Prüfet alles - das Gute behaltet
Leberecht Gottlieb (Teil 117)
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- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
117. Kapitel, in welchem wir erfahren müssen, wie Leberecht Gottlieb irgendwo im Nirgendwo als Untersuchungshäftling des offenbar russischen (?) Geheimdienstes interniert gehalten wird - wie der Geistliche sich aber vornimmt, durch eine List in Freiheit zu gelangen. Wie dabei die Jahreslosung für 2025 mit in's Spiel kommt …
Weil Gendrich Novascholov seinem mutmaßlichen Gefangenen, dem emeritierten Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb, eine deutschsprachige Bibel Alten und Neuen Testaments ausgehändigt hatte, schlug dieser eines Tages dieses Buch genau in der Mitte auf und landete dabei natürlich im Buche der Psalmen Davids. Genauer gesagt - der 118. Psalm war es. Und noch genauer? Dessen zwölfter Vers! Da heißt es: „Meine Widersacher umgeben mich wie Bienen, / sie entbrennen wie ein Feuer in Dornen; / aber im Namen des HERRN wehre ich sie alle ab.”
Leberecht legte den Finger auf die Zeile, welche Kraft dieses hoffnungsvollen Verses Einiges zu verkünden hatte - und schaute Gendrich Novascholov dabei direkt in die Augen. Der hielt dem Blick des greisen Geistlichen wacker Stand, denn es handelte sich bei Gendrich Novascholov um einen in und mit allen möglichen und unmöglichen Feuern der Geheimdienstlerei (noch dazu der russischen) gehärteten und wohl erprobten Molodez. Man hatte ihn wie weiland den Sohn Jakobs bereits als Siebzehnjährigen schon in einen ausgetrockneten Brunnen gesteckt und den jungen Mann dort zwei Wochen dann ausharren lassen. Nun - Gendrich Novascholov - was tatest du da? „Ich nährte mich von Würmern und Asseln, die zwar nicht reichlich aber doch immerhin ausreichend vorhanden gewesen waren” würde er antworten müssen, denn genau so trug es sich zu. Man hat ihn eine Woche lang erst unter ohrenbetäubendem Lärm und dann eine weitere Woche in einem schalldichten Raum eingesperrt gehalten. „Nichts war das - ich habe es schadlos überlebt” ergänzt der Held. Dann war man auf Workuta mit zehn männlichen Personen auf engstem Raum in einer Zelle eingesperrt gewesen - „das war die schlimmste Zeit meines bisherigen Lebens!” Man hatte mit Krokodilen gelebt - getrennt nur durch zarte Gitter aus Maschendraht. Und lauter solche Sachen - im Laufe der Zeit hatte der russische Staat auf diese Weise in Gendrich Novascholov sich einen verlässlichen Mann gestählt, den so schnell nichts umreißen konnte - auch nicht ein durchaus gefährliches und passendes Psalmwort aus der Welt der ehemaligen geistigen Heimat der hebräischen Vorväter des nunmehrigen Geheimagenten, womit wir einiges von dem angedeutet haben, wovon erst später die Rede sein soll. Gendrich Novascholov? Der lächelt auch jetzt gütig und meint zu Leberecht: „Ich kenne die Psalmen in und auswendig, Herr pastor emeritus. Und diese Verse gehören zum Schönsten und Wichtigsten, was Menschen je mit Hilfe ihres Geistes haben finden dürfen und für die Nachwelt in der Schrift aufbewahrten. Zudem bin ich auch nicht Ihr Widersacher oder Bedränger, sondern ihr Freund. Nur - dass sie dieses noch nicht wissen.”
„Was dann?” dachte sich Leberecht. Heute war das Silvesterfest. Gendrich Novascholov war bisher jeden Tag für ein paar Stunden hergekommen und hatte die ganze Zeit entweder schweigend dagesessen oder mit den immer gleichen Fragen Leberecht ermüdet. Fragen, welche scheinbar völlig zusammenhangslos nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Aber hin und wieder ahnte Leberecht, dass der Russe etwas von ihm wissen wollte, das zusammenhing mit dem Problem, was eigentlich Zeit sei, was ein Ort sei - und was den Sinn der Gegenwart ausmache. Und vor allem, ob man diese drei Dinge ineinander konvertieren könnte. Und Leberecht hatte das sonderbare Gefühl, dass er inj Gendrich Novascholov einem Manne ausgesetzt war, der viel wusste, aber nicht sagte, dass er er eigentlich (alles?) wusste ...
