der Kreuzzug
Leberecht Gottlieb (Teil 42)
Das Kapitel, in dem wir über Leberecht Gottlieb erfahren, wie derselbe einen persönlichen Kreuzzug zur Rettung seiner Kirche aus dem Handgelenk schüttelt, was zwar unglaublich klingt, aber doch wahr ist ...
Gleich neben der Kirche steht das Pfarrhaus. Eine niedrige Mauer trennt den Pfarrgarten vom Grabgarten – auch Gottesacker genannt. Hier blühen im Frühling die Bäume und Blumen, dort vertrocknen Gelege und Kränze langsam vor sich hin, bis man sie durch Sträuße in Vasen erneuert. Früher stellten zu Allerseelen nur die Umsiedler Grabkerzen auf die kleinen Beete, die sie für ihre Verblichenen angelegt hatten und pflegten – jetzt machen es fast alle so. Und noch etwas anderes ist dazugekommen. Kunstblumen …
Früher brannte im Pfarrhaus nach Mitternacht oft noch Licht. Das war das untrügliche Zeichen dafür, wie der Pfarrer Leberecht Gottlieb studierte. Bis in die Morgenstunden hinein. Er tat so, nicht weil er musste – sondern weil er es wollte. Studere – sich bemühen. Wenn er einmal vor den Thron des Allerhöchsten würde zu treten haben, dann möchte er sagen können: Studueram. Das heißt übersetzt: „Ich habe mich bemüht.“ Und der HERR Gott lacht leise und leicht kopfschüttelnd dazu schon jetzt: „Nicht du wirst dich bemüht haben, sondern du wirst in erster Linie bemüht worden sein.“ Futurum exactum-passiv. Dafür gibt es bis heute keine lateinische Form. Vielleicht höchstens „studendus eris“.
Leberecht Gottlieb ist bei siebenunddreißig Jahren wöchentlich vor die Ackerbauern getreten, um ihnen am Sonntagmorgen mit einigen allgemeinen und hin und wieder auch besonderen Überlegungen zum Kreuz Aufwartung zu machen. Zum Kreuz, das die Horizontale mit der Vertikalen in genau einem Punkte verbindet. Das ist der Punkt, wo kurz darunter das Scheitelchakra des HERRN strahlt, und kurz drüber der ewige Titel INRI mit seinem ernsten Worte Anwesenheit feiert, welches Wort – rückwärts gelesen – daran erinnert, dass es nie irrt. Dort also ist der heilige Punkt. In diesem einen Punkt liegt alles beschlossen, im Mittelpunkt, der die zwei Balken zu einem Kreuz macht. Mit drei Nägeln und in fünf Wunden lässt sich der Gott an die Materie fixieren – und das nicht nur vorübergehend, sondern für alle Zeiten. Tu es Christus, crucifixus eris in aeternam. Daran hängt die Welt und das Heil.
Die Bauern wussten, dass sie nicht selber die Jahreszeiten machen, sondern die Jahreszeiten sie. Deshalb auch verstehen sie den Pfarrer Leberecht Gottlieb. Ihre Haut wird gebräunt durch die Sonne, runzelig vom Sturmwind, ihr Geist denkt sich nicht das Evangelium aus, sondern das Evangelium schärft ihren Geist. Der Pfarrer Gottlieb hat sie begleitet, sie irgendwann beerdigt und für sie auch oft gebetet. Wer das Kreuz der materiellen Existenz auf sich nimmt, der ist Christ. Wer glaubt, dass Christus die Kreuzesleiter hinauf nicht nur für sich selbst, sondern auch für jeden anderen gestiegen ist, braucht nicht jede Woche eine andere Hüpfburg, einen anderen Caterer und kein neues Projekt.
Nun ist das alte Pfarrhaus vor einigen Jahren verkauft worden. Da wohnen jetzt Leute drin wie du und ich. Der Mann macht irgendwas mit Computer und die Frau ist Abteilungsleiterin bei einer Firma aus Meißen. Des ungeachtet blühen die Bäume im Pfarrgarten wie eh und je. Sie sind treu. Doch die Gräber sind weniger geworden. Die Leute sterben irgendwie nicht mehr, oder man merkt es nicht. Das Kirchengebäude haben sie schmuck gemacht - mit irgendwelchen Fördermitteln. Und vom Turm läutet regelmäßig einsam eine Glocke – als riefe sie um Hilfe.
