrscheinlich in Stenographie, denn Leberecht konnte die Zeichen nicht entziffern, die die Frau mit ihrer schönen und perfekt manikürten zierlichen Hand auf die grauen Papierbögen aufzeichnete, welche oben links irgend ein Logo hatten, das er wieder erkannte, weil er früher als Knabe Briefmarken gesammelt und auch einige sowjetische Marken im Besitz gehalten hatte. Alle Notiererei seitens Ludmillas geschahen übrigens als die einer geschickten Linkshänderin, die sie offenbar war … Aber das nur nebenbei. Leberecht erzählte Folgendes:
„Es war vor einiger Zeit in der nicht allzu fernen Zukunft, als das Dresdener Kirchenamt bemerkte, wie die Mitglieder unserer Kirche immer weniger wurden und dieser Trend sich absolut nicht stoppen ließ. Also beschloss man, eine Person in die Zukunft reisen zu lassen, um dort nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie man - aus der Zukunft - die Vergangenheit würde beeinflussen können - zu Gunsten der damaligen Gegenwart.” Ludmilla lächelte und schrieb alles auf. Leberecht fuhr fort. „Dieser eine Mann, der hinaus ins Unwägbare an die Ecken und Enden des Seins entsandt wurde, das war ich, denn es musste ein Alter sein, wegen der Zeitdilatation und so weiter. Der ganze Kram mit den Singularitäten, die bei Zeitreisen uns sonst ein Schnippchen schlagen könnten. Ja - ich war es, der gesandt ward - denn ich werde damals in der Zukunft sehr alt gewesen sein, wenn ich diese Reise unternehmen werde!” Ludmilla stutzte - hob ihren schönen Kopf, sagte aber nichts, sondern schrieb. Es war ihr nicht aufgegeben, die unsinnigen Tiefsinnigkeiten der Leberechtschen Erörterungen über die Spezialissima des Zeitreisens überhaupt zu verstehen. Ihre Aufgabe war, zu notieren. Zumal Leberecht in seinem eindringlichen Predigtton sprach, mit dem er schon gar manches "Weib mit Hang zu Höherem" an irgendeinem Sonntagmorgen bis vor die Schwelle gerade noch denkbarer Mysterien geführt - oder besser: verführt? - hatte, kam es auf Verständnis nicht sonderlich an. „Ich erlebte Unaussprechliches, stand vor Golgatha und kniete im Grabe des Herrn, bereiste Höllen und sah direkt bis an die Grenzen dessen, was Karl May Dschinnistan nannte. Jedoch musste ich wieder zurück auf diese Erde - vom Verbleib meines Raumzeitgleiters allerdings möchte ich mir erlauben, jedes Wissen darüber mit niemandem teilen zu müssen. Lang habe ich dieses schmucke Gefährt selber nicht mehr gesehen. Es war von genialen Leuten hier aus Jerusalem gebaut worden und während eines interreligiösen Studentenaustauschs nach Dresden geschafft worden. Mein Konfirmand Sven Habedank war mit seinem Start-Up in Riesa maßgeblich an der Erfindung beteiligt. Ich sah den Apparat zum letzten Male wohl in einem Traum, den ich hier im Kloster der Rambertimönche geträumt. Wohl können wir annehmen, dass ein ferner Zeitreisender das Gefährt zwischenzeitlich an sich gebracht und sich damit aus dem Staube machte, nachdem er allhier auf unserer Welt sich lange umgesehen. Sicher ein Bewohner ferner Zivilisationen? Sonderbar, dass auch er den Namen Sven getragen haben soll - wie Sie mir eben zu lesen gegeben haben. Meinen Rosenkranz vermisse ich allerdings sehr und bitte die Frau Ludmilla inständig um Rückerstattung desselben!” Leberecht holte tief Luft und schaute der Offizierskaja unschuldig in die Augen. Diese hatte alles notiert und wandte sich nun Leberecht zu, sie schlug ihre tadellosen Beine übereinander, so dass der Rocksaum gerade noch ihre Knie bedeckte, zündete sich elegant eine Machorka an, so wie die Psychologinnen im Dresdener Universitätskrankenhaus es immer gemacht hatten, als Leberecht wegen akuten Burn-Outs in den frühen Neunzigern dort einen längeren Aufenthalt auf Kosten seiner Krankenkasse zu absolvieren hatte. Sicher waren auch die Aufzeichnungen dieser fatalen Zeit damals hier bei der GPU/KGB-Truppe gelandet. Wahrscheinlich schlug Ludmilla ihre Beine auch wohl nur deshalb ähnlich übereinander und blies den würzigen Rauch der russischen Zigarette in seine Richtung? „Die wollen mich triggern.” Dachte Leberecht. „Mich fertig machen! Aber ich bin wacker, wie der Heilige Antonius!” Die Ludmilla meinte nun sogar etwas schnippisch: „Herr Leberecht - sie sind hier nicht in Kloster. Hier ist Botschaft von Russland!” Und blies den duftenden Rauch ihrer Zigarette erneut in die Richtung des Emeritus.
