Erinnerung an Friedrich Schorlemmer
Wohl dem, der Heimat hat …
Vor vierzehn Jahren, damals pünktlich zur Advents- und Weihnachtszeit, erschien das Buch "Wohl dem, der Heimat hat" von Friedrich Schorlemmer. Hoffentlich lag es nicht nur auf den Gabentischen der ehemals bürgerbewegten Leute, denn das, was drin steht, ist immer noch gültig.
Von Matthias Schollmeyer
Fast Heilige Schrift ... Das Ding war und blieb bis heute Fibel und gutes Lesebuch, weil ein Doppeldutzend Gedichte darin zu finden ist, die der Demokratiepatriot aus Werben, Merseburg und Wittenberg uns ausstreut, damit wir das seinerzeit Bekannte im Überangebot der Postpostmoderne nicht doch noch vergessen! So lesen wir in Texten von Erasmus, Horst Eberhard Richter, hören von Hans Jonas, Alexander Mitscherlich, Walter Jens, Nelson Mandela, Berthold Brecht, Sebastian Haffner, Martin Luther und vielen, vielen anderen, ohne deren Bücher wir diese Welt - vielleicht - vergessen könnten.
Vergessen und Erinnern – das ist auch der Ariadnefaden, der uns durch Schorlemmers Heimat-Buch führt, in dessen Zentrum immer noch der garstige Minotaurus DDR brüllt und darauf wartet, dass wir ihn (verstehend lesend) erlösen. Denn das Monstrum, die Bestie, mit der Schorlemmer gerungen hat (und ringt?), ist ja selber nur eine verwunschene gewesen. Und wir fragen uns heute nach 34 Jahren: Was war das eigentlich für ein Vieh? Am Ziel der 316 Seiten angekommen wird sich herausgestellt haben, dass es die Indoktrination des Einzelnen durch eine üble Form war. Durch das, was wir gleich Kain und Abel hier im Osten gespielt und kennengelernt haben – und als altes Thema woanders anders erlebt wurde. Schorlemmer kommt auf diese zentrale Geschichte natürlich zu sprechen.
Der Autor dankt in dem Buch allen Ariadnen, die ihm den seidenen Faden wirkten, an dem er im Labyrinth schließlich dann doch nicht verzweifelte. Er dankt denen, die ihn prägten, ihn ermunterten, ihm halfen und ihn nicht verrieten. Wer für andere schreibt, der muss mit sich selber vorher lange im Gespräch gewesen sein. Und wer für sich selbst schreibt, der muss mit anderen viel gesprochen haben – zumindest in Gedanken. Dieser Satz könnte von Schorlemmer selber stammen, der ja gern und gut mit Worten und Sätzen spielt und es in der Bildung von Aphorismen weit gebracht hat: Weil er aus einem Haus des Wortes stammt, sowohl des gesprochenen als auch des gesungenen. Gemeint ist das deutsche evangelische Pfarrhaus. Man liest mit Genuss, wird dabei gebildeter. Das ist nicht wenig!
„Wohl dem, der Heimat hat“ heißt das Buch, das seinen Autor im Titel bereits als Nietzschekenner (Verehrer wäre übertrieben) entdeckt. Auf diese Verwandtschaft wird aber später noch zu kommen sein.
„Wohl dem, der Heimat hat“ ist so etwas wie eine Autobiographie. Und wer, wie Schorlemmer, viel erlebt hat, dem schreibt sich eine Biographie leicht von der Hand. Erlebt hat er hauptsächlich die real existierende DDR. Die Abenteuer in und mit diesem Gebilde haben ihn - und die Aufmerksamen seiner Generation – geprägt, und das unwiderruflich. Er ist einer von denen, die nicht abgehauen, sondern dageblieben sind, aus allerlei Gründen. Aber schließlich hat das doch dazu beigetragen, dass der dachdeckerregierte Arbeiter- und Mauernstaat untergegangen ist - was dem Autor jene, welche sein Buch aus Prinzip n i c h t lesen werden, heute immer noch übelnehmen. Und von denen gibt es hierzulande noch eine ganze Menge Leute. Aber auch die Meute gehört ja zur Heimat: Die Feinde - jene, die uns nicht verstehen wollen, weil sie es nicht wollen oder können dürfen...