Der Herr Pfarrer Leberecht Gottlieb ist nicht mehr da. Er ist in den Ruhestand gegangen. Man brauchte ihn irgendwie so richtig wohl gar nicht mehr? Lag es daran, dass er nicht ständig mit dem Mikrophon in der Hand vor Hüpfburgen für die Integration irgendeiner neuen Minderheit hatte werben wollen? Ja, – sein Herz schlug wohl eher für das rein Geistige … Oder – noch mehr für das Geistliche! Das hatte er nämlich gelernt. An der Universität. Als die Schiffe auf dem Ionischen Meer untergingen und die Flüchtlinge aus schlecht regierten Staaten ertranken, fühlte der Geistliche den Puls des Hegelschen Weltgeistes, indem er sich über die literarischen Schicksale von Odysseus und Äneas beugte, welche ja bekanntlich Feinde gewesen, denen aber beide von ein und demselben Meer ihre Gefährten verschlungen worden waren. Als abertausende Afrikaner über die Alpen stiegen, dachte der alte Leberecht an Hannibal und die punischen Kriege. Es kam offenbar stets wieder dasselbe. Als Istanbul immer öfter im Rauchqualm des sunnitischen Terrors verschwand, erinnerte sich der alte Pfarrer daran, wie der letzte byzantinische Konstantin den Papst in Rom flehentlich angerufen hatte, den Brüdern zu Hilfe zu kommen, – was aber nicht geschah. Und dann kam eines Tages der Beschluss, die Pfarrstelle Prätzschwitz aufzuheben. Leberecht Gottlieb ging also mit 63 Jahren vorfristig in den Ruhestand. Mit unbedeutenden Abschlägen …
Er lebt jetzt in Tübingen. Hölderlins wegen … In dieser Stadt des größten aller deutschen Dichter hätte Leberecht als junger Mann gerne studiert. Es ist dann aber nur Leipzig gewesen – der Grenze wegen, die das Vater- oder Heimatland (heute beides verdächtige Begriffe) ungerecht in verschiedene Bereiche zerteilt hatte. Aber immerhin Leipzig. Manche Wünsche werden spät aber dann doch Wahrheit, wenn auch anders als man immer dachte. Im Alter ist Leberecht zurückgekehrt an den Ort seiner Phantasien. Nun sitzt er als Greis in Bibliotheken, kreist um den Turm Friedrichs und ist weiter dem Kreuz auf der Spur. Und der Maria, die auf dem Halbmond steht. Auch in Tübingen gibt es Hüpfburgen. Hier - im Westen - hat man diese Unholdswesen ja auch erfunden. Laut, aufgeblasen mit künstlicher Luft aus dem Kompressor. „Haschen nach Wind“ fällt Leberecht ein, wenn er so ein Ding sieht. Und fragt sich, ob er während seines Restlebens noch einmal den Mut aufbringen wird, in so ein Ding aus Herzens-Luft hineinzustechen. Aber er will kein Zerstörer sein. Nicht einmal von Dingen. So etwas tut man nicht.
Die Bäume an der Straße des Dorfes Prätzschwitz irgendwo im tiefsten Sachsen blühen. Die Bienen kommen noch. Die Glocke läutet noch. Und alles wartet irgendwie auf die Rettung Konstantinopels … Leberecht Gottlieb indes hat in seiner Tübinger Seniorenresidenz die Zeitung „Glaube und Heimat“ abonniert. Das ist seine bescheidene Referenz an die Vergangenheit, die er im Osten glaubt, zurückgelassen zu haben. Er liest hin und wieder gern in dem bunten Blättchen, das ihm als lieber Gruß aus der Heimat regelmäßig zugestellt wird. Abbestellen – nein, das macht man doch nicht! Heute aber legt er die neue Ausgabe erschrocken aus der Hand. Der Pfefferminztee ist noch etwas zu heißt gewesen … Aber dieser Beitrag in G&H ist noch heißer. Da wollen sie also unser gutes altes Kreuz loswerden? Leberecht Gottlieb traut seinen Augen nicht … Freilich, – im fernen Stockholm hat sich der Eklat ereignet. Nicht hier in der Neckar-Stadt, der Stadt Karl Jaspers und Ernst Jüngers. Nun, – Hölderlins Tübingen flussabwärts mit dem frommen Stiftlern. Und dann auch noch sein Heidelberg – diese beiden Städte hatten für Leberecht Gottlieb zusammen mit Göttingen immer als Inbegriffe guter und alter Zeit gegolten, in der die Kirche noch Kirche war, die Gebildeten für die Kirche dachten, mit ihr und nicht gegen sie. Freilich - manchmal musste man auch contraire zu ihr stehen. Im heiligen Dreieck dieser alten kleinen großen Universitätsstädte, nein – da konnte es keine Kreuzesverleugnung geben. Nimmermehr. Wohl auch nicht in Leipzig, wo Leberecht Student gewesen und Dr. Johannes Faust gewirkt hatte. Die Sachsen sind helle.
Leberecht hatte im 63. Lebensjahr überlegen müssen, von wo aus er auf den Himmel warten sollte. In Dresden, Leipzig, in Heidelberg, in Tübingen oder in Göttingen? Da hatte er sich für Tübingen entschieden, denn in Heidelberg und Göttingen war partout kein Platz mehr zu bekommen gewesen. Aber im Laufe der letzten Jahre waren die frommen Städte alle miteinander verschmolzen. Und auch alle großen Denker waren zu einem einzigen Großen geworden. Leberecht Gottlieb vermied es, sie genauer unterscheiden zu wollen, denn die Bildnisse der besuchten Stätten und ehemals bekannten Geister rückten so dicht zusammen, dass es nahezu beängstigend wirkte. Auch Mozart und Händel, Haydn und Bach – sie waren einfach nur verschiedene Spielarten der großen guten und heiligen Musik. Wenn man alt wird, denkt Leberecht Gottlieb, dann spielen Unterschiede keine so wichtige Rolle mehr – dann ist man frei.
Aber was war denn mit seiner Kirche los? War die auch schon so alt geworden, dass Kreuz und Halbmond, Stern und Rad bereits eins zu werden drohten? Waren denn der Inder Buddha, Mohammed der Wüstensohn und der wirkliche Gottessohn mit dem Juden Mose untrennbar verschmolzen und versintert? Konnte oder wollte denn keiner mehr unterscheiden? Leberecht Gottlieb steht auf und geht an das Fenster. Er schiebt die Gardine nach links und schaut hinunter auf den Neckar. Träge gleiten die Wassermassen dahin, eine Gruppe fröhlicher Kinder winkt einem Schiff zu, das vorbeifährt. Heute ist der 24. Juni. Tag des Täufers, der die Christusankunft verkündete. Und nun das, – die Kreuze sollen weg? Das Schifflein entfernt sich in die eine – die Kinder in die andere Richtung.
