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Zum Tag des offene Denkmals am 10.9.2023
Zeitreisephantasie von 1635 nach 2923

Der Superintendens und auch der Sprengelpropst schauten grimmig auf den gefesselten Mann, der da vor ihnen lag und nach der grausamen Folter keinen Laut mehr von sich gab. Was sie vorher von ihm hatten vernehmen müssen, war aber auch mehr als unerhört. Schon deshalb sollte man mit dem Prozess recht schnell zu Ende kommen und den Mann der reinigenden Flamme feuriger Gerichtsbarkeit überantworten. „Kein Wunder, dass draußen das gesamte Land von wilden Rotten unsicher gemacht wird, wenn bereits innerhalb der Stadtmauern von den eigenen Leuten narreteyische Häresie gedacht und verkündet wird!” So ähnlich drückte sich der Herr Superintendens aus.

Jedoch musste man den Prozess gegen den verirrten Amtsbruder der Ordnung nach sehr korrekt ablaufen lassen, schon wegen der Nachwelt, die in den Akten später und noch bis nach Jahrtausenden würde forschen und lesen können. Der ehemalige Pfarrherr von B. hatte sicher zu lange studiert, der elende Hunger auf seiner kargen Stelle hatte ihm wohl das Hirn ausgezehrt oder aber eine Zauberische gar, von denen itzo recht viele in den Dörfern umher gingen und geistiges Unheil aussäeten. Das alles mochte den Verblendeten angestiftet haben, zu Palmarum von der Kanzel herab den Bauern Unsinn zu verkünden. Nämlich nicht mehr das liebe Gotteswort, wie Vater Luther es in unser Deutsch übertragen hatte, sondern die Lehre von einem angeblichen Beweis Gottes aus der Nichtbeweisbarkeit seiner Existenz. Ja, was sollte das denn sein? So oder so ähnlich müsse es später in den Prozessakten zu lesen sein. Darauf kam es an. Jetzt, im Jahre des Heils 1635, wird sich entscheiden, ob er, Jan Christoph Glauch als Nachfolger des sagenhaften Gregor Richter, im jahr des Prager Friedens allhier den Platz behalten oder an die Saumseligen würde abtreten müssen. Nun - er würde sich schon durchsetzen und sie alle besiegen. Alle! Es gab ein Klopfzeichen an der Tür - Glauch rief ein kräftiges „Herein” und die schwere Pforte wurde von draußen aufgestoßen. Zwei Geharnischte traten in den Raum und erboten sich, die geistlichen Herren aus dem finsteren Kerker wieder hinauf an das Tageslicht zu führen. Samuel Gottlieb Zirkler, der abgetane Pfarrer von B. hörte, wie sie zu viert die steinerne Treppe empor stiegen und sich schwatzend entfernten.

Die Schmerzen, die die inkriminierenden Instrumente auf der Haut seines Körpers und in den Wirbeln seiner Lenden hinterlassen hatten, klangen langsam ab, denn das Elixier der Augusta Elimentaria, dass er vor fünf Wochen eingenommen, wirkte immer noch und gründlich. Zirkler verstand zwar nicht wie, aber die geschädigten Körperzellen ersetzten sich offenbar im Nu mit neuen, die gestauchten Bandscheiben regenerierten sich innerhalb von Minuten und der Schorf am Kopf löste sich ab, schon als er nur die Stirn runzelte. Sofort nahm der Geheilte etwas vom Kot des Lehmfußbodens in seine Hände, goss Wasser aus dem ihm überlassenen Trog darüber und formte unter Zuhilfenahme von Resten des eigenen Blutes einen Brei, mit dem er die geschlagenen Stellen seines Leibes salbte - um weiterhin möglichst malträtiert auszusehen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, kämen sie dahinter, dass er zwar immer noch sterblich und ein Schmerzen erleidender Mensch wäre, aber eben die Wunden sehr schnell heilten, wenn nicht lebenswichtige Organe unwiderruflich verletzt worden waren.

Warum er hier im Gefängnis gelandet war? Eine gute Frage. Zirkler konnte sich nicht vorstellen, dass es dumme Leute gab. Aber es gab sie. Viele dumme Leute. Und deshalb war er gefänglich eingezogen worden. Er hatte seine Gedanken nämlich auch den Dummen mitteilen und verständlich machen wollen. Damit war er selber dumm, mindestens aber unvorsichtig gewesen. Nach jahrelangem Bibelstudium und kabbalistischer Beschäftigung, alchemistischen Experimenten und tagelangen Versenkungen in sich selbst, hatte Zirkler ein Traktat verfertigt und dieses in einigen Exemplaren an seine besten Freunde ausgegeben. Einer der Freunde stellte sich dabei als Unfreund heraus. Dieser - ausgelöscht sei sein Name in Ewigkeit - hatte die Sache an den Superintendenten Jan Christoph Glauch lanciert.
In der kleinen Schrift Zirklers ging es um nichts weniger als um alles - nämlich um Gott und seine besondere und dauernde Präsenz in der Realität der Schöpfung. Der Begriff der Realität nun - das ist etwas, womit man sich vorher beschäftigt haben muss, ehe man dieses Wort vorsichtig in den Mund nimmt. Hinsichtlich der Realität – und um ihr Ganzes überhaupt verstehen zu können und um zu begreifen, worum es dabei geht (nämlich um Alles) darf man die Anstrengung des Begriffs nicht scheuen. Also …