Schorlemmer nun verkörpert nämlich auch ein bestimmtes Milieu. Und dieses Milieu blättert sich in den ersten Kapiteln schnell auf und wird überdeutlich deutlich. Da schreibt der typisch spätbürgerlich-protestantische Intellektuelle, den das Schicksal in die DDR gepflanzt hat – und dort auch sitzen ließ. Er ist einer, der in der Kirche seinen Schutzraum gefunden – und in diesem auch viele andere beherbergte, bis es nicht mehr nötig war und die Revolution ihre Kinder entlassen hat. Schorlemmer gehört damit zu einer bedrohten Spezies von Mensch. Und er erklärt uns noch einmal dieses sein soziales Biotop, das in der DDR fast vernichtet worden ist und dieser Vernichtung wegen der vernichten wollende Phantomstaat schließlich selber zu Grunde ging: Das gebildete Bürgertum mit seinem Stolz auf Menschenrecht und Freiheit.
Zugleich – und man staunt und freut sich - lernen wir Schorlemmer gärtnernd und imkernd kennen bzw. lesen von einem, der in das Gärtnerische verliebt ist. „Leben ohne Garten ist entfremdetes Leben“ (192) - das ist einer der wenigen dogmatischen Sätze des Buches von und aus der Heimat. Wie der Autor an dieser Stelle wirklich als Romantiker erscheint, welcher uns Blüten und Pflanzen, Bienen und das Zurückkehren der Kühe von den Elbwiesen in die heimatlichen Ställe schildert, so lernen wir ihn an andere Platze als Analytiker des Feldbegriffs kennen. Gemeint ist natürlich jenes Feld, um dessen Mythos sich seit Troja alles rankt und das immer noch als Sinn-Beschaffungs-Instanz herhalten muss für alle jene, die Kriege anzettelten bzw. sie führen mussten - und dabei siegten oder unterlagen. Als Leser fühlte ich mich ein wenig an Umberto Ecos orgiastische Beschreibung des Tympanons jener finsteren Kirche erinnert, welche in dem Roman „Der Name der Rose“ eine Rolle spielt. Dort nämlich, wo Schorlemmer „das Feld“ in dreiundsechzig Variationen vorführt – bis hin zu den Seelower Höhen. Romantik und Anti-Kriegsromantik sind zwei Sichtweisen, in denen der Auftrag ernst genommen wird, die Welt nicht als Schlachtfeld, sondern als Garten entdecken und bewahren zu wollen.
Wenn wir die Sechzig erreicht haben (Schorlemmer ist jetzt 66 Jahre alt), bildet sich etwas heraus, was die Neurowissenschaft „das biographische Gedächtnis“ nennt. Es beginnt eine Art selbstinduzierter Erntezeit, welcher wir übrigens alle unterliegen – und an der nichts Ehrenrühriges ist. So, wie die Moabiterin Ruth übriggebliebene Ähren einsammelt und dadurch ihre neue und endlich wirklich eigene Existenz in Israel findet (lesen Sie auch dieses Buch – es findet sich im Alten Testament der Bibel), so versammeln wir spätestens im genannten Alter das als wichtig Erlebte zu unserer festen Basis und schaffen uns somit eine innere Heimat. Auf diese Weise finden wir aus der Heideggerschen Existenz zur persönlichen Insistenz. „Ein feste Burg“ wird dadurch unsere Biographie, in die wir uns irgendwie zurückziehen dürfen - um aus ihr froh herauszuschauen.
Der Cover des Buches zeigt den Autor auf der Realität des bösen Schotters am Rande der lieblichen Elbe sitzen. Jenseits von Wittenberg schaut er stromabwärts nach Werben, wo seine Heimat liegt und er ein Häuschen hat. Auch wenn Schorlemmer wohl nie mit dem Strom geschwommen ist, so schaut er jetzt doch in die Richtung des ins altbundesdeutsche Hamburg abfließenden Gewässers. Ja, es sind die Schottersteine, gegen die wir ohne Erfolg in Wittenberg demonstriert haben. Doch sie stammen aus den mächtigen Gebirgen, über die Fritz (der aus Röcken) gewandert ist und die uns ins Herz treffenden Worte fand - um der Nachwelt zu demonstrieren, wie der Antichrist sein wird, wie eine fröhliche Wissenschaft kommen soll, wie menschlich-allzumenschlich doch so Vieles sein muss und der dramatische Gedanke (mit dem, was ihm zugrunde liegt) immer aus dem Geist der Musik stammt. „Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen / dies Kind soll unverletzet sein“ stimmen wir mit Schorlemmer nachdenklich an (67). Genauso schlimm wie verschandelte Flüsse sind ja geschredderte Gebirge. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, - darum geht es natürlich auch in dem schmucken hell- bis dunkelblauen Buch.