Auf einem Schiff fahrend brachte die Kaiserinmutter Helena im vierten Jahrhundert das Kreuz aus Jerusalem nach Europa. Über das Mittelmeer fuhren sie auf dem Schiff, da ereignete sich ein großer Sturm, die Wogen schlugen in das Boot, so dass es zu sinken drohte. Der Mast war im Begriff zu brechen und das Meer die Kreuzfahrer zu verschlingen. Da nahm die Kaiserin einen der drei heiligen Nägel aus dem Kreuzesstamm und schleuderte ihn über Bord, so wie einst Jona über die Reling geworfen worden war. Und sogleich stand das Meer still. Man setzte die Fahrt bei ruhigem Wetter fort und kam nach Rom.
Dort teilte man das Kreuz. Einen Arm bekam Italien im Westen und einen Konstantinopel im Osten. Aber der Punkt, in dem die beiden Kreuzarme miteinander verschränkt gewesen waren, schwebte segnend über beiden Teilen des Reiches. Bei siebenhundert Jahren. Die alte Kaiserin hatte mit dem Nagel des Kreuzes das Mittelmeer beruhigt. Dort unten liegt er immer noch, der Nagel.
Aber wo ist dieser segnende Punkt wirklich, welcher das Kreuz ein Kreuz sein ließ? Darüber müsste man einmal genauer nachdenken. Sagt sich der alte Pfarrer Leberecht Gottlieb und geht an das Tischchen, wo das Glas mit dem Pfefferminztee steht. Er versinkt in Gedanken oder Ähnlichem.
Plötzlich schreckt er auf. Es hat geklopft. Das wird Ali Muhamad sein. Der alte Pensionist geht zur Tür und öffnet. Es ist Ali Muhamad. „Keine Problem! Herr Gottlieb! Bin ich nur“ sagt er und reicht dem Pfarrer in Ruhe die Hand. Der nimmt die und begrüßt den Angestellten seines Altersheims mit gemessener Aufmerksamkeit. Ali Muhamad wird ihn, Leberecht Gottlieb, jetzt die Etagen hinab begleiten. Beide werden dann ein wenig im Park auf und ab gehen, ein paar Einkäufe erledigen und der Syrer wird den alten Pfarrer wieder nach oben bringen. Dauer etwa anderthalb Stunden. Es würde Abendbrot geben – danach ein kleines Streichquartett. Brahms … Leberecht Gottlieb liebt Brahms. Wagner dagegen mag er nicht mehr. Sie fahren mit dem Fahrstuhl nach unten. „Heiß heute!“ meint der Begleiter. Er ist einer der Bootsflüchtlinge, die vor einem Jahr hier angekommen sind. Etwa achtundzwanzig Jahre alt. Ali Muhamad wohnt mit drei weiteren jungen Herren in einer Unterkunft nahe der Stadt. Er will Pädagogik und Erziehungswissenschaften studieren, sein Asylverfahren ist positiv abgeschlossen worden. Vorerst verdient er sich hier im Altersheim etwas Geld, von dem er einen Großteil irgendwohin schickt. Wo denn sein zu Hause sei, fragte Leberecht ihn einmal. „Zu Hause hier!“ war die Antwort. Dann hatte Ali Muhamad sein Hemd über die Schultern gezogen, so dass der muskulöse Rücken sichtbar geworden war. Auf dem Rücken war ein Christusmonogramm mit Kreuz tätowiert. Das Bild war ganz frisch und die Haut noch leicht entzündet. Leberecht Gottlieb hatte auf seinem welken Fleisch keine Tätowierungen anbringen lassen. Nur sein wacher Geist war über und über mit den Bildnissen der abendländischen Denktradition beladen und gezeichnet worden - oder auch belastet, kann man sagen, wenn man will. Eingebrannt dort bis zum letzten Fleck waren die Konterfeie der Heiligen und christlichen Märtyrer. Der Pfarrer hätte mit seinen Fingern fast auf die Wunden des konvertierten Mohammedaners gefasst. Ähnlich wie Thomas seinerzeit dem Jesus in die Wunden gefahren war. „Da kannst du ja nie wieder zurück?“ war seine Frage gewesen? „Mit dem Christuskreuz bist du doch geliefert!“ hatte er ernst gesagt. – „Is mir egal. Keine Rückkehr. Is mir egal!“ sagte Ali. „Will nicht zurück. Ich hier zu Hause wie Abraham!“ Leberecht suchte seit dieser Begebenheit nach einem neuen Namen für den abtrünnig gewordenen nunmehr Jünger des jüdischen Christengottes. Ali Muhamad für einen Christen – ging das denn? In Erfahrung zu bringen war, dass Ali Muhamad sich hatte tatsächlich taufen lassen. Natürlich - bei den Baptisten. Aber okay. Ausgerechnet da … Die Lutheraner hatten erst Bekenntnisse hören und Schreibübungen sehen wollen. Die alten Schwärmer der Reformation dagegen mochten dem Taufwilligen keine Schwierigkeiten bereitet haben.