Und da ritt den alten sächsischen Pastor irgendetwas und er wusste selber nicht, warum er das jetzt sagte - aber er sagte es. Ganz langsam sagte er: „Wahrscheinlich steht der Raumzeitgleiter noch dort, wo ich ihn damals abstellte.” Sie sagte mit leise drohend gurrender Stimme: „Wo?" Und fügte das entsprechende Fragewort in russisch noch dazu: „где?” Und er: „Nämlich in der Seitenkapelle der Mumplitzer Kirche. Damals habe ich das Fahrzeug hinter dem alten Sargwagen versteckt, den niemand mehr brauchte, weil die Bestattungsfeiern von dem Institut „Licht und Schatten” in eigener Regie und mit eigenem Equipment versehen wurden. Und ich habe eine alte hässliche NVA-Plane darüber gebreitet. Ok - ich gebe es zu! Da steht dann der Gleiter wahrscheinlich heute immer noch.”
Ludmilla Tainawitschkowa hatte alles notiert, drückte die Zigarette in dem rosafarbenem Aschenbecher aus Pressglas aus, der auf der resedagrünen Sprelacardplatte des Lesetischchens stand, erhob sich, strich die Falten ihres Uniformrockes glatt und sprach den erschütternden Satz: „Herr Leberecht - wir werden nun Aussage überprüfen. Solange hierbleiben bei uns in russische Botschaft.” Dann raffte sie Zettel samt Akten zusammen und verließ den Raum, nicht ohne vorher anzukündigen, dass sich nunmehr der Kollege Gendrich Novascholov um Leberecht kümmern werde. Sprach’s und entfernte sich mit dem uns bereits bekannten Klackern ihrer Absatzschuhe, deren „gock hie, gock hie, gock hie” draußen auf dem Gang lange noch zu hören war - bis es wieder ganz mucksmäuschenstill wurde.
Leberecht war froh, erst einmal einer Deportation auf die Bleiinsel Workuta entkommen zu sein, benutze die Toilette des Botschaftskarzers und setzte sich dann wieder. Er schaute sich um und sah einen Klingelknopf aus der Wand ragen. Gerade in dem Augenblick, als er denselben drücken wollte, um eine deutschsprachige Bibel Alten und Neuen Testaments anzufordern, ging die Tür auf und ein gepflegter Herr trat ein, dessen Deutsch sich im nunmehr entspinnendem als vollkommen akzentlos herausstellte. Der Mann sah aus wie ein typischer Intelektueller - grauer Anzug, Knebelbart und randlose Brille. Die Frisur bestand aus einem komplett haarlosen Schädel, den eine auf das absolut nur Allernotwendigste reduzierte Kappe einigermaßen bedeckte. Dieser Mann müsse Kollege Gendrich Novascholov sein, dachte Leberecht. Und tatsächlich - er war es. Gendrich Novascholov stellte sich vor und meinte: „Ich bin Gendrich Novascholov und werde mich mit ihnen, Herr Gottlieb, betreffs des Raumzeitgleiters zu besprechen haben. Ob es ihn schon gibt, oder nur gab, bzw. geben wird. Und - ob man die dem Gerät zugrunde liegende Technologie für die berechtigten Interessen des russischen Staates nutzen kann. Als Geistlichem muss ihnen inzwischen sicher klar geworden sein, dass die Kultur der sogenannten westlichen Zivilisation - ihrer heute offenbar gewordenen Entartung wegen - am zeitlichen Ende als auch inhaltlichem Ziel angekommen sein dürfte. Und so hoffen wir nicht nur auf ihre Mitarbeit, sondern werden dieselbe auf jeden Fall auch bei Verweigerung der Kommunikation ihrerseits erlangen - so oder so. Habe ich mich deutlich und verständlich ausgedrückt?”
Leberecht nickte und schluckte die Spucke herunter. Dann bat er um eine Bibel Alten und Neuen Testaments. Gendrich Novascholov lächelte und zog eine solche aus dem Köfferchen hervor, das er mit sich führte. Er meinte: "Ein gutes Buch, um das sie da bitten …" Und dann legte er Leberecht genau jene Fragen vor, mit welchen sich der alte Geistliche seit seiner frühesten Jugend befasst hatte. Es ging dabei darum, was Zeit eigentlich sei, was ein Ort sei - und was den Sinn der Weltgeschichte ausmache. Und vor allem ging es darum, ob man diese drei Konstanten ineinander konvertieren könne - zum Wohle der Gesellschaft und zum Schaden ihrer Feinde. Nun war guter Rat teuer ...
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