Wovon kann man bei Schorlemmer zwischen den Zeilen eigentlich nicht lernen und lesen? Wer nicht das Glück oder das Pech hatte, selber eine sogenannte bürgerliche Existenz erleben zu können oder demonstrieren zu müssen, der bekommt sie mit diesem Buch quasi fast frei Haus nachgeliefert. Bücher transportieren bekanntlich Milieus - und das soll so bleiben: Manche Milieus werden deshalb noch Jahrhunderte lang von Büchern festgehalten, obwohl sie als Milieus selber schon lange untergegangen sind.
Wer also (noch) einmal Kontakt aufnehmen will mit der bürgerbewegten alten DDR-Ära und der bürgerbewegten neuen Zeit, der besorge sich diesen Schatz aus dem Aufbau-Verlag. Dann wandle er mit Friedrich Schorlemmer auf den Elbauen, fahre mit dem Rad (denn Schorlemmer schwört zwar nicht, aber auf´s Rad) und buchstabiere noch einmal in Synodenpapieren, Parteiprogrammen und Stasiunterlagen. (Das inhaltliche Niveau der Texte verhält sich proportional zu dieser Reihenfolge - das Letzte ist wirklich das Allerletzte …)
Das Ganze endet dann allerdings Gott sei Dank nicht in DDR-Reminiszenzen, sondern mitten in der Weltkultur, die heute am Scheideweg steht. Schorlemmer gibt sich spätestens da als moderater Konservativer zu erkennen. Konservativ, weil er der Religion zutraut, Behausung des Menschen zu bleiben (auch in einer globalisierten Welt). Moderat, weil er enorm kritisch mit seiner eigenen Kirche umgeht – und beides macht Mut.
Bei der Lektüre des Buches ist bei mir wieder die alte Doppelfrage aufgekommen, warum die DDR-Machthaber nicht konsequenter gegen die Kirche vorgegangen sind und warum es den Kirchenleuten wie z.B. Friedrich Schorlemmer gelungen ist, die „Lüge DDR“ so leicht zu durchschauen und mit dem Mut der Verzweiflung trotz der eigenen immer währenden Angst zu überwinden? Ich halte diese beiden Fragen für so interessant, dass kurz darauf eingegangen werden soll:
(1) Wer die Kirche irgendwie ein wenig mehr von innen her kennt, weiß, dass sich an ihrem Grunde etwas verbirgt, was man (etwas missverständlich zwar, aber trotzdem treffend) „das kritische Prinzip“ nennen könnte. Gemeint ist die an allem schürfende, alles hinterfragende und im Sinne des ersten Gebotes (du sollst nicht andere Götter haben neben mir) an allem sich abarbeitende Kritik des fragenden Menschen, der das Letzte sucht. Wer diesem Movens folgt, kann frei werden von aller Bevormundung – und lernt den Nazarener Jesus als fröhlich machenden Meister kennen, der zu fragen und zu erlauben lehrt - und auch dadurch nachzufolgen ermuntert. Das ist ein großes Glück!
Gleichzeitig aber lebt dieses befreiende Moment historisch in der Hülle einer streng autoritären Struktur, über die hinaus Autoritäreres nicht gedacht werden kann. Kirche ist nämlich als soziologisches Gebilde etwas, das (um ihren eigenen Freiheitsgedanken festzuhalten) selber absolut autoritär hat werden müssen, um nicht das Risiko des eigenen Untergangs in Kauf zu nehmen. Und darin gleicht die Kirche der liberalen Demokratie nun gerade nicht, welche bekanntlich das Risiko ihres Untergangs (wenn auch ungern) in Kauf nehmen müsste und deshalb prinzipiell durch den Demos (das Volk) auch bei bestimmten Mehrheitsverhältnissen abgeschafft werden könnte. Letzteres hat die Kirche aber nicht wollen wollen - und will es wohl auch heute nicht. Deshalb gründet sie sich auf Schriften, auf Autoritäten und auf in Dogmen fest beschriebene Lehrmeinungen. Sie verschleiert diese Ideenfigur obendrein mit der Anmutung des Heiligen – und verbindet damit einhergehende letzte kritische Fragen immer auch mit der Angst, diese „lieber nicht” stellen zu dürfen. Aber was hat das nun mit unserer Frage zu tun?