Leberecht hatte vom Orient nur den Hafiz und Kalil Gibran kennen gelernt. „Ich werd ihn halt bei mir Kalil nennen“ dachte Leberecht bei sich selbst. „Und eines Tages werde ich ihm sagen, er möge sich selber einen neuen Namen suchen, am besten Christian oder Christoph.“ Der Fahrstuhl war unten angekommen und Kalil führte Leberecht in den Park hinaus. Sie wandelten zusammen durch die gepflegten Anlagen, an blühenden Rhododendren vorbei, unter schattigen Linden gingen sie und über gepflegte Rasenflächen. An einem Goldfischteich ließen sie sich nieder. Die Fische steckten ihre Köpfe hinaus und schauten, ob es Futter gäbe. Kalil zeigte auf die Fische und sagte: „Fisch!“. Leberecht schwieg. Das alte Geheimzeichen der Christen blickte aus der kühlen Tiefe zu ihnen auf. Einhundertdreiundfünfzigmal. Und das tätowierte Kreuz auf der noch entzündeten Haut des Mannes aus der Gegend, wo einst die der Wiege des Christentums gestanden hatte, brannte. Nicht wie die Hölle – sondern wie die Verheißung eines gewaltigen Feuers, welches Kraft hat, ein ganzes Leben lang zu wärmen …
Wie geht es weiter mit dieser wirklich schönen Geschichte? Ich vermute mal, Leberecht Gottlieb wird sterben müssen – ich meine eines natürlichen Todes. Und da ist keiner, der ihm beisteht. Nur Ali Muhamad – alias Kalil Gibran. Der Kämmerer aus dem Morgenland nimmt irgendwie dem Philippus die Beichte ab und avanciert später zum leitenden Direktor des Tübinger Altenheims. Rollentausch. Andere meinen, das ist alles ein ganz großer Schmarrn. Und kitschig noch dazu. Sollte die Welt wirklich so sein, wie ein Pensionist sie erlebt? Oder ist das womöglich der Bericht über eins der sieben Wunder der letzten eintausend Jahre?
Kitschig es es eigentlich nicht. Im Gegenteil: Die Auferstehungsanmutung mit der Kreuzeswunde auf dem Rücken des Konvertiten war dem Weltgeist ganz gut gelungen. Die lodernde Wunde des Ali Muhamad als Wunder dort am Teiche, wo der Fischzug des Petrus sich ewiglich vollzieht, weil die Fische nicht fliehen und doch leben und da bleiben - so wie die Rentner im Heim. Manche denken sich aber, es wird am Ende ganz anders kommen. Als eines Nachts im Monat November 2024 irgendwelche muselmanischen Terroristen sich in das Altersheim schleichen, tritt ihnen Kalil stolz entgegen. Sie erkennen ihn als rassisch zum eigenen Genpool Gehörenden, und fordern ihn auf, die verwundbarsten Stellen der Seniorenanlage zu offenbaren. Da zieht sich Kalil wiederum das Hemd über den Kopf und zeigt das kreuzförmig eintätowierte Christusmonogramm auf seinem Rücken. Er sagt: “Is mir egal. Hier ist die verwundbare Stelle!” Die Angreifer ziehen sich darauf wie gelähmt zurück. Leberecht Gottlieb hört von jenseits seiner fest verschlossenen Appartementtür, wie der ehemalige Moslem Christus bekennt. Und wie er seine eigene Haut dafür riskiert. Das haben die Bischöfe damals auf dem Tempelberg nicht getan - sondern sie haben ihre Kreuze abgelegt - und damit auch irgendwie abgelehnt. Leberecht Gottlieb stirbt auch nicht so schnell, wie die Leser vielleicht vermuten, – sondern muss noch bis auf 97 Jahre alt werden. Und läuft nochmal richtig zur Höchstform auf. Weil – er gibt Latein-, Griechisch- und Hebräischunterricht. Und kirchliche Dogmatik. Für Schutzsuchende. Eins nach dem anderen wird hier berichtet werden.
Leberecht Gottlieb ist nach der Absolvierung des Brahmsabends inzwischen wieder in seinem Appartement angelangt. Hat seine Medikamente eingenommen. Was gegen den hohen Blutdruck, Nahrungsergänzungsstoffe. Gingko gegen die Vergesslichkeit. Gegen die Traurigkeit Johanneskraut – und Vitamin D – gegen den Coronawahnsinn. Leberecht geht zu Bett. Fernsehen – nein. Bis an die Schwelle des Schlafs zu gelangen, dazu wird Marc Aurel ihm helfen. Von unten herauf hört man -und der Neckarstrom verstärkt das Geräusch - ein sanftes Anbranden – Straßenlärms rollende Reifen.