Leberecht hatte es aber nach einer Woche dieser seltsamen Untersuchungshaft satt, in einem nur notdürftig eingerichteten fensterlosen Raum weiterhin ausharren zu sollen. Er wollte zurück zu seinem Freund Pinchas und zu dessen Maulbeerfrüchten und Rosen. Er vermisste auch seinen spendablen Bekannten, den Seidenhändler aus China, Herrn Wang Li Zhang. Und überhaupt - was war denn das für eine Art? Heimliche Entführung aus dem Kloster in den Karzer einer angeblich russischen Botschaft? Leberecht legte den Finger auf die Verszeile ICH WEHRE SIE AB IM NAMEN DES HERRN und entschloss sich zu handeln.
Gendrich Novascholov (mit Betonung auf dem ‚a‘) winkte müde ab und meinte: „Herr Leberecht. Wir beide sind aus demselben Holze geschnitzt. Nur, dass Sie mir an Alter vierzig Jahre voraus sind. Und wir wissen beide, wie wir hier eigentlich nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern mit den Mächten und Gewalten, mit den Herren dieser dunklen Welt, die über die Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern und Archonten unter dem Himmel. So schreibt es der Apostel Paulus im Brief an die Leute in Ephesus, wie sie sicher wissen. Es geht also nicht um meine oder ihre läppische kurze Erdenexistenz, sondern um die Bewahrung der Schöpfung geht es, wie eure Kirche damals in Dresden es so schön formulierte, als Putin noch an der Brühlschen Terasse lehnte mit einer Bockwurst zwischen den Fingern und Riesaer Senf oben drauf - als die Frauenkirche noch ein Trümmerhaufen war und die Mauer zwischen Ost und West ein relativ undurchdringlicher Schutzwall.” So sagte er.
Leberecht staunte. Gendrich Novascholov - wer war dieser Mann? Gerade schickte der sich an, den kahlen Raum zu verlassen - nicht ohne vorher anzudeuten, dass er schon morgen wieder käme. Am Neujahrstag - und dass er Leberecht nicht eher von hier weglasse, es sei denn, man zeige sich kooperativ. Bevor der uniformierte Mann dann ganz verschwand, rief er Leberecht - gleichsam zwischen Tür und Angel - noch zu: „Bedenken Sie die Jahreslosung, welche ab morgen für euch deutschsprachige Christen Gültigkeit haben wird!” Und damit war er dann endgültig fort. Für heute.
Leberecht kannte diesen kurzen Vers, auf den der scheidende Geheimdienstoffizier im Abgang Andeutung gemacht hatte, natürlich sehr gut. Schon wochenlang freute Leberecht sich auf den 1. Januar 2025. Ein mächtiger Vers aus dem ersten Thessalonicherbrief war erwählt worden, um ein ganzes Jahr lang die christliche Schar derer in Deutschland und Österreich zu erfreuen. PRÜFET ALLES - UND DAS GUTE BEHALTET. So hieß der Satz. Kurz und schmerzlos. Und eine Bombe war das mitten hinein ins Hauptquartier des unter Inkompetenz ächzenden deutschen Vaterlandes, das sich unter der gegenwärtigen Regierung seiner wirtschaftlichen Dauerkoliken wegen in Schmerzen zu winden und zu wälzte hatte.
Hatte Michail Sergejewitsch Gorbatschow seinerzeit dem Herrn Honecker und seiner blaugelockten Margot nicht etwas ganz Ähnliches zugerufen? „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!” Wer nicht prüft, den überrollen genau jene Ereignisse, deren langsame und stetige Vorbereitung er zu lange tatenlos zuschauen zu dürfen gedacht hatte. Leberecht erhob sich von dem Stuhl, dem einzigen im Raum verbliebenen - denn Gendrich Novascholov nahm den seinigen immer wieder mit nach draußen, wenn er den Raum verließ. Der alte Pfarrherr schritt auf eine der vier kahlen Wände seiner mit flackernden Neonröhren beleuchteten Behausung zu, in welcher man ihn eingesperrt hielt. Ja - eingesperrt, das musste man tatsächlich so sagen.