Für einen allmächtigen Gott, hatte Zirkler geschrieben, ist mehr oder weniger tatsächlich alles, was er nicht selber ist, mehr oder weniger Illusion. Stellen wir uns einmal z.B. vor, es handelt sich um ein einigermaßen großes und anspruchsvolles Sonnensystem, das von Gott erschaffen wurde. Im Prinzip könnte Gott das Ganze sofort wieder verschwinden lassen – oder unseretwegen erst in dreizehn Milliarden Jahren. Ob es Sekunden oder Äonen sind - das spielt hier keine große Rolle. Dieses Super-Universum wäre also für uns Menschen zwar sicher beeindruckend, für Gott aber noch nicht einmal real. Es wäre nur eine von vielen Scheinwelten. Gott hat serienweise solche parallelen Scheinwelten erzeugt sein oder angezündet und aufleuchten - dann aber wieder auslöschen lassen. Und eines Tages hatte er das eben satt. Er wollte etwas definitiv anderes schaffen – etwas, was sich nicht mehr auslöschen lässt. Gott beschloss, sich um eine wirkliche Alternative zu dem, was bisher Scheinrealität gewesen war, zu kümmern. Diesmal sollte es wirkliche Realität sein. So schuf er also die echte Realität.

An dieser Stelle verstehen wir nun vielleicht, was Realität bedeutet. Realität „bedeutet“ nicht nur, sondern „ist“ definitiv das, was auch von Gott nicht mehr verändert werden kann. Echte und harte Realität. Weil nun alles, was Gott erschafft, von ihm auch beseitigt werden könnte, ist alles dieses Geschaffene noch nicht Realität, sondern bleibt Illusion – Scheinwelt, Serie sozusagen, die ist und dann auch wieder nicht ist. Gott hat lange über dieses zwangsläufig in der Ontik bestehende Problem nachgedacht und dann schließlich einen Weg gefunden, wie etwas erzeugt werden könnte, das auch Realität für ihn selber sein würde. Also wirklich echte und harte Superrealität. Der Weg dorthin besteht nun darin, eine Welt zu erzeugen – und dabei zugleich die Möglichkeiten wegzunehmen, diese Welt wieder beseitigen zu können. Es musste also der Beseitiger oder der potentielle Beseitiger selber als Beseitiger beseitigt werden. Und der einzige potentielle Seinsbeseitiger war und ist, das stellte sich beim Nachdenken heraus, kein anderer als Gott selbst.
Sollte es also eine Realität geben, dann nur um den Preis einer sich stetig an die eigene Nichtexistenz annähernden Sonderexistenz Gottes. Gott entschloss sich also - zu verschwinden. Und in Folge dessen schuf er die Welt so, dass er sich, je mehr diese Welt entstand und sich über sich selbst und ihre Lage in´s Klare zu setzten begann (Weltgeist) – dass Gott also dabei verschwand, ja verschwinden musste – und es sogar wollen wollte!

Nicht, das Zirkler damit vom Tode Gottes gesprochen hätte. Ein Gott kann ja nicht sterben, er kann sich jedoch seiner Schöpfung als Opfer darbringen, indem er sich auslöscht. Er kann, je mehr die Welt Realität wird, dabei selber immer unrealer werden. Es war dieser Prozess also eine langsam aber sicher sich selbst zuerst iniziierende und dann auch verstetigende Transfusion göttlichen Seins in´s Nichts hinaus. Davor machte Zirkler in seinen Gebeten und Predigten staunend Halt und wollte seine Hörer Ehrfurcht und Dankbarkeit empfinden lassen, sogar Liebe wollte er das genannt haben. Liebe und Freude vor dem Geheimnis des Verlöschens Gottes (laetitia coram nihilatio dei in se ipsum). Nicht notwendigerweise, aber doch ahnend und verstehend.
Die einzig akzeptable Realität jenseits des bloßen Scheins für Gott war also sein Nicht-Sein-Wollen sich selbst gegenüber. Freilich, – auch seine Geschöpfe (insbesondere die Menschen) müssten nun mit diesem harten Faktum zurechtkommen. Sie täten es, schrieb Zirkler, indem sie dem ganzen Prozess der Auslöschung Gottes eine Art Heimat gegeben hätten. Das Jahr ist danach eingeteilt worden – Leben und Sterben. Verschwinden und Wiederkommen der Gottheit. Das sind die Religionen, die dem Ganzen ein festliches Gepränge geben. Daher stammt das, was wir hochtrabend „Kultur“ nennen. Es stammt aus der Realität Gottes, die er schuf, indem er sich sich selber abhalf. So hatte Zirkler geschrieben und gepredigt und angekündigt, an einem anderen Sonntag wolle er den Beweis führen, wie die Existenz Gottes aus der Tatsache seiner selbst erfundenen fröhlichen Nichtexistenz abgeleitet werden könne und auch müsse - und was das alles für Konsequenzen im Blick auf die Praxis kirchlicher Frömmigkeit haben werde.