„Man muss erst so manches gelernt haben, ehe man über die Handlungsweise eines Anderen richtig urteilen kann.“ Sagt Aurel. Ja, das stimmt. Denkt Leberecht. „Wie du am Ende deines Lebens wünschest gelebt zu haben, so kannst du jetzt schon leben.“ Stimmt auch wieder. Sagt Leberecht laut und lacht leise. Neben ihm im Nachbarzimmer wohnt ein alter promovierter Studienrat, der tagsüber immer sehr laut redet. Er steht in Gedanken immer noch vor seiner Klasse. Leberecht bemüht sich, diesem Mann möglichst aus dem Weg zu gehen. Denn Leberecht hat immer noch Angst vor Lehrern. Leberecht redet leise. Was hat er in den Kirchen brüllen müssen, damit die Akustik niedergezwungen werden konnte. Kubikmeter eiskalte Luft dabei geschluckt. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Die Sterne blinzeln ins Zimmer. „Der Herr segne euch und behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten.“ Kubikmeter Luft. Jetzt wieder Aurelius, der Stoiker: „Der Schein ist ein gefährlicher Betrüger. Gerade wenn du glaubst mit ernsten und hohen Dingen beschäftigt zu sein, übt er am meisten seine täuschende Gewalt.“ O weh. Leberecht erschrickt. Er legt das Buch weg. Zuviel Weisheit und Wahrheit am Abend, das tut nicht so gut …
Auch ohne Buch kennt er den Aurelius. Das hier, was er gerade liest, ist besonders gut, und der alte Pfarrer betet es fast her: „Verzweiflung befällt zwangsläufig die, deren Seele aus dem Gleichgewicht ist.“ Das kann er nie mehr vergessen, diesen Spruch hat er sich eingeprägt. Und dann noch das Gebet der Hesychasten. „Jesus Christus, du Sohn Gottes. Erbarme dich unser aller.“ Die Nachttischlampe dimmt sich selber langsam herunter. Unmerklich, ganz unmerklich. Lux um Lux. Dann schauen von draußen nur noch die freundlichen Sterne herein. Die Gardine ist nämlich offen. Nach links geschoben, weil das Fenster rechts wandanschlagend in die Trockenwand zum Bad eingesetzt ist. „Jesus Christus, du Sohn Gottes. Erbarme dich unser aller.“ Die lieben alten Fixsterne. Beteigeuze, Altair, Almeda, Abtraiax schwimmen im Himmel und spiegeln sich im Neckar. Viele fangen mit A an. Wie Ali Muhamad. Sie schauen in Leberechts Zimmer, in dem er, Leberecht ganz ruhig liegt, als lebte er gar nicht mehr. Aber – er lebt. Am schönsten ist die Pause zwischen Ausgeatmet-Haben und noch nicht wieder einatmen-Müssen. Hier könnte man einmal auch gut sterben, denkt Leberecht. In der Atem-Senke der Bedürfnislosigkeit. „Jesus Christus, du Sohn Gottes. Erbarme dich unser aller.“ Aber jetzt noch nicht. Morgen wird Leberecht an das Ufer des Neckar hinab steigen, und Hölzchen suchen, die der Strom anschwemmt. Daraus wird er kleine Kreuze basteln. Wie früher in Prätzschwitz mit der Frauenhilfe – heute mit jungen Männern aus dem Morgenland. Mal sehen. Dann wird er ein Tattoo-Studio aufsuchen. Rein interessehalber. Ob das viel kostet? Sein Hautarzt wird ihm was! Aber das mit den Hölzchen ist eine gute Idee. „Verwirrter Mann verteilt Christenzeichen in Fußgängerzone. Geht ́s noch?“ Er sieht schon die Schlagzeile der Rhein-Neckar-Zeitung und der BILD. Dann berührt ihn der Schlaf und der Wind von Norden her bauscht leicht die Gardine.
Am nächsten Morgen erwacht der pensionierte Pfarrer Leberecht Gottlieb. Beschwingt, wie es sich für einen 89-Jährigen geradeso gehört, verlässt er das Bett und vollzieht die morgendlichen Waschungen mit und an seinem Körper. Dann fährt er mit dem Lift hinab in den Speiseraum. Der Studienrat ruft ihn von jenseits des Ganges an: „Auf ein Wort, Herr Pastor!“ Leberecht aber winkt ab und eilt zum Buffett. Müsli, Jogurt, Orangensaft und Schwarzbrot mit Honig und Margarine. „Man sollte in unserem Alter gesund leben, nicht wahr?“ dröhnt hinter ihm der sonore Bass des Studienrats. Nein, – er setzt sich doch tatsächlich direkt neben Leberechten und fährt fort, über lateinische Stammformen in der mittleren Epoche der Kaiserzeit zu referieren. Vor allem das Plusquamperfekt im Konjunktiv hat sein Interesse erregt. „Sie würden eingesammelt worden sein, oder besser: Sie wären eingesammelt worden. Lecti essent. Was meinen sie, Herr Pastor?“ drängelt er. Der Studienrat ist ein hiesiger Bürger. Immer in Tübingen geblieben. Dr. Johann Anton Pfleiderer lautet sein Name wohlklingend. Woher weiß er, denkt Leberecht Gottlieb, dass ich gleich Hölzchen einsammeln werde am Neckartrand. Er schweigt, isst, grüßt und geht. Nur keine wertvolle Lebenszeit vergeuden mit diesen Bildungshochidioten, denkt er, nickt und verlässt den Speisesaal, in den mit Hilfe von Rollatoren und Rollstühlen, Krücken und Gehstöcken die anderen Pensionisten peu a peu jetzt vermehrt Eintritt zu nehmen beginnen. Wir schreiben den 24.Juni 2024.
Ohne die Hilfe des Kalil soll es heute wacker voran gehen. Leberecht hat einen Gehstock mit Stocknägeln aus Thüringen am Mann. Auf diese Weise ist Marscherleichterung angesagt. Die liebliche Wartburg, die Dreigleichen, Altenburg und Bad Kösen, Naumburg, Halle, Alles was in der Nähe der Saale liegt, begleitet den ins Weite ausschweifenden Pfarrherren i.R. als miniaturikoneske Souveniersammlung. Einen Plasticbeutel führt Leberecht zusätzlich mit sich. Und einen Stadtplan. Tübingen nämlich ist keine kleine Stadt.