Es ist allzu bekannt, dass im Evangelischen Pfarrhaus bei aller Liberalität und sozialem „Engagement für andere” dieses EINE als unumstößlich galt. Darüber wird meist nicht geredet: Über die Autorität Gottes. Und die Autorität seiner Schrift wird prinzipiell ebenfalls nicht angetastet! Umso stärker wirkt eine solche „Denkfigur“, wo sie sich im Pfarrhaus unentwirrbar mit der väterlichen Autorität verquickt, weil man täglich mit dem Priester zusammenleben muss, der noch dazu der eigene Vater ist. Der Vater wird in der Phantasie des erwachenden Knaben (fast?) zum gebietenden Gotte – gleichermaßen „erscheint“ Gott immer auch in der Maske des predigenden Vaters, der sich im Falle Schorlemmers seiner Kirche traditionell zugetan verhielt, was nichts Besonderes ist. Schorlemmer schreibt, dass er enttäuscht gewesen ist über die Differenz zwischen der enormen historischen Bildung seines Vaters und dessen langweiligen Predigten. Er selber hat es anders hingekriegt. Da hatten wir es also - als seine Hörerinnen und Hörer - einfach besser.
Wie nun entscheidet man die fälligen Autoritätskonflikte, wenn man den ungleichen Kampf nicht antreten kann, weil er einen selbst zerstören würde – weil es bei der Vaterfigur fast gegen Gott selber geht - um umgekehrt auch? Nietzsche ist ja bekanntlich an diesem Konflikt zerbrochen – wahnsinnig geworden, was immer das auch heißen mag.
Eine Möglichkeit, den Konflikt (ohne ihn zu lösen) zu „lösen“, besteht darin, dass man das Indoktrinäre an der Kirche nicht in der Kirche oder am eigenen Vater bekämpft, sondern einen vergleichsweise starken oder sogar überstarken, dafür aber erkennbareren Gegner sucht. Und der war in der DDR schnell zu finden: In dem lächerlich halbreligiösen Stalinismus samt seinen autoritären Allüren der ewig gleichen Kreisleitertypen und viertelgebildeten Funktionären allemal. Das war ein verlässliches Manövrierfeld – auf dem man leicht Recht behielt, wenn auch unter großer Gefahr. Verletzungen in der Schulzeit und inszenierte Vereinzelung taten das Ihrige dazu. Manöver Schneeflocke und Wehrunterricht, blaues Halstuch und FDJ-Abstinenz – da war man nicht dabei. Von den Eltern zu Einzelgängern gemacht erprobten sich solche Jugendliche als konstruierte „Ausnahmen“ an einem minderwertigen, wenn auch sehr gefährlichen Zerrbild der eigenen Herkunft – an Partei und DDR-Staat.
In seinem Kapitel „Lass dich nicht vom Bösen überwinden. Wie Hass belastend und entlastend wirkt“ erklärt Schorlemmer minutiös, wie dieses große und edle Thema durchdekliniert werden müsste, um davon wirklich frei zu werden. Der Selbsthass, der sich auf andere wirft (um sich nicht selbst zu zerstören), liebt zugleich das, was er bekämpft und braucht es – um selber (in Form des Hassens freilich nur) sein zu können. Nicht gelingende Selbstannahme erzeugt zuerst das Gefühl permanenten Ungenügens. Das führt zu Minderwertigkeit und zu einer depressiven Lebensgrundhaltung. Als gefühlter allgemeiner Liebesentzug wird schließlich Selbsthass daraus. Und der wird dann schlussendlich auf andere umgelenkt, denn auf diese Weise scheint man dem Schmerz zu entkommen (240). Man sucht geradezu verzweifelt nach einem Gegner – und der gefundene Feind verschmilzt nahtlos auch mit dem, was Heimat gibt, – denn dort, wo der Feind ist – da bin ich zu Hause, kämpfe und kenne mich aus.
Nietzsche bekämpfte tatsächlich Gott und seine Kirche, doch Nietzsches Vater war sehr früh gestorben. Aber Männer mit lebendigen starken und prägenden Vätern müssen sich halt Ersatz suchen. Der DDR als lächerlichem Übervater-Staat konnte man - mit der Bildung aus der Welt der (Kirchen-)Väter ausgestattet - wohlgerüstet gegenübertreten. Das hat auch Lust gemacht und zugleich Angst - denn es war wirklich gefährlich. Auch darüber berichtet Schorlemmer. Tatsächlich engagierte Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen kämpfen bis heute häufig immer noch gegen das falsche Rest-Autoritäre im Bürgertum und schlugen sich meist nicht zur „CDU“, denn das wäre die alte Väter-Seite gewesen. Wer will es ihnen verdenken – man sollte es ihnen danken! Dass sie zur SPD gingen sehen wir heute mit zwiespältigen Regungen … Aber damals war eben nicht heute.