Dazu war es aber nicht gekommen, denn man hatte den Verfasser solcher hochdifferenzierten Spekulationen an diesen Ort hier gebracht, von dem schon viele andere nicht mehr lebend zurückgekehrt waren. Das geheime Konventikel der „Brüder vom lichtleichten Leben“, dem Zirkler vor Jahren als Novize beigetreten war und inzwischen als Lehrmeister vorstand, sang zwar im Geheimen nun polyphone Hymnen für den Insassen der scheußlichen Kammer - und für seine Bewahrung in der feuchtschimmeligen Zelle. Ob das helfen würde? Zumindest tat das Elixier der Augusta Elimentaria gute Dienste, dem Verurteilten das Durchhalten zu erleichtern. Die Wunden heilten binnen kürzester Zeit - Zirkler merkte es mit Frohlocken. Der Superintendens Jan Christoph Glauch aber und auch der Sprengelpropst schauten grimmig auf die Angelegenheit und hatten schon an den Stadtvoigt schreiben und einige Klafter Reisigholz bestellen lassen. Zirkler sollte gleich am Sonntag nach dem lieben Osterfeste auf dem Marktplatz von Görlitz im Feuer abgetan werden. Damals - bei Jakob Böhme - war es nicht geglückt und der unglückselige Schuster hatte in seiner kleinen Werkstatt allerhand Unsinn zusammen fabulieren, schreiben und auch veröffentlichen können. Noch so einen Mystiker wollte man sich nicht durchgehen lassen. Jedoch wie es so ist und immer schon war - der HERR selbst erbarmte sich über seinen kreativen Denker, der da unten zwischen den kalten Mauern der Burg einsaß. Als Allmächtiger ließ er kurzerhand einen seiner Zeitreisenden unerkannt in die kleine sächsische Stadt in der Nähe des Neißeflusses tourieren - und dieser Unbekannte führte den armen Pfarrherren, der seiner Zeitgenossenschaft um etwa sechshundert Jahre voraus war, in die Zukunft davon - bzw. in die Vergangenheit. Denn der Zeitreisende kam aus dem dreißigsten Jahrhundert herangebraust. Und setzte Zirkler im 27 Jahrhundert in einem abseitigen Klosterkonventikel der damals noch vertretenen Maschinensekte der Gerontomachenaten ab und sauste dann wieder in sein eigenes Jahrhundert davon, von welcher Zeit wir Heutigen uns überhaupt keinen Begriff machen können, denn es gibt dort keine Zeit mehr - sondern alles ins zum Denkmal geworden. Was deshalb hier auch nicht weiter ausgeführt werden soll.

Das Elixier aber der Augusta Elimentaria wird es bald in jeder Apotheke zu kaufen geben, denn in den Bodenfliesen der Burg, wo Böhme und später Zirkler einsaßen, waren die Zutaten des Rezeptes der Elimentaria mit Hilfe jener seltsamen Schrift eingegraben worden, die wir bereits aus den Konvoluten von Voynich kennen. Am Tag des offenen Denkmals im Jahre 2023 hatte ein kleiner Bub, dessen Namen keiner nicht kennt, die geheimen Zeichen mit seinem Smartphone fotografiert und bei Flitflex anonym ins Netz gestellt. Seitdem lässt die WHO Beifußgewächse, Salbei aller Arten, die Melde, den Giersch, Hanf, die Brennnessel und das sagenhafte Kraut El-Dol 4 auf dem gesamten Erdkreis ausmerzen. So geht der Lauf der Welt! Wo Zirkler jetzt ist? Wir wissen es nicht. Aber wissen wir damit nicht genug? Kann es unter Umständen sein, dass er selber dieser Bub mit dem Smartphone gewesen ist und aus der Zukunft zu uns gereist kam? Und nun in den alten Kirchen und anderen Kerkern und Denkmalen umherstreift und die geheimen Botschaften vergangener Zeiten für uns übermittelt - manche sogar übersetzt? Das wäre eine Möglichkeit ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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