Am Strande des Neckar ist am Strande des Neckar. Aber nicht so, wie die Elbe den Spaziergänger an ihr Ufer treten lässt, ist dieser deutsche Strom voll ausgebaut und überall mit hohen Uferborden aus Stein zugemauert. Leberecht balanciert auf den Uferbefestigungen herum und sucht eine freie Stelle, dort, wo man an das Wasser gelangen kann. „He, alter Mann!“ ruft ein Kioskbetreiber Leberechten zu. „Lebensmüde?“ – Leberecht ruft zurück: „Im Gegenteil!“ dann hat er doch einen Durchbruch gefunden. Offenbar stoßen hier zwei Flußausbauabschnitte unterschiedlicher Zeit zusammen. An der Bruchstelle ist ein kleiner Pfad, der führt hinab. Das muss hier der Hirschgraben sein, denkt Leberecht und schon treibt ihn die Schwerkraft, die auch auf schiefen Ebenen wirkt, mit Macht an das Ufer des Stroms. Der empfängt ihn wie einen schon lang erwarteten Geheimbündler. Jede Menge Hölzchen gibt es hier. Auch Unrat – gewiss. Colaflaschen, Pappbecher und Zigarettenschachteln aller Verwitterungsstadien. Leberecht zieht viel Beute an Land. Lauter kleine Hölzchen in Fingergröße, blank gewaschen vom Flusswasser, gebleicht von der Sonne des Himmels. Etwa eine Stunde dauert der Fischzug. Er wird heute nicht zum Mittagessen zurück sein. Der Studienrat wird fragen: „Wo ist denn unser Pastor i.R.?“
Der Aufstieg zur Straße ist schwerer als gedacht. Leberecht stürzt öfter, als ihm lieb ist - sein Anzug nimmt etwas Schaden. „Scheiß drauf!“ murmelt der Pastor und arbeitet sich Zentimeter um Zentimeter ans Festland. Weil ein guter Engel seine Hand über Schenkelbasis und Handgelenke hält, geht von beidem nichts zu Bruch, denn es geht ja um die Verteilung des Heiligen Kreuzes unter die Schafe ohne Hirten.
Leberecht braucht nun noch Bindfaden. Den wird er sich besorgen. In einem Bastelladen.
Die Innenstadt nimmt den alten Kreuzzügler i.R. auf; in den kleinen Gassen der Stadt wird der Pensionist von jungen Leuten empfangen, die ihm Werbezettel, Duftpröbchen und alles Mögliche zustecken. Dort sind auch welche, die Krishnas Schriften verteilen, dort sogar hält man den Koran hoch. Leberecht eilt vorbei, ist er doch zwar kein Feind fremder Literatur, jedoch hält er sich an die unaufdringlicher duftenden Blüten des menschlichen Geistes und nicht zu denen, die eher ungewohnte Gerüche ausdünsten.
Nun steht er auf einmal vor so einem Tattooladen. Totenkopfkram und Drachenhäupter, Keltische Triskelen und arabisches Gekritzel, Piercings und Bilder aus tausendundnocheiner Nacht. Aus dem Laden heraus flutet ein violettes Licht auf die Straße und im Inneren der Bude erdröhnen dumpfe Klänge. Leberecht fasst beherzt seinen Stock und betritt das Etablissement. Eine spärlich bekleidete Dame mit blauen Lippen und violetten Fingernägeln und so einer Art bunten Frisur meint: „Wie können wir weiterhelfen?“ – Leberecht denkt kurz nach und fragt dann nach den Tattoopreisen. „20 mal 15 cm farbig mit Schatten etwa 250 Euro“ lautet die Antwort. Leberecht Gottlieb greift nach einem der herumliegenden Kataloge und schlägt ihn auf. Und da springt ihm die Hölle ins Gesicht. Schnell tut er dieses Büchlein der Qualen wieder zu. Inzwischen haben nach ihm junge Leute den Laden betreten, sie fragen nach diesem und jenem. Leberecht versteht nicht, worum es geht. Fachausdrücke werden hin- und her geworfen. Dann gehen die Jungen wieder nach draußen und Leberecht, der Alte, sieht sich die Lippen der Dame an. Sie sind durchstochen. Auch die Ohren und Augenbrauen. Es sieht zum Gotterbarmen aus. Leberecht fragt nach einem starken dünnen Bindfaden. Die Frau sieht ihn mitleidig an. Aber es ist hier nicht Berlin, sondern Tübingen. Da ist auch der letzte Allerletzte höflich und charmant. Wozu er den Faden brauche. Für die Herstellung von kleinen Holzkreuzen. Die Dame sucht in einem unter dem Tresen gelegenen Kistchen und zieht eine Rolle sehr festen geteerten Faden hervor. „Darf es der sein!“ fragt sie nonchalant und Leberecht sagt „Ja!“. Schon tastet er nach seinem Portefeoille – da bekommt er den Faden geschenkt. „Gut Kreuz!“ sagt die Frau und fährt fort: „Kreuze habe ich früher auch gemacht. Und – die sind bald wieder im Kommen. In der Branche!“ sagt sie und dann steht Leberecht schon wieder auf der Straße und sucht sich eine schattige Bank.
Dort sitzend legt er die Hölzchen zurecht und baut nun Kreuze aus Schwemmholz. Er bindet die beiden Balken rechtwinklig zusammen und schnitzt mit dem Messerchen von Irene die vier Ecken so spitz, bis sie fast stechen. Es sind für heute acht Kreuze entstanden. Leberecht macht noch eine Schlaufe dran, so dass man sich seine Kreuze umhängen kann. Er selbst streift sich das achte übers Haupt. Dann geht er zu den Krishna- und Koranleuten und stellt sich mitten unter sie – wie das Schaf zwischen die anderen Schafe. Aus den Lautsprechern der beiden Gruppen dringt links ein Mantra, rechts irgendein - an abendländischer Tonalität gemessen - unkorrekter Gesang. Die Schriftenverteiler rekrutieren sich aus gut trainierten Bärtigen auf der rechten Seite, auf der anderen sind es vegan ernährte und deshalb eher magere Knaben.
