vom Zahnaer Archivarius Seidel im Jahre 1719
Leberecht Gottlieb Teil (93a)
... das besondere Kapitel, welches uns an den Bordstein der Erinnerungen führen wird, mit Hilfe derer Leberecht Gottlieb sein bis dato absolviertes Leben beurteilen muss. Wir lernen Archivarius I.H.Seidel kennen, ohne den vieles von jenem, was hier berichtet wurde und noch berichtet werden wird, gar nicht möglich gewesen wäre …
In der "Schrift vom Violetten Engel", die Leberecht kurz vor Beginn seines regulären Ruhestandes auf dem Athosberge drei Wochen lang studiert hatte, war gleich am Beginn gemahnt und dem Leser eindringlich empfohlen worden, sich definitiv "zu erinnern." Man müsse sich an alles erinnern, so stand es auf der ersten Seite unmissverständlich zu lesen. Zugleich wurde in Aussicht gestellt, dass diese Erinnerung unter Umständen bitter und nicht ganz leicht werden würde. Unter Umständen sogar schwer. oder auch sehr schwer. Denn der Weg führt, wie das Wort schon sagt, nach innen. Erinnerung? Sie ist nicht nur das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Sie ist auch das, was aus dem Paradies auf ewig vertreiben kann. Deshalb ist es wichtig, zuerst zu erinnern - und dann auch die Erinnerung wieder zu vergessen … Warum übrigens Leberecht den Athosberg bereiste - das wird in einem späteren Kapitel Thema sein.
Leberecht Gottlieb wusste - und hatte es den Jildim Hakochabim eben noch einmal unmissverständlich als Geheimnis seines Lebens preisgegeben, dass er selber Zeit seines Lebens Büchern auf der Spur gewesen war. Und Zeit seines Lebens einem bestimmten Büchlein ganz besonders. Es ist das „Buch vom Violetten Engel mit dem goldenen Siegel”. Um die Eigenart dieses Büchleins zu verstehen und seinen Wert recht ermessen zu können, sollten wir etwas weiter ausholen. Die Leser müssen jedoch nicht verzagen und befürchten, dass es bis zu Adam zurückgeht, wenn wir auch bis dorthin tatsächlich wandern müssten, um vollumfänglich alles Nötige berichtet zu haben. Wir fangen aber einfach ganz praktisch in der Mitte der Geschichte des Büchleins an und überliefern nur das, was unbedingt für das Verständnis der Dinge von Belang ist.
Also - vor langer Zeit lebte in dem kleinen mittelalterlichen Städtchen Zahna an der Zahna ein Archivarius. Zahna liegt im Norden des alten Königreiches Sachsen; seit dem Wiener Kongress aber ward Zahna vom sächsischen Mutterlande abgetrennt und liegt nun in der Verlassenheit eines künstlichen Gebietes - Sachsen-Anhalt genannt - , welches nach dem letzten großen Kriege aus einer Preußen zugeschlagenen ehemaligen Provinz und anderen kleinen Herzogtümern hervorging. Der Archivarius hieß mit Namen Seidel. Und dieser Mann kannte sich aufs Beste und Feinste mit allerlei Handschriften aus; er liebte dieselben und das Bibliothekarische sowieso.
Wir schreiben das Jahr 1719. Bei Seidel handelt es sich zugleich um jenen Mann, welcher die Kopien aus der Traumkiste Martin Luthers an sich brachte. Von dieser Kiste wird noch zu berichten sein, vorerst muss uns genügen, dass es sie gibt - oder gab - eine Kiste mit den handschriftlichen Aufzeichnungen der Kinderträume Martin Luthers, von ihm selbst verfasst. Seidel für seinen Teil war ein kauziger Geselle, er neigte dazu, die Seelenwanderungstheorie Emanuel Swedenborgs im Blick auf geistige Dinge im Allgemeinen für eminent hilfreich zu halten, verehrte auch seinen ehemaligen Zahnaer Pfarrherren Schumann, für den er tätig war und von dem wir weiter oben schon gehört hatten, wie er Bartholomäus Ziegenbalg das indische Buch von den Planeten ausgeliehen hatte. Aus den Bibliotheksakten, dem geistigen Umfeld Swedenborgs und noch anderen Gedanken sog der Archivarius einen überaus speziellen und nahrhaften Honig, der das Leben in der finsteren Bibliothek der Zahnaer Pfarrei, wo Seidel gemeinsam mit dem Pfarrer Schumann arbeitete, versüßte und jene Bitterkeit vertrieb, welche alte Männer nicht selten befällt, wenn sie merken, dass die Lebensjahre sich dem finis finium anzunähern scheinen.
Dem Archivarius Seidel war vom Himmel her kein Weib gegönnt gewesen und seine Studiengefährten waren inzwischen alte und gebrechliche Leute, die der Sturm des Schicksals in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatte. Er aber war immer noch in der Bücherstube, fand daselbst und forschte viel. Mit den Büchern dort stand er nach wie vor auf gutem Fuß. Auch als Greis ist man nie auf sich allein gestellt, wenn man Bücher liebt. Bücher werden zu so etwas, wie man sich gern den besseren Menschen vorstellen darf …
Das Archivarsamt, das Seidel gewissenhaft ausfüllte, brachte es mit sich, dass ihn hin und wieder auch Menschen aus Fleisch und Blut aufsuchten und in dieser oder jener Sache befragten, weil Seidel es war, der den Auftrag zur Verwesung der sonst vakant gebliebenen alten Pfarrbibliothek zu Zahna an der Zahna erhalten hatte - welcher Auftrag mit der stolzen Namensbezeichnung eines sogenannten Archivverwesers altväterisch betitelt worden war. Sein ganzes Leben hatte Seidel der Erhaltung von Quellenschriften verschrieben.
Unser Mann betrat täglich sehr früh seine Bücherstube, die sich ihm aber, wenn er in die Welt der seltsamen Geschichten und Historien eindrang, in ein weitläufiges Universum des Sinns und Geistes zu verwandeln schien. Seidel hatte um das Jahr 1719 bei etwa dreitausend erlesene Schriften - zumeist mit der Hand noch geschriebene - in den Regalen vorrätig. Aus aller Herren Länder waren sie nach Zahna zu ihm zugekommen. Einige Lichtlampen brannten neben seinem Pult und verbreiteten ein geheimnisvolles Leuchten, das die braunen Bücherrücken aus Rinds- und Schweinsleder angenehm schimmern ließ. Und wenn der Archivarius die Gedenkblätter längst vergangener Zeiten hervor nahm und fleißig studierte, drang ein zusätzliches Leuchten in das alte Archiv wie von tausend Himmelschlüsselblumensträußen ausgesandt.
Wenn Seidel eine der von seinem Pfarrherren Schumann gesammelte noch nie gelesene Urkundenrolle entdeckte, das verstaubte Siegel abstreifte und den Sinn der geheimen Worte und Buchstaben entzifferte, wurde es ihm innerlich warm und wohl, obschon sich in dem Bibliothekszimmer ansonsten eher die erbärmlich grimmige Kälte bis hoch hinauf in den Sommer zu halten pflegte, denn die Fenster empfingen, obwohl sie nach Süden hinaus lagen, kaum einen Lichtstrahl, weil draußen das Kirchengebäude Sankt Ulbert, ein düsteres altes Gemäuer mit hohem Dach bis fast auf die Tage des Monats Mai das meiste Licht verschluckte und den Archivarius ohne Wärme in seiner Klause zurückließ.
Wenn er aber in seiner Aktenwelt weilte, man sah ihn dann gebeugt am Pulte stehen – war er entrückt und selig mit sich selbst, trotz aller Kälte. Imagination erwärmt. Seidel brummelte leise vor sich hin: Alte Sprüche und Zauberverse, die er irgendwo gelesen, denn er kannte sich auch in den fremden und weit entfernten Bibliotheken der ganzen Welt aus, ob sie nun am Nil standen, am Ganges gelegen oder in Florenz waren, dem Vatikan oder in der grünen Hölle des südamerikanischen Kontinents - der übrigen Fachwelt zwar unbekannt, ihm aber genauestens vertraut. Auf das Pfeifenrauchen und die Zigarren hatte er im Laufe der Jahre verzichtet, denn Hygieia, Göttin der Gesundheit, hatte es ihm bedeutet, er trank wohl hie und da einmal ein schäumendes Bier oder einen Pernot. Oder drei … Im Übrigen war er ein Feinschmecker und das war zu verzeihen, denn das Lesen und Forschen in altertümlichen Angelegenheiten kostet gerade so gut Kraft, wie sie erforderlich wäre, um in jene fernen Länder und vergangenen Zeiten mit der Kutsche zu reisen.
Archivarius Seidel wusste nun von einem Traum, der ihm schon von Kindheit an nicht aus dem Kopfe ging und sich dort fest eingenistet hatte. Es träumte ihm zuweilen, er selbst – der Archivarius – ginge als kleiner Knabe eines Tages in einer sehr alten und überaus ehrwürdigen Bibliothek lange auf verwundenen Treppen hinauf und hinab, durchquerte dabei viele erzene und schwere Pforten und dämmerige Räumlichkeiten, bis er schließlich an eine Wandnische gelangte, auf der wie mit geheimnisvoller Leuchtkraft ein Zeichen gemalt war, das einen Buchstaben vorzeigte, der eine Mischung aus einem I, einem H und einem S zu sein schien, ganz absonderlich und auf merkwürdige Weise zur Ligatur ineinander verschlungen.
Oft schon hatte Archivarius Seidel über diesen Traum nachgedacht. Eigentlich dachte er immer darüber nach. Zuerst hatte er gemeint, das seien die Anfangsinitialien unseres HERRN Jesus Christus, des Gottessohnes und Heilandes. Aber später merkte er, dass es zugleich wohl auch seine eigenen Buchstaben sein könnten, da ihn seine Eltern wie den Lieblingsjünger des Meisters Ioannes genannt, zusätzlich seines Großvaters Namen Henoch aber noch mit dazugetan haben wollten. Und Seidel hieß er doch auch - und dieser Name begann mit dem Buchstaben S. Also alles zusammen: I.H.S. In seinem Traume streckte Seidel immer die Hand aus und griff mit Beben und Zagen in die Nische der Wand. Dort erfasste die Hand ein Pergament, das er flugs in den linken Ärmel seines Gewands schob, um dann die Treppenstufen wieder hinaufzusteigen. Raub? Nein! Kein Raub! Standen doch seine eigenen Initialen darauf:
Ioannes Henoch Seidel.
Immer an derselben Stelle endete der Traum. Jedesmal. Nun hoffte Seidel inständig, dass dieser Traum einmal wirklich in Erfüllung gehen würde und er einen ganz besonderen und großen Fund tun könnte, etwa so, wie der wundersame Fischzug des Heiligen Petrus ein solcher gewesen war.
Eines Tages hörte er nun, gerade als er vertieft im Bericht des großen Feuerbrandes der alexandrinischen Bibliothek in ferner Vergangenheit meditierte, hörte er ein lautes Laufen und Rennen drunten auf der Gasse, die Glocken hatten unvorschriftsmäßig zu läuten begonnen und Vögel durchquerten mit Schrei und Gekreisch die Lüfte, Tiere liefen draußen am Fenster vorbei und bald vernahm er auch die Ursache der Hast. „Feurio, Feurio“ hörte man rufen und das Scheppern von Eimern und Kannen mischte sich ein, denn die Menschen hatten eine Kette gebildet, durch die bald ein Auf und Ab der vollen und leeren Eimer hin und her ging, vom Brunnen nach dem brennenden Rathause und wieder zurück.
Der Archivarius war aber in seine Lektüre dermaßen vertieft, dass er nicht gewahr wurde, wie der Brand der alexandrinischen Bibliothek das eine und der offensichtlich in seiner Heimatstadt Zahna an der Zahna eben ausgebrochene Brand des Rathauses nicht dasselbe – sondern beides völlig verschiedene Ereignisse waren, die zeitlich gesehen viele Jahrhunderte auseinander lagen ... So kann es einem gehen, wenn man sich in die Bücher vertieft und die Realität draußen mit dem Buche verwechselt.
Nichtsdestotrotz versenkte sich Seidel immer tiefer in jenen Bericht, den ein gewisser Kritius Aleximander im Jahr 391 verfasst und nach eigenem Augenzeugnis niedergeschrieben haben wollte. Dem Archivarius war das nicht geheuer, denn er merkte sehr bald, dass der Bericht nicht echt, sondern aus Sensationslust aufgebauscht und mit vielen Einzelheiten ausgestattet worden war, um den Leser zu beeindrucken und eine gewesene Augenzeugenschaft vorzutäuschen.
Da war zum Beispiel jene absonderliche Passage, in der Aleximander beschreibt, wie aus dem Bibliotheksfenster Pergamente und Buchteile herauswirbelten, durch den ungeheuren Luftzug der Brunst angefacht und in Bewegung gesetzt, wie er selbst, Aleximander, diese Fetzen gesammelt und alsbald wieder abgeschrieben und in ein kleines feines Büchlein gebunden und bei sich in der Studierstube verwahrt habe. Dann sei aber ein großer purpurner Engel erschienen und habe das Büchlein abgefordert, denn es wären darin geheime Sprüche enthalten, auch Berichte vom Gottessohn und seiner Wanderung durch Galiläa, welche als Buchexemplar nur noch ein einziges Mal auf dem ganzen lieben Erdenrund vorhanden sein sollte – und wer diese Seiten besäße, der käme in den Besitz einer unschätzbaren Macht, könnte das Elixier bereiten, Kot in Gold und Gold wiederum in Kot verwandeln, die Liebe der Frauen sich jederzeit gefügig machen und Ruhm als auch Ehre in unbegrenzter Menge erlangen, – könne auch die himmlischen, was aber noch problematischer wäre, die nichthimmlischen Mächte auf seine Seite ziehen. Aleximander hätte dem Engel aber das Büchlein nicht hergeben wollen, da sei der Engel grob geworden und hätte es einfach davongetragen. Aleximander schreibt nun, so der Bericht, er habe aus dem, was ihm von jenem Büchlein noch im Kopf übrig gewesen, schnell eine Gedächtniskopie gemacht, aber das meiste sei auf immer leider doch verloren gegangen.
Seidel meinte nun immer, dass doch irgendwo der Engel das Büchlein hätte verwahren müssen, denn in die Dimensionen seiner englischen Existenz hätte er es unmöglich tragen können, denn das Papier war ja grob und vielleicht sogar in Schweinsleder gebunden gewesen, so dass es nicht ins Jenseits entführt, sondern immer im Diesseits bleiben solle. Und dann war da noch zusätzlich ein zweites Exemplar der wunderbaren bibliophilen Rarität. Nur wo?
Seidel lehnte sich zurück und seufzte tief. Das wäre einmal ein Fund! Diese vom Engel geraubte Schrift! Und wenn sie nun hier läge in seiner Bibliothek in irgendeiner Kiste verschollen oder drüben im Zahnaer Rathause, welches zwar zumeist nur unnützes und albernes Geschreibsel aus der sächsischen Hauptstadt Dresden inventarisiert habe, aber auch einige Kisten der Bibliothek des alten Stifts barg, von denen Kisten niemand etwas Genaues wusste, denn diese Behältnisse waren zur Einsicht seit Jahrhunderten verboten – in Wirklichkeit aber waren diese Kisten vielleicht nur in der Unaufgeräumtheit eines unkundigen Verwalters verschollen, der sich schämte zuzugeben, dass er seinen Kram nicht in Ordnung gehalten hatte. Wer weiß …
Draußen war das Rennen und Laufen schwächer geworden. Der Archivarius schaute hinaus und nun endlich schien ihm zu dämmern, dass die ganze Stadt Zahna, woselbst er zugegen, wohl in Flammen stand und gänzlich zu verbrennen eben im Begriffe sich befand. Es war also gar keine Historie, sondern die sogenannte Wirklichkeit, welche sich jetzt gerade in diesem Augenblick zur Historie machtvoll entfaltete, und zwar vermittels eines großen und gewaltigen Stadtbrandes!
Die Menschen und Tiere waren sämtlich schon entflohen, das Treiben mit Eimern und Kannen war bald aufgegeben worden, weil nutzlos, – und aus den Fenstern des ehrwürdigen Rathauses wehten brennende Vorhänge, Scheiben zerbarsten mit lautem Knallen und die Dachschindeln sausten umher wie auf Kometenschweifen.
Kaum traute der Archivarius Seidel seinen Augen, trat deshalb auf die Gasse hinaus und bemerkte den schrecklich heißen Windhauch, der durch die Straßen fegte und alles mit sich riss, was nicht irgendein größeres Gewicht hatte. Aus den Fenstern der Stadtbibliothek, zu denen er jetzt seine von der Glast geröteten Augen emporhob, wirbelten die brennenden Seiten und Büchlein, verkohlte und unverkohlte, weiße und schwarze flogen heraus und hinab in den Straßenkot.
Der Archivarius stürzte in seine Arbeitsklause und wieder hinaus, dann wieder hinein, was war noch zu retten? Was war im Stich zu lassen? Er griff nach dem Lexicon Universale Historico-Geographico-Chronologico-Poetico-Philologicum von Johann Jakob Hofmann – und verwarf gleich wieder, dieses gewaltige Werk spätbarocker Bildung hinaus auf die Straße zu schleppen. Er hatte Walchs Ausgabe der Schriften Luthers zur Hand – und stellte sie wieder hin. Zu schwer! Die Gutenbergbibel? Die Truglisten des Gottes Pinoquizoquatel?
Was, was, was – was galt es zu retten? Schließlich beschloss er, sein eigenes Leben dem der Bücher vorzuziehen und stürzte hinaus und durch die Straßen der Stadt davon in Richtung des kleinen Flüsschens Zahna, welches den Wiesen der Bauern und Ackerleuten Wasser auf die Weiden und der Stadt ihren Namen gab. Jedoch hob er – irgendwie nur so im Vorübereilen – ein kleines angesengtes Büchlein auf, das gerade aus dem Fenster der Stadtbibliothek vor seine Füße fiel (man bleibt eben immer Archivarius - auch wenn es brennt) und steckte sich das schmale Bändchen unter das Hemd an den nackten, klatschnassen weil schwitzenden Leib. So rannte der Mann aus der Stadt hinaus, welche hinter ihm zu einem Haufen Asche verzehrt wurde.
Am übernächstenTage wanderte Seidel zu dem lieben Amtsbruder Schumanns Gotthold Thaddäus Allmer in das nahe gelegene Dorf Rahnsdorf und bat diesen, ihm Obdach zu gewähren. Nur auf solange, bis die Menschen der verbrannten Stadt dieselbe wieder notdürftig aufgebaut und in Stand gesetzt hätten, was freilich lange dauern würde, und er selbst sich etwas von dem Schrecken erholt hätte, um nach dahin zurückzukehren … Der Freund Schumanns, der von der Seefahrt begeistert, eben emeritiert worden war und vorhatte, in den nächsten Tagen nach dem Indischen und dann über Afrika auf Konstantinopel zu gehen, sagte zu, bot dem Abgebrannten das Rahnsdorfer Pfarrhaus für die nächsten Monate, vielleicht sogar Jahre (wenn die Behörde es erlauben würde) zum Wohnen an – und so hatte der Archivarius Gelegenheit, jenes Büchlein, das er an dem schrecklichen Brandabend zu sich genommen hatte, genauer zu erforschen.
Wie aber staunte er, als er auf dem Deckel des nur leicht in Mitleidenschaft gezogenen inneren Büchleins die Initialen IHS gewahrte, welche er als die Zeichen seines alten Kindertraumes erinnerte. Genau das Büchlein des Kritius Aleximander, von dem er gemeint, es sei nur eine Fälschung, hatte ihm die Feuersbrunst da zu Füßen gelegt? Womöglich sogar das zweite und vollständige Exemplar?
Der Archivarius nahm sich vor, das Büchlein sofort zu veröffentlichen. Denn er hatte ein Gelübde getan, sein Leben der Bewahrung und Edition alter wertvoller Quellenschriften zu weihen - das aber hatten wir ja bereits weiter oben schon angesprochen.
Jedoch besann Seidel sich bald eines Anderen und, wie er meinte, Besseren. Er kehrte in die abgebrannte Stadt zurück und tröstete die Menschen, stand Sonntags mitsamt dem Pfarrer Schumann in der Ruine der von den Flammen ausgeglühten alten Umbertikirche und redete allen Leuten guten Mut zu. Abends und nachts aber saß er in der erhalten gebliebenen Sakristei des vernichteten Bauwerks und las das Büchlein von hinten und von vorn. Er prägte sich jeden Buchstaben und jedes Krakelchen genauestens ein, er memorierte das Büchlein beim Essen, beim Gang nach draußen, bei allem, was er tat und nicht tat, las er das Büchlein.
Und als eines Tages der strenge violette Engel herein trat, da gab er das Büchlein artig und mit feinem Lächeln ab und sagte freundlich: „Nehmet es nur hin, Herr Engel! Und versteckt es in einer guten Bibliothek.“ Da drohte der Engel mit dem Finger und sagte kein einziges Wort.
Wir aber dürfen sagen, dass der Archivarius Seidel ein verantwortlicher Mann geblieben ist. Nur selten verwandelte er unter Gebrauch des Heftchens, es war eigentlich gar kein Büchlein – nur ein Heftchen mit zwölf Seiten, ein wenig Archivstaub in Gold und brachte es zum Trödler, – dieses aber nur, wenn die Armen der Ärmsten seiner Stadt gar nichts mehr zu Beißen und zu Brechen hatten.
Manchmal nahm er sich die Tarnkappe her, die er mit Hilfe der Sprüche aus Aneximanders Heftchen geschaffen hatte, und dann reiste Seidel in jene Zeit zurück, als Thüringen noch die bekannten Flussperlmuschelmanufakturen betrieb. Ein anderes Mal war er auch bei den Chinesen der Han-Dynastie, um die Entstehung des Münzwesens genauer zu beobachten. Auch brachte er eine nicht geringe Anzahl von Menschen in Verlegenheit, als er gestohlene Bilder und Kunstgegenstände, Bücher und Schriften wieder besorgte. Wie er das alles zuwege brachte? Nun, – zu all diesen Wundern fand er ja das Nötige in dem kleinen Büchlein, dass er allezeit immerdar in seinem Gedächtnis herumtrug. Alle Vorstellungen darüber, was Zeit ist, bzw. sein könnte, legte Seidel indessen ab. Wer in den Zeiten herumreist, weiß nicht mehr, was Zeit ist. Und braucht es auch nicht zu wissen.
Bald wurde er seiner Verdienste wegen gebeten, Professuren für Literatur, Kunst, Geschichte und Philosophie auf den allerberühmtesten Bibliotheken und Universitäten anzunehmen. Er aber schlug das ab bzw. aus, denn er wollte sich nicht mit den vielen dort anwesenden scheingelehrichten Menschen herumärgern müssen.
Ab und zu jedoch verfasste er kleine Schriften, aber jede nur etwa eine Seite lang. Etwa den Bericht von dem „doppelt und zugleich inwendig silberverspiegelten Goldrubinglase“ oder dem “Zauberkornpfennig des Merseburger Bischofs”. Diese und noch viele anderen Kleinodien der Gelehrsamkeit waren in der Fachwelt hoch geschätzt und stürzten von Zeit zu Zeit dieselbe um und übereinander.
Aus der Ferne seines kleinen Studierzimmers, das inzwischen wieder auferbaut worden war und in dem der Geehrte die ihm berichtenden Geister der Äonen empfing, verfolgte er als Archivarius Seidel, welcher inzwischen 94 Jahre alt geworden war, das Gezänk seiner Neider und Epigonenepigonen und genoss dabei die Ruhe und den Frieden, denn diese beiden Zustände sind für die Gelehrsamkeit notwendiges Elixier. Auch lernte er eines Tages den Diakon Uschmann kennen, der nach Indien reiste und von dem wir schon viel vernommen haben.
Eines Tages, der Archivarius war nun schon einhundertundsieben Jahr alt, trat der violette Engel dann doch wieder zur Stube herein und drohte mit dem Finger: „Archivarius, ihr habt doch nicht etwa eine Kopei von jenem geheimen Büchlein gemacht?“ Seidel verneinte und als der Engel ihn streng anblickte, senkte er schuldbewusst den Blick und sagte mit leiser Stimme: „Nur eine Kopie im Gedächtnis!“
Da nahm der Engel das Gedächtnis des alten Archivarius samt Archivarius und führte beide davon. Mitten hinein in die himmlische Bibliothek zu den goldenen Regalen mit der Chronik der Welt und des Himmels und der Tagebücher aller Menschen auf dem Erdkreise, an welchem Ort ihr Seidel als „Erzarchivarischen Oberlenker der Rollen und Schriften“, so lautet jetzt sein Titel, antreffen werdet, wenn Ihr auch einmal dorthin kommen solltet, was wir Euch von Herzen wünschen, aber erst wenn es in fernster Zeit soweit sein muss.
Alle diese Dinge hatte Leberecht in jahrelanger Kleinst- und Feinstarbeit bei seinen eigenen Forschungen herausgefunden, sich herbeigelesen und ausfindig gemacht - ohne dabei etwas Lügenhaftes hinzugetan, fortgelassen oder erfunden zu haben. Leberecht Gottlieb und Iohannes Henoch Seidel hatten sich oft bei einer guten Zigarre über die Dynastie der Pfarrherren und Superintendenten der sächsischen Lande unterhalten und ausgetauscht - obwohl dreihundert Jahre Zeit zwischen ihren Leben lebten. Ja - das geht! Denn in den Büchern ist es vermerkt. Leberecht hatte sich in Gedanken nicht selten ausgemalt, was er selber beginnen würde, wenn ihm das Büchlein vom Purpurnen oder Violetten Engel einmal in die Quere käme. Aber es war bisher noch nicht so gewesen. Allerdings - dann geschah das mit der Kiste und den Traumtagebüchern des Reformators aus Eisleben. In dieser Kiste waren nicht nur die Traumtagebücher aufgefunden worden, sondern auch Konstruktionspläne sonderbarer Maschinen. Hierzu aber später. Vorerst begeben wir uns noch einmal zurück in die letzten aktiven Amtsjahre unseres Helden Leberecht Gottlieb, der damals noch ein wackerer Arbeiter im Weinberge des HERRN gewesen und den wir dieser Tage im Jahre 2024 als hoch in die Jahre gekommenen emeritierten Greis durch Ägypten reisend erleben ...
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meher von Leberecht Gottlieb hier
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