„Achte auf deine Zelle / dann achtet deine Zelle auf dich” hatte Thomas von Kempen in seinem Buch „Nachfolge Christi” geschrieben. Und diesen wichtigen Gedanken zitiert auch Dietrich Bonhoeffer in einem Brief an seinen Freund und die ferne Familie. Leberecht war nun auch in einer Art Gefängnis. Niemand wusste, wo er war. Ausgeliefert war er. Und schritt auf die im am größten erscheinende Wand zu, suchte in der Zelle nach etwas, womit man würde schreiben können - fand aber nichts außer einem rostigen Nagel. Den klaubte er auf und begann Zeichen in die Wand einzuritzen. „Euch werde ich es schon zeigen!” dachte er dabei. Er begann mit den Primzahlen drei, fünf und sieben. Leicht grub sich das alte Eisen in den bröckeligen Putz. Dann die Elf und die Dreizehn und so weiter bis die Wand zu Ende war. Leberecht zählte die Abstände zwischen jenen Zahlen, welche zwischen den einzelnen Primzahlen zu denken wären - und selber keine Primzahl darstellten. Das war zwischen Drei und Fünf eine einzige - nämlich die Vier. Zwischen Fünf und Sieben war es wieder nur eine einzige Zahl - der getreu uns folgende Leser kennt sie als Sechs. Zwischen der Sieben und der Elf nun standen jetzt schon drei Zahlen, die selber keine Primzahlen waren. Aber deren Anzahl war erstaunlicherweise die Drei - und dass ist ja schon eine Primzahl, nicht wahr? Zwischen Elf und Dreizehn wieder nur die eine Zahl. Nämlich Zwölf. Zwischen Dreizehn und Siebzehn sind es erneut drei Zahlen. Und zwischen Siebzehn und Neunzehn ist es? Eine. Die Neunzehn und die Dreiundzwanzig haben drei Glieder zwischen sich stehen und die Dreiundzwanzig bis zur Neunundzwanzig hat fünf. Ja - das sind immerzu Primzahlen. Die Anzahl der zwischen Primzahlen stehenden Glieder ist immer wieder eine Primzahl. Sonderbar. Und Leberecht schrieb und schrieb an die blasse Wand. Wohlwissend, dass er dabei wahrscheinlich von irgendwoher von irgendwem durch irgendein Loch beobachtet werden würde, grub er mit dem Nagel die Charaktere der ewigen Zahlen in den rieselnden Putz der alten Gefängnismauer ein. Nicht achtend, dass der Ölanstrich aus Urvätertagen hie und da in großen Flecken abplatzte und raschelnd zu Boden fiel.
Warum das alles? Leberecht erinnerte, bei Karl May nicht nur einmal gelesen zu haben, wie man einen Gegner besiegen kann, wenn man diesen mit seinen eigenen Gedanken verwirrt. „Euch werd’ ich’s zeigen!” dachte der greise Geistliche. Als nun die gesamte Wand mit Ziffern über und über bedeckt war, legte Sich Leberecht mit leichten Krampf in der rechten Hand auf die eiserne Bettstelle - und schlief ein. Er träumte von Buchstaben und Zahlenzeichen und von der ab morgen gültigen Jahreslosung, die uns dazu auffordert, alles - aber auch wirklich alles - zu prüfen. Und dann? Das Gute zu behalten. Und zwar nur! das Gute. Solches Prüfen ist nicht nur ein "Im-Kopf-Nachdenken." Nein, nein - wirkliches Prüfen ist die Kunst des geplanten, vollzogenen und danach auch ausgewerteten realen Experiments. Leberecht schlief. Und die Primzahlen hielten, in unendlichen Kreisen um ihn gelagert, Wacht und ewige Hutung ...
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