Und nun kommt der Auftritt des emeritierten alten Pastors und Pfarrers in Ruhe Samuel Leberecht Gottlieb aus Prätzschwitz in Sachsen. Mit sieben ihm verbliebenen Kreuzen steht er zwischen den dudelnden Bluetooth-Boxen und erhebt seine Stimme wie früher in den Kirchen seiner Parochie. „Ihr Männer, liebe Brüder. Schwestern auch, Geliebte in dem HERRN!“ hebt er an.
In diesem Moment beginnen die Glocken der Heiliggeistkirche an zu läuten, die Krishnakoranleute packen ihren Kram zusammen und verlassen den Platz. Denn kein Wort ist mehr zu verstehen bei dem Summen und Brummen der auf- und abschwingenden Bronzemassen. Auch die Jünger des sattsam bekannten Arabers verlassen Leberechten. Der wartet, dass die Glocken verstummen würden. Sieben Kreuze hängen an den fünf Fingern seiner linken Hand.
Ja, es war St. Johanni, der Tag des Massentäufers von ehedem. Die Heiliggeistkirche hatte auf dem Marktplatz von Tübingen geläutet. Laut, ausgiebig und mit ernstem Ton. Es ging diesem Läuten nicht um Wiedergeburt innerhalb eines Inkarnatiosrades. Es ging auch nicht um die akustische Unterstützung beschwörender Gesänge vom weltumspannenden Kalifat. Es ging um die Rettung des Einzelnen und um dessen Hinführung zur Quelle des Geistes, – das ist die Heilige Schrift besonders des Neuen Testaments. Die Glocken hießen CHRISTUS, MARIA, DREIFALTIGKEIT und IMMACULATA. Mit einem mächtigen Durdreiklang hatten sie die Taubenschar auf dem Platz zu phantastisch kreisendem Fluge angeregt – und die „Irrlehrer in Moll“ sofort vertrieben. Leberecht stand aufrecht mit den sieben Kreuzen in der Hand unter zwei Weißdornbäumen – und kam sich (ehrlich gesagt) komisch vor. Genauer gesagt, die Situation fühlte sich deutlich „brüsewitesk“ an. „Ist das nicht etwas zu sehr brüsewitesk?“ fragte man früher im Pfarrkonvent ratlos, wenn sich wieder irgendein Kollege, der seinen Beruf zu ernst genommen, auf die Obstkiste gestellt oder sich öffentlich hatte widertaufen lassen, was im Nachgang mit lehramtlichen Verhören und, zwar selten, aber dann hie und da doch, mit disziplinarischen Aktionen geahndet worden war. Wie etwa jetzt erneut in der östlichen Heimat geschehen ein mutig unverdrossener Gottesmann, der sich anheischig gemacht hatte, dem Massenkult, welcher vor drei Jahren um das Virus Corona angehoben hatte, mit einer einfachen Predigt im oberfränkischen Sonneberg trotzen zu wollen. Der Mann mochte zwar, wie sich langsam aber sicher gegenwärtig herausstellte, mit allem, was er damals sagte, Recht haben. Aber die Zeit der sogenannten kirchlichen Schuldbekenntnisse war im Führungshäuschen der der EKD-Leitung noch nicht eingeläutet worden. Anders gesagt, es war noch nicht so viel Gras über die Sache gewachsen, dass man sich hätte gefahrlos von allem angerichteten Übel hätte reinwaschen können. Und! Nun wollte zu allem Unglück der besagte Kollege (dessen Namen wir an dieser Stelle nicht preisgeben müssen, da er ohnehin in aller Munde ist) auch noch auf einer fatalen politischen Liste diesen seinen Namen lesen lassen, was ihm erneut Schwierigkeiten eintrug. Es war klar, dass jene Partei, um deren Liste es sich handelte, durch öffentliche Abstrafung revoltierender Personen beim Mann von der Straße nur weitere Prozentpunkte einsammeln müsse. Der ganze Kladderadatsch würde sich im September bei den drei Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg entladen. Und dann würde auf allen Seiten guter Rat sehr teuer werden.
Leberecht Gottlieb ging nie zur Wahl. Zur Zeit seines Dienstes als Pastor in der Sowjetischen Besatzungszone hatte er die lästigen Urnenschlepper, welche regelmäßig an den Wahltagen an seiner Pfarre schellten, um ihn das Kreuz auf dem Wahlzettel abzupressen, in lange Gespräche verwickelt und war stets ein beißender Kritiker der Doktrinen von Lenins Jüngern geblieben. Er war auch ganz bewusst k e i n Demokrat. Als das Volk 1989 auf die Straße ging, sah Leberecht vom Fernsehgerät aus zu und schüttelte bedenklich den Kopf. „Wenn das Volk regiert, führt das früher oder später in die Katastrophe!” lautet eines seiner Logien, die er aber nie öffentlich machen wollte. Leberecht hatte auch nie verlautbaren lassen, wie er eigentlich nur für das alte Dreiklassenwahlrecht seine Hand ins Feuer legen mochte. Er hatte seinen Oswald Spengler verstanden; Ernst Jünger und Carl Schmitt waren seine Zeugen, auch der alte Ratzingerpapst - Gott habe sie alle selig - zusammen mit Bismarck. Jedoch hielt sich der kluge Mann politisch meistens zurück. Als Geistlicher unterlag man ja Gott sei Dank dem Mäßigungsgebot und bei tagespolitischen Fragen der vornehmen Zurückhaltung. Insofern war der alte Pfarrer i.R. mit seinem persönlichen Kreuzzugsprojekt jetzt über das Maß seiner sonstigen Gewohnheit - sehr weit - hinausgeschossen.