Die Antwort auf die andere Frage jedoch - sie ist der ersten gleich. Warum haben die Machthaber der DDR nicht schärfer gegen die Kirche agiert? Nicht mehr geschossen, nicht noch mehr gequält – warum sind sie nicht brutaler gewesen? Deswegen nicht, weil sie gerade in der Kirche immer noch wenigstens das gelungene Abbild von etwas sehen konnten, was sie selber nie zu erschaffen „geschafft“ haben – nämlich jenes autoritativ gelagertes Sozialgebilde, in welchem alles das, was von oben als Befehl kommt, unten tatsächlich ehrerbietig ausgeführt wird!
Das ist eine ernste Frage. Ein System, in dem es unumstößliche Sätze gibt, die auf quasimetaphysischen Grundentscheidungen basieren, genau darum ging es den Machthabern. Ein Satz wie „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist / sie ist wahr, weil sie allmächtig ist!“ verrät, worum sich alles drehen sollte. Ob die ML-Leute diesen ihren Zirkelschluss wirklich nicht durchschaut oder sich an ihm so besoffen gefreut haben, dass der Unsinn im Sinn nicht mehr zu merken war? Hätte man aber die Kirche wirklich ausgerottet, dann wäre gerade dasjenige abgeschafft worden, was den Mauerbauern heimlich eigenes „Ideal“ gewesen war. Wie gesagt: Ob dieser subtile Zusammenhang von solchen Leuten wie Ulbricht und seinem Leipziger Kirchenabreißer Fröhlich je durchschaut worden ist? Wenn ja, dann wissen wir, warum deren Hass auf die Kirche so groß gewesen ist – und zugleich irgendwie auch zu klein.
Und es ist gut, dass die evangelische Kirche heute immer weniger an einer inneren Macht- und Autoritätsachse festhält. Sie kann deshalb auch nicht mehr verführerisch werden. Diese hier schnell „hingeahnte“ Vermutung müsste freilich weiter vertieft werden.
Wenden wir uns an dieser einen Stelle deshalb direkt dem Heimatbuch Schorlemmers nun sehr genau zu. Wir werden die Antwort ähnlich (wenn auch verschlüsselt) wiederfinden, zugleich aber auch zu befürchten haben, dass das Buch aus dem Aufbauverlag deshalb in den Traditionskabinetten aller Art, besonders aber gewendeter Heimatvereine, nachhaltig fehlen wird.
Es geht nämlich tatsächlich um den Hass und um den Neid, beides als “schlimmste feindliche Kräfte” (Luther). Und es geht um die Verhaltensstruktur des Ressentiments (Nietzsche). In dem betreffenden Kapitel wird die Sprache Schorlemmers nüchterner, fast „wissenschaftlich“. Trotzdem verliert sie nicht ihre Herzenswärme. Wegen seiner demaskierenden Art und dem rücksichtslosen Duktus mancher Äußerungen wird Schorlemmer übrigens seinerseits auch gehasst – das ist bekannt. Wer die Wahrheit hervorpräpariert – der hat auch Heimatfeinde, genauso wie er von anderen gerade dieser Passagen wegen geliebt wird:
„Es sind dieselben Leute, die einst in Schützenvereinen, dann bei den Kampfgruppen und jetzt wieder in Schützenvereinen jemanden suchen, den sie jagen können. Die Menschen spüren nicht, welch ein Mob in ihnen steckt, wenn sie sich gemeinsam mit anderen vom Hass gegen einen zum Feind erklärten geradezu berauschen lassen“ (183). Schorlemmer gelingt es, zu beschreiben, was passiert, wenn Menschen Ideen folgen. Denn wer selber Ideen (eigenen oder fremden) folgt, der kommt sich ziemlich schnell auf die Schliche - und lernt die eigene Fehlbarkeit kennen. Deshalb hat Schorlemmer immer wieder dazu aufgerufen, Versöhnung anzubieten, ohne das Gewesene dabei zu vergessen. Nur wenn man die Mechanik des eigenen Hasses spürt und durchschaut kann man sie nutzbar umwandeln. Auch das ist ihm bekanntlich übelgenommen worden. Man kann ihm aber gerade dafür gar nicht genug danken.