Das Geläut der Tübinger Kathedrale dauerte lange – etwa zehn Minuten. Zehn Minuten für Johannes den Täufer. Soviel Zeit muss sein. Leberecht bekam durch diese klangliche Unterbrechung des Markttreibens Zeit geschenkt. Er legte sich eine kleine Rede zurecht, und erinnerte sich an Pauli Auftritt zu Athen – und den Petri zu Jerusalem. So etwas in der Art sollte jetzt folgen. Als das letzte cis der Immaculata verklungen war, ließen sich die Taubenvögel in der Nähe Leberecht Gottliebs nieder, er stieg auf eine Bank, reckte die Hand mit den sieben Holzkreuzchen in die Höhe, öffnete seinen Mund weit, erhob seine Stimme und rief: „Kommet her zu mir alle, die ihr noch immer ohne das Zeichen des Heils umherirret. Nehmt von mir an das Kreuz Jesu Christi, den Schlüssel des Heils.“ Ein paar Köpfe wandten sich Leberecht zu, ein Kind fragte, was der Onkel dort riefe. Die Mutter sagte irgendwas mit „keine Ahnung.“ Einige Obdachlose schlurften in die Richtung Leberechts, und ein Polizist straffte seine Haltung. Leberecht Gottlieb aber lief zur Höchstform auf. Es war, als ob der Heilige Geist in ihn gefahren wäre – vielleicht war es auch so, denn die Tauben umkreisten ihn im Schwarm und klatschten mit den Flügeln immerfort.
Was sollen wir berichten? Leberecht Gottliebs Rede ist nicht überliefert. Schriftlich nicht. Sie ergriff am ersten Tag sieben. Am zweiten Tag vierzehn. Dann achtundzwanzig, sechsundfünfzig am vierten, und am fünften einhundertzwölf. Zweihundert- vierundzwanzig – ihr könnt euch leicht denken, wie es weiterging. Bald nannten sie Leberecht Gottlieb in Tübingen nur noch den „Taubenmann.“
Der alte Pfarrer kam kaum hinterher, die Kreuze zu verfertigen, die jeder, der eines haben wollte, sola gratia mit auf den Weg geschenkt bekam. Ali Mohamad, der jetzt nur noch Kalil Christopher gerufen wurde und sich selber Ibn Christianos zu nennen begonnen hatte, half Leberecht beim Einsammeln der Hölzchen im Neckar und beim Zusammenfügen der Vertikalen mit der Horizontalen. Man holte auch noch mal bei der Tattoofrau eine neue Rolle Garn. Die Kreuze des Taubenmannes waren gefragt.
Diese Kreuze – wozu dienten sie? Das war das Sonderbare – ganz unterschiedlich. Dem einen halfen sie beim Lernen des Alphabets. Dem anderen beim Üben des Fahrradfahrens. Wieder einem beim Abgewöhnen des Rauchens. Einer umsegelte die Welt – und nahm das Kreuz als Schutzzeichen mit. Ein anderer ging ins Gefängnis, mit dem Kreuz. Eine nahm das Kreuz mit ins Bett – und träumte nicht mehr so schlecht. Ein anderer schmückte sich damit – zu denen gehörte Leberecht zum Beispiel sogar selbst. Auf der vergilbten Haut des fast Neunzigjährigen ruhte das Zeichen der Erlösung über dem Brustbein, hinter dem die Antike den Sitz der Seele vermutete. Einer nahm das Kreuz Leberechts mit zum Sterben ins Hospiz. Jeder dorthin, wohin er unterwegs war. Einer schenkte es einem anderen – und so waren diese Kreuze schließlich sogar in Schweden angekommen. Dort war der Name Leberecht als Lebeecht angekommen. „Is mir egal!“ sagte der Pfarrer, als er davon erfuhr.
Nur, dass die Zeitungen sich über die Neuankunft der Kreuze in Schweden – und übrigens auch in den deutschen Klassenzimmern hier und da – nicht zu berichten getrauten. Und das war eigentlich schade. Denn man soll nicht nur das Schlechte in der Welt herum posaunen, sondern auch vom Guten erzählen. Was aus Leberecht Gottlieb schließlich geworden ist, wissen wir nicht. Es geht die Mär, er wäre dann doch wieder nach Dresden gegangen, um von hieraus Reisen in die Zeit hinaus (sowohl Zukunft als auch Vergangenheit) zu unternehmen. In Sachsen sind sie Leute nämlich am frömmsten. Vielleicht habt ihr davon bereits einiges vernommen? Manche meinen sogar, die Bewegung der sogenannten "Gottliebianer", welche sich ab 2025 im finsteren Erzgebirge gebildet hatte, und von der ausgehend eine Welle der Erneuerung der Evangelischen Kirche in ganz Deutschland anhob, sei auf den betagten sächsischen Pfarrer zurückzuführen, der aus einem Altersheim heraus die Kirche wieder auf den rechten Weg des Glaubens und weg von den Entartungen des "Epoche des großen Unsinns" geführt hatte, wie jene Epoche heute in den Schulbüchern genannt wird: Epoche des großen Unsinns. Andere behaupten, Leberecht sei nach Indien gegangen, wie seinerzeit Jesus mit Maria Magdalena, nur ohne Magdalena. Das aber ist wahrscheinlich Quatsch …
Gott allein weiß, was aus Samuel Leberecht Gottlieb, dem Pfarrer aus Prätzschwitz im sächsischen Lande geworden ist. Es ist auch nicht schlimm, dass wir darüber nichts Genaueres wissen. Denn die Kreuze dieses alten weißen Mannes kann man sich schließlich selber basteln. Wichtig ist dabei, dass der Horizont mit der Vertikalen in einem einzigen Punkt fest verbunden wird.
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