Sein Buch ist verständlich geschrieben. An keiner Stelle findet man den sogenannten wissenschaftlichen Ballast oder unnötigen Fremdwortkram. Das ist deswegen wichtig, weil dadurch lesbar bleibt, was verstanden werden muss – gerade dort, wo die psychologischen Mechanismen der Hass- und Rachemechanik erläutert werden. Deshalb ist besonders auch das psychologische Kapitel vom Hass etwa in Gesprächskreisen aller Alters- und Interessengruppen nutzbar zu machen. Man kann das Buch alleine oder gemeinsam lesen, die Kapitel sind übersichtlich. Jedes ruht in sich – und führt doch zugleich auf das nächste hin.
„Wohl dem, der Heimat hat“ ist ein Buch, in dem man entdecken kann, dass man auch selber (ja doch!) Heimat hat. Man erkennt vieles wieder, was man selber erlebt, durchlitten, gehofft und erkannt hat. Das Kapitel über den Hass und seine Kraft (222-245) ist ein psychologischer Traktat, während dessen Lektüre man sich selber sehr nahe kommt und in einen Spiegel zu „scheuen“ meint.
Angesichts dieses Spiegels wird die Aufgabe deutlich, die der Autor bereits auf Seite 127f andeutet: Mut zur Versöhnung – aber in der Wahrheit. Das ist das Einfache, das schwer zu machen ist:
1. als ein bewusster Willensakt
2. als eine psychologische Kommunikationsaufgabe
3. als praktische Beräumungsarbeit für den Schutt zurückliegender Konflikte
4. als strategische und zugleich anspruchsvolle Kunst für die Politik
5. nicht zuletzt als persönliche spirituelle Praxis.
Angewandt auf die Religion: Gerade sie kann als Hassminderer oder als Hassverstärker fungieren (223). „Als Hassableiter können Polemik, Satire, Groteske, Karikatur, Spottgedicht und Kabarett dienen. Sie (...) bringen zum Ausdruck, was nicht zum Ausbruch kommen darf (...) es ist die Aufgabe von Erwachsenen, eine Dauerfixierung auf Hassobjekte zu vermeiden, Enttäuschungsgefühle nicht ausufern und in Fremddestruktion münden zu lassen (...) Wir können dem Hass selbst nicht entraten, aber seinen Orgien widerstehen (...) Wenn Menschen, die von innen her zerstört (...) sind, Macht bekommen, werden sie für andere (...) lebensgefährlich“ (229). „Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine nachhaltige Unterbrechung des Hass-, Gewalt-, und Rachekreislaufs. Offensichtlich muss dabei eine Doppelstrategie verfolgt werden: Zum einen gilt es, die Ursachen dafür, dass einzelne Menschen oder Menschengruppen einander hassen, zu minimieren, zum anderen bedarf es der individuellen Leistung des Menschen, sich nicht dem Hass zu ergeben, wiewohl er allen Grund dazu hätte“ (233). „Denn der Hass hat es an sich, dass er nicht nur dem Gehassten gilt (...), sondern er beschädigt auch den, der hasst. Im Extremfall zerstört er den Hassenden selbst“ (234).
Kirche als Übungsraum der zerbrechlichen Freiheit. Es ist gut, dass wir sie errungen hatten – die Freiheit. Und die Kirche hat sie wohl immer noch. Aus ihr sind früher stets wichtige Impulse für die Freiheit gekommen. Schorlemmer ist im ostdeutschen Raum einer gewesen, ohne den das Hierbleiben wesentlich schwerer gewesen wäre. Von ihm kann man viel lernen. Ein Mann, der zur Heimat wesentlich mit dazugehört. Sein Buch ist an vielen Stellen bissig – aber nie verletzend. Es zeigt auf jeder Seite den reflektierten Kirchenmann, von dem man gern und viel lernen will. Er hat das, was er von seinem Bischof Werner Krusche empfangen hat, an seine Schülerinnen und Schüler weitergegeben: Das Bild von Verlässlichkeit in müden Zeiten vor und nach dem 9.11.1989. Zum guten Schluss soll Bertholt Brecht uns alle in der Kirche warnen:
„ (...) Ach wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein“ (234). Das ist den Christen bereits seit Nietzsche ins Stammbuch geschrieben. Der alte, alte Verdacht: Sie müssten erlöster ausschauen, wenn man der Botschaft ihres Erlösers Glauben schenken sollte. Es gibt also noch viel zu tun, mehr zu glauben und vielleicht noch mehr sogar zu bezweifeln (...)
Wohl dem, der Heimat hat. Berlin 2010 ISBN 978-3-7466-2